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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die protestantische Kirche und die soziale Frage

Zunächst ist klar, daß, soweit überhaupt von einer Lösung der sozialen
Frage geredet werden kann, die christliche Kirche sie niemals losen wird. Die
Lösung, oder der Versuch dazu, ist wesentlich die Aufgabe des Staats; die
Kirche kann und soll hierbei nur Hilfe leisten. Worin besteht nun diese Hilfe?

Schon von vornherein muß es jeden Unbefangnen, noch mehr aber die
Befangnen, namentlich die Sozialdemokraten, in Erstaune" setzen, daß die Kirche
keine andre Hilfe gelten lassen will, als die von ihr nun anderthalb Jahr¬
tausende geübte. Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung wird thatsächlich von
den Sozialdemokraten nicht schärfer kritisirt als von Nathusius und Abt Uhl-
horn. Nathusius sagt z. B.: "Wir haben es hier mit einem Weltverkehr
zu thu", welcher absolut nichts von christlicher Liebe oder Humanität an sich
hat, sondern welcher lediglich durch den Egoismus, die Habgier und die Be¬
raubung bestimmt wird. Bleibt es bei dieser Entwicklung, so muß es mit der
menschliche" Kultur bergab gehen. Es wird nicht nur der christliche Geist,
der Geist der Humanität, das geistige Interesse überhaupt von der Macht des
MammonismnS erdrosselt, sondern es muß auch schließlich das ganze in¬
dustrielle und wirtschaftliche Leben, von seinen Existenzbedingungen gelöst, zu
Grunde gerichtet werden. Die menschliche Gesellschaft aber geht verloren,
o. h. das menschliche Geschlecht geht in die Teilung von Raubtieren und Last¬
tieren aus einander."

Wenn nun solche Zustünde, trotz der nahezu anderthalbtausendjährigen
Kultur und obgleich alle leitenden Personen oder sicherlich ihre größte Zahl
christliche Erziehung genossen haben und den Einflüssen des sogenannten christ¬
lichen Staats ausgesetzt waren, das geschichtliche Ergebnis sind, so meine ich,
müßte uns doch diese Erscheinung stutzig machen und uns die Vermutung
aufdrängen, daß irgend etwas in der organisirten Christenheit nicht richtig sei.
Unsre ganze Gesellschaftsordnung, das weist Nathusius, vielleicht ohne daß er
es gewollt hat, thatsächlich nach, ist inwendig faul und schlägt den christlichen
Lehren von der menschlichen Gesellschaft, nicht bloß hie und da, nein ganz
und gar ins Angesicht. Dieselbe Kluft zwischen beiden zeigt auch Abt Uhl-
horn, wenn er die gegenwärtige Wirtschaftspolitik beschuldigt, daß sie die Er¬
reichung der vou Gott gewollten Ziele sehr oft unmöglich mache. Wenn
nun die christliche Kirche keine andern Wege vorschlagen kann, als die bis
dahin von ihr betretnen, so ist es freilich klar, daß die, die im Trocknen
sitzen, d. h. die nicht von dieser Mißgeburt erdrückt werden, sich bei solchen
Vorschlägen beruhigen können: sie könnens abwarten! Aber noch begreiflicher
ist es, daß die der Kirche längst Entfremdeten durch solche Vorschläge
nicht zu neuem Zutrauen zur christlichen Kirche gewonnen werden können. So
viele Jahrzehnte und Jahrhunderte lang, wird man ausrufen, hat die christ¬
liche Kirche durch Wort und Sakrament und viele andre Dinge in unzähligen
Tempeln, Sonntags und Wochentags auf die Gemeinde, das Volk, die Gesell-


Die protestantische Kirche und die soziale Frage

Zunächst ist klar, daß, soweit überhaupt von einer Lösung der sozialen
Frage geredet werden kann, die christliche Kirche sie niemals losen wird. Die
Lösung, oder der Versuch dazu, ist wesentlich die Aufgabe des Staats; die
Kirche kann und soll hierbei nur Hilfe leisten. Worin besteht nun diese Hilfe?

Schon von vornherein muß es jeden Unbefangnen, noch mehr aber die
Befangnen, namentlich die Sozialdemokraten, in Erstaune» setzen, daß die Kirche
keine andre Hilfe gelten lassen will, als die von ihr nun anderthalb Jahr¬
tausende geübte. Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung wird thatsächlich von
den Sozialdemokraten nicht schärfer kritisirt als von Nathusius und Abt Uhl-
horn. Nathusius sagt z. B.: „Wir haben es hier mit einem Weltverkehr
zu thu», welcher absolut nichts von christlicher Liebe oder Humanität an sich
hat, sondern welcher lediglich durch den Egoismus, die Habgier und die Be¬
raubung bestimmt wird. Bleibt es bei dieser Entwicklung, so muß es mit der
menschliche» Kultur bergab gehen. Es wird nicht nur der christliche Geist,
der Geist der Humanität, das geistige Interesse überhaupt von der Macht des
MammonismnS erdrosselt, sondern es muß auch schließlich das ganze in¬
dustrielle und wirtschaftliche Leben, von seinen Existenzbedingungen gelöst, zu
Grunde gerichtet werden. Die menschliche Gesellschaft aber geht verloren,
o. h. das menschliche Geschlecht geht in die Teilung von Raubtieren und Last¬
tieren aus einander."

Wenn nun solche Zustünde, trotz der nahezu anderthalbtausendjährigen
Kultur und obgleich alle leitenden Personen oder sicherlich ihre größte Zahl
christliche Erziehung genossen haben und den Einflüssen des sogenannten christ¬
lichen Staats ausgesetzt waren, das geschichtliche Ergebnis sind, so meine ich,
müßte uns doch diese Erscheinung stutzig machen und uns die Vermutung
aufdrängen, daß irgend etwas in der organisirten Christenheit nicht richtig sei.
Unsre ganze Gesellschaftsordnung, das weist Nathusius, vielleicht ohne daß er
es gewollt hat, thatsächlich nach, ist inwendig faul und schlägt den christlichen
Lehren von der menschlichen Gesellschaft, nicht bloß hie und da, nein ganz
und gar ins Angesicht. Dieselbe Kluft zwischen beiden zeigt auch Abt Uhl-
horn, wenn er die gegenwärtige Wirtschaftspolitik beschuldigt, daß sie die Er¬
reichung der vou Gott gewollten Ziele sehr oft unmöglich mache. Wenn
nun die christliche Kirche keine andern Wege vorschlagen kann, als die bis
dahin von ihr betretnen, so ist es freilich klar, daß die, die im Trocknen
sitzen, d. h. die nicht von dieser Mißgeburt erdrückt werden, sich bei solchen
Vorschlägen beruhigen können: sie könnens abwarten! Aber noch begreiflicher
ist es, daß die der Kirche längst Entfremdeten durch solche Vorschläge
nicht zu neuem Zutrauen zur christlichen Kirche gewonnen werden können. So
viele Jahrzehnte und Jahrhunderte lang, wird man ausrufen, hat die christ¬
liche Kirche durch Wort und Sakrament und viele andre Dinge in unzähligen
Tempeln, Sonntags und Wochentags auf die Gemeinde, das Volk, die Gesell-


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[0510] Die protestantische Kirche und die soziale Frage Zunächst ist klar, daß, soweit überhaupt von einer Lösung der sozialen Frage geredet werden kann, die christliche Kirche sie niemals losen wird. Die Lösung, oder der Versuch dazu, ist wesentlich die Aufgabe des Staats; die Kirche kann und soll hierbei nur Hilfe leisten. Worin besteht nun diese Hilfe? Schon von vornherein muß es jeden Unbefangnen, noch mehr aber die Befangnen, namentlich die Sozialdemokraten, in Erstaune» setzen, daß die Kirche keine andre Hilfe gelten lassen will, als die von ihr nun anderthalb Jahr¬ tausende geübte. Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung wird thatsächlich von den Sozialdemokraten nicht schärfer kritisirt als von Nathusius und Abt Uhl- horn. Nathusius sagt z. B.: „Wir haben es hier mit einem Weltverkehr zu thu», welcher absolut nichts von christlicher Liebe oder Humanität an sich hat, sondern welcher lediglich durch den Egoismus, die Habgier und die Be¬ raubung bestimmt wird. Bleibt es bei dieser Entwicklung, so muß es mit der menschliche» Kultur bergab gehen. Es wird nicht nur der christliche Geist, der Geist der Humanität, das geistige Interesse überhaupt von der Macht des MammonismnS erdrosselt, sondern es muß auch schließlich das ganze in¬ dustrielle und wirtschaftliche Leben, von seinen Existenzbedingungen gelöst, zu Grunde gerichtet werden. Die menschliche Gesellschaft aber geht verloren, o. h. das menschliche Geschlecht geht in die Teilung von Raubtieren und Last¬ tieren aus einander." Wenn nun solche Zustünde, trotz der nahezu anderthalbtausendjährigen Kultur und obgleich alle leitenden Personen oder sicherlich ihre größte Zahl christliche Erziehung genossen haben und den Einflüssen des sogenannten christ¬ lichen Staats ausgesetzt waren, das geschichtliche Ergebnis sind, so meine ich, müßte uns doch diese Erscheinung stutzig machen und uns die Vermutung aufdrängen, daß irgend etwas in der organisirten Christenheit nicht richtig sei. Unsre ganze Gesellschaftsordnung, das weist Nathusius, vielleicht ohne daß er es gewollt hat, thatsächlich nach, ist inwendig faul und schlägt den christlichen Lehren von der menschlichen Gesellschaft, nicht bloß hie und da, nein ganz und gar ins Angesicht. Dieselbe Kluft zwischen beiden zeigt auch Abt Uhl- horn, wenn er die gegenwärtige Wirtschaftspolitik beschuldigt, daß sie die Er¬ reichung der vou Gott gewollten Ziele sehr oft unmöglich mache. Wenn nun die christliche Kirche keine andern Wege vorschlagen kann, als die bis dahin von ihr betretnen, so ist es freilich klar, daß die, die im Trocknen sitzen, d. h. die nicht von dieser Mißgeburt erdrückt werden, sich bei solchen Vorschlägen beruhigen können: sie könnens abwarten! Aber noch begreiflicher ist es, daß die der Kirche längst Entfremdeten durch solche Vorschläge nicht zu neuem Zutrauen zur christlichen Kirche gewonnen werden können. So viele Jahrzehnte und Jahrhunderte lang, wird man ausrufen, hat die christ¬ liche Kirche durch Wort und Sakrament und viele andre Dinge in unzähligen Tempeln, Sonntags und Wochentags auf die Gemeinde, das Volk, die Gesell-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/510>, abgerufen am 23.07.2024.