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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Aus einer kleinen Lake

geordnetes Gemeinwesen gegeben? Da also immerhin, im kleinen wie im großen,
doch noch einige Ordnung herrscht, auch kein Stand von der Mehrzahl ent¬
behrlich genannt wird, muß es doch wohl, wenn jeder das Seine thut, immer
noch so weiter gehen. Bei euch draußen wie bei uns hier. Bessern -- nur
zu, besonders jeder an sich selbst. Aber reißt man ein Haus nieder, weil
einige Steine verwittert sind?

Und allenthalben oder doch den meisten Menschen sollte das Geld zu be¬
friedigenden Dasein fehlen? Nix vrsäo, wie Friedrich Wilhelm I. sagte.
Gar manchem, das ist gewiß; ebenso gewiß aber auch, daß mancher "Schlecht¬
gestellte" im Grunde ganz gut auskommen könnte, wenn er es nur selbst
glauben und wollen wollte. "Das Glück giebt manchem wohl zu viel, genug
keinem," sagte schon Martial zu einer Zeit, als es noch ganz andre Reichtümer
gab als jetzt. Ja wenn nicht das "Ausleben" wäre! Dann würde sich
mancher ganz gut "einleben" können! Aber daß das Menschenleben köstlich
gewesen ist, wenn es Mühe und Arbeit gewesen ist, davon mag man besonders
in großen Städten jetzt in sehr vielen Häusern nichts mehr hören, wir schon
eher, weil uns viel weniger Tantalusfrüchte vor dem Munde hängen. Freude
an kleinen materiellen Genüssen, Freude an tiefer Versenkung in Ideales,
Freude an Liebe, Treue und Güte ringsumher -- ja das sind wohl altmodische
Worte! Und doch, wenn sie die Herrschaft gewinnen, wieviel von "wirtschaft¬
lichem Elend" verschwände da! Reichlich genug bleibt ja noch immer übrig,
genug für das Streben des Einzelnen wie der Gesamtheiten, um sich durch
dessen Verminderung Ruhm und Dankbarkeit zu erwerben, aber wahrlich lange
nicht genug, um über ganze Klassen das Urteil fruchtloser Arbeit zu verhängen!

Ästhetisch -- ja da können wir freilich aus der Praxis wenig mitsprechen.
Hin und wieder bringt uns eine wandernde Theatergesellschaft ein modernes
Stück; illustrirte Journale bringen farblose Nachbildungen, die Zeitungen
Kritiken der Kunstwerke. Zuweilen macht sich einer auf und sieht in Berlin,
was gerade ausgestellt ist und aufgeführt wird, aber daran muß er und seine
Zuhörerschaft auch lange zehren! Aber zollfrei sind anch unsre Gedanken,
sie können sich aus den gegebnen Anhalten Vorstellungen aufbauen und nach
allgemeinen Grundsätzen über Recht und Unrecht Entscheidung suchen. Und da
will mir zunächst doch scheinen, daß die Partei derer, die am Schönen, wenn
es auch nach alter Weise etwas stilisirt sein sollte, weiter hängen, im Lande
viel größer ist, als deren Partei, die nichts als Wahrheit wollen, wenn sie
auch noch so schmutzig ist. Die Vorstellung, daß die Kunst das Gemüt er¬
heben soll, ist uns zu fest eingewurzelt -- vielleicht schon, weil in der Schule
zu viel "Schönes" gelehrt wird. Diese Partei überläßt das Studium der
Wahrheit den Naturforschern und Photographen; sie für ihr Teil ergötzt sich
am Schönen weiter, solange es Schönes giebt, und das stirbt ja gottlob in
der Natur wie in der Kunst so bald noch nicht aus. Darum braucht man


Aus einer kleinen Lake

geordnetes Gemeinwesen gegeben? Da also immerhin, im kleinen wie im großen,
doch noch einige Ordnung herrscht, auch kein Stand von der Mehrzahl ent¬
behrlich genannt wird, muß es doch wohl, wenn jeder das Seine thut, immer
noch so weiter gehen. Bei euch draußen wie bei uns hier. Bessern — nur
zu, besonders jeder an sich selbst. Aber reißt man ein Haus nieder, weil
einige Steine verwittert sind?

Und allenthalben oder doch den meisten Menschen sollte das Geld zu be¬
friedigenden Dasein fehlen? Nix vrsäo, wie Friedrich Wilhelm I. sagte.
Gar manchem, das ist gewiß; ebenso gewiß aber auch, daß mancher „Schlecht¬
gestellte" im Grunde ganz gut auskommen könnte, wenn er es nur selbst
glauben und wollen wollte. „Das Glück giebt manchem wohl zu viel, genug
keinem," sagte schon Martial zu einer Zeit, als es noch ganz andre Reichtümer
gab als jetzt. Ja wenn nicht das „Ausleben" wäre! Dann würde sich
mancher ganz gut „einleben" können! Aber daß das Menschenleben köstlich
gewesen ist, wenn es Mühe und Arbeit gewesen ist, davon mag man besonders
in großen Städten jetzt in sehr vielen Häusern nichts mehr hören, wir schon
eher, weil uns viel weniger Tantalusfrüchte vor dem Munde hängen. Freude
an kleinen materiellen Genüssen, Freude an tiefer Versenkung in Ideales,
Freude an Liebe, Treue und Güte ringsumher — ja das sind wohl altmodische
Worte! Und doch, wenn sie die Herrschaft gewinnen, wieviel von „wirtschaft¬
lichem Elend" verschwände da! Reichlich genug bleibt ja noch immer übrig,
genug für das Streben des Einzelnen wie der Gesamtheiten, um sich durch
dessen Verminderung Ruhm und Dankbarkeit zu erwerben, aber wahrlich lange
nicht genug, um über ganze Klassen das Urteil fruchtloser Arbeit zu verhängen!

Ästhetisch — ja da können wir freilich aus der Praxis wenig mitsprechen.
Hin und wieder bringt uns eine wandernde Theatergesellschaft ein modernes
Stück; illustrirte Journale bringen farblose Nachbildungen, die Zeitungen
Kritiken der Kunstwerke. Zuweilen macht sich einer auf und sieht in Berlin,
was gerade ausgestellt ist und aufgeführt wird, aber daran muß er und seine
Zuhörerschaft auch lange zehren! Aber zollfrei sind anch unsre Gedanken,
sie können sich aus den gegebnen Anhalten Vorstellungen aufbauen und nach
allgemeinen Grundsätzen über Recht und Unrecht Entscheidung suchen. Und da
will mir zunächst doch scheinen, daß die Partei derer, die am Schönen, wenn
es auch nach alter Weise etwas stilisirt sein sollte, weiter hängen, im Lande
viel größer ist, als deren Partei, die nichts als Wahrheit wollen, wenn sie
auch noch so schmutzig ist. Die Vorstellung, daß die Kunst das Gemüt er¬
heben soll, ist uns zu fest eingewurzelt — vielleicht schon, weil in der Schule
zu viel „Schönes" gelehrt wird. Diese Partei überläßt das Studium der
Wahrheit den Naturforschern und Photographen; sie für ihr Teil ergötzt sich
am Schönen weiter, solange es Schönes giebt, und das stirbt ja gottlob in
der Natur wie in der Kunst so bald noch nicht aus. Darum braucht man


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[0496] Aus einer kleinen Lake geordnetes Gemeinwesen gegeben? Da also immerhin, im kleinen wie im großen, doch noch einige Ordnung herrscht, auch kein Stand von der Mehrzahl ent¬ behrlich genannt wird, muß es doch wohl, wenn jeder das Seine thut, immer noch so weiter gehen. Bei euch draußen wie bei uns hier. Bessern — nur zu, besonders jeder an sich selbst. Aber reißt man ein Haus nieder, weil einige Steine verwittert sind? Und allenthalben oder doch den meisten Menschen sollte das Geld zu be¬ friedigenden Dasein fehlen? Nix vrsäo, wie Friedrich Wilhelm I. sagte. Gar manchem, das ist gewiß; ebenso gewiß aber auch, daß mancher „Schlecht¬ gestellte" im Grunde ganz gut auskommen könnte, wenn er es nur selbst glauben und wollen wollte. „Das Glück giebt manchem wohl zu viel, genug keinem," sagte schon Martial zu einer Zeit, als es noch ganz andre Reichtümer gab als jetzt. Ja wenn nicht das „Ausleben" wäre! Dann würde sich mancher ganz gut „einleben" können! Aber daß das Menschenleben köstlich gewesen ist, wenn es Mühe und Arbeit gewesen ist, davon mag man besonders in großen Städten jetzt in sehr vielen Häusern nichts mehr hören, wir schon eher, weil uns viel weniger Tantalusfrüchte vor dem Munde hängen. Freude an kleinen materiellen Genüssen, Freude an tiefer Versenkung in Ideales, Freude an Liebe, Treue und Güte ringsumher — ja das sind wohl altmodische Worte! Und doch, wenn sie die Herrschaft gewinnen, wieviel von „wirtschaft¬ lichem Elend" verschwände da! Reichlich genug bleibt ja noch immer übrig, genug für das Streben des Einzelnen wie der Gesamtheiten, um sich durch dessen Verminderung Ruhm und Dankbarkeit zu erwerben, aber wahrlich lange nicht genug, um über ganze Klassen das Urteil fruchtloser Arbeit zu verhängen! Ästhetisch — ja da können wir freilich aus der Praxis wenig mitsprechen. Hin und wieder bringt uns eine wandernde Theatergesellschaft ein modernes Stück; illustrirte Journale bringen farblose Nachbildungen, die Zeitungen Kritiken der Kunstwerke. Zuweilen macht sich einer auf und sieht in Berlin, was gerade ausgestellt ist und aufgeführt wird, aber daran muß er und seine Zuhörerschaft auch lange zehren! Aber zollfrei sind anch unsre Gedanken, sie können sich aus den gegebnen Anhalten Vorstellungen aufbauen und nach allgemeinen Grundsätzen über Recht und Unrecht Entscheidung suchen. Und da will mir zunächst doch scheinen, daß die Partei derer, die am Schönen, wenn es auch nach alter Weise etwas stilisirt sein sollte, weiter hängen, im Lande viel größer ist, als deren Partei, die nichts als Wahrheit wollen, wenn sie auch noch so schmutzig ist. Die Vorstellung, daß die Kunst das Gemüt er¬ heben soll, ist uns zu fest eingewurzelt — vielleicht schon, weil in der Schule zu viel „Schönes" gelehrt wird. Diese Partei überläßt das Studium der Wahrheit den Naturforschern und Photographen; sie für ihr Teil ergötzt sich am Schönen weiter, solange es Schönes giebt, und das stirbt ja gottlob in der Natur wie in der Kunst so bald noch nicht aus. Darum braucht man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/496>, abgerufen am 23.07.2024.