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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Aus einer kleinen Lake

sein Wasser bis in unsern Sand kommt, hat es solche Senkstoffe meist schon
abgesetzt, oder sie sinken hier unter die Oberfläche und trüben das Wasser
nicht. Und da glücklicherweise die Weltstädte -- wenn sie es sich auch manch¬
mal einbilden -- noch keineswegs die Welt ausmachen, sondern die kleinen
Ecken alle zusammen ihnen an Menschenzahl weit überlegen sind, so gehts im
allgemeinen doch noch ganz leidlich mit der Menschheit. Soviel freilich ist
gewiß: durch eine graue Brille kann man nur grau sehen, durch das Fenster¬
glas der gesunden Empfindung, der ruhigen Betrachtung findet man aber nicht
nur häßliche, sondern auch manche schone Farben. Und da wir hier die Ob¬
jekte viel näher vor Augen haben als die "auf der Höhe" "mit dem weiten
Blick," so sehe" wir auch die schönen Farben recht deutlich. Zu bessern wird
immer genug an uns allen bleiben, und dem, ders ernst mit dieser Arbeit
meint, nimmt erst der Tod das Werkzeug aus der Hand; das darf aber von
rüstigem Schaffen nicht abhalten. Dagegen kann auch glücklicherweise noch
vieles schlimmer dargestellt werden, als es ist. Wenn aber gewisse große
Denker und Menschenkenner verkündigen, daß alles am Menschen tugendlos
sei, nun so erlauben wir uns eben ganz ergebenst, so modern die auch sein
mögen, dennoch andrer Meinung zu sein; für das gar zu Moderne sind wir
überhaupt nicht. Und wenn anch ein bischen Mut dazu gehört, den Worten
Trotz zu bieten: "Aber daran glaubt ja kein vernünftiger Mensch mehr!", so
hat doch die Geschichte oft genug gezeigt, daß die Originale der einen Periode
die Vertreter des selbstverständlichen der nächsten gewesen sind. Auch Denker
können "vorbeidenken."

"Stände" haben wir bei uns auch (wenn auch einige freilich etwas dünn
vertreten sind), und daß jeder von ihnen auf die andern herabsieht und sich
selbst für den wichtigsten hält, ist nicht nur in Rom und im Mittelalter so
gewesen, auch jetzt nicht nur in Berlin oder London zu finden, sondern in der
kleinen Ecke ebenso. Und wie! Schlecht zu wirtschaften versteht man hier
auch schon, freilich auch gut zu wirtschaften. Und trotz des Standesbewußt¬
seins vertragen sich alle die Alleinwichtigen doch unter einander ganz gut, weil
jenes Bewußtsein hauptsächlich nnr in Reden zum Ausdruck kommt, die wohl
ärgern, aber nicht schaden können; in Wirklichkeit aber weiß schließlich doch
jeder Stand, daß er die andern nötig hat, und handelt darnach. Wer also
andre anerkennt, kann sicher sein, auch anerkannt zu werden. Zu arbeiten
könnte wohl der oder jener etwas mehr haben, und der und jener etwas
weniger, aber keiner könnte doch die Arbeit des andern verrichten. Unznfriedne
und Weltverbesserer -- im kleinen freilich -- habe ich das Vergnügen per¬
sönlich zu kennen, die über falsche oder nicht anerkannte Notstände, träge
Beamte, eingebildete Schulmeister, gewissenlose Gewerbtreibende alle Tage her¬
ziehen und gewiß von ihren eignen Standesrechten nichts abgeben würden.
Aber wo und wann sind die nicht gewesen? Oder hat es etwa nie ein gut-


Aus einer kleinen Lake

sein Wasser bis in unsern Sand kommt, hat es solche Senkstoffe meist schon
abgesetzt, oder sie sinken hier unter die Oberfläche und trüben das Wasser
nicht. Und da glücklicherweise die Weltstädte — wenn sie es sich auch manch¬
mal einbilden — noch keineswegs die Welt ausmachen, sondern die kleinen
Ecken alle zusammen ihnen an Menschenzahl weit überlegen sind, so gehts im
allgemeinen doch noch ganz leidlich mit der Menschheit. Soviel freilich ist
gewiß: durch eine graue Brille kann man nur grau sehen, durch das Fenster¬
glas der gesunden Empfindung, der ruhigen Betrachtung findet man aber nicht
nur häßliche, sondern auch manche schone Farben. Und da wir hier die Ob¬
jekte viel näher vor Augen haben als die „auf der Höhe" „mit dem weiten
Blick," so sehe» wir auch die schönen Farben recht deutlich. Zu bessern wird
immer genug an uns allen bleiben, und dem, ders ernst mit dieser Arbeit
meint, nimmt erst der Tod das Werkzeug aus der Hand; das darf aber von
rüstigem Schaffen nicht abhalten. Dagegen kann auch glücklicherweise noch
vieles schlimmer dargestellt werden, als es ist. Wenn aber gewisse große
Denker und Menschenkenner verkündigen, daß alles am Menschen tugendlos
sei, nun so erlauben wir uns eben ganz ergebenst, so modern die auch sein
mögen, dennoch andrer Meinung zu sein; für das gar zu Moderne sind wir
überhaupt nicht. Und wenn anch ein bischen Mut dazu gehört, den Worten
Trotz zu bieten: „Aber daran glaubt ja kein vernünftiger Mensch mehr!", so
hat doch die Geschichte oft genug gezeigt, daß die Originale der einen Periode
die Vertreter des selbstverständlichen der nächsten gewesen sind. Auch Denker
können „vorbeidenken."

„Stände" haben wir bei uns auch (wenn auch einige freilich etwas dünn
vertreten sind), und daß jeder von ihnen auf die andern herabsieht und sich
selbst für den wichtigsten hält, ist nicht nur in Rom und im Mittelalter so
gewesen, auch jetzt nicht nur in Berlin oder London zu finden, sondern in der
kleinen Ecke ebenso. Und wie! Schlecht zu wirtschaften versteht man hier
auch schon, freilich auch gut zu wirtschaften. Und trotz des Standesbewußt¬
seins vertragen sich alle die Alleinwichtigen doch unter einander ganz gut, weil
jenes Bewußtsein hauptsächlich nnr in Reden zum Ausdruck kommt, die wohl
ärgern, aber nicht schaden können; in Wirklichkeit aber weiß schließlich doch
jeder Stand, daß er die andern nötig hat, und handelt darnach. Wer also
andre anerkennt, kann sicher sein, auch anerkannt zu werden. Zu arbeiten
könnte wohl der oder jener etwas mehr haben, und der und jener etwas
weniger, aber keiner könnte doch die Arbeit des andern verrichten. Unznfriedne
und Weltverbesserer — im kleinen freilich — habe ich das Vergnügen per¬
sönlich zu kennen, die über falsche oder nicht anerkannte Notstände, träge
Beamte, eingebildete Schulmeister, gewissenlose Gewerbtreibende alle Tage her¬
ziehen und gewiß von ihren eignen Standesrechten nichts abgeben würden.
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[0495] Aus einer kleinen Lake sein Wasser bis in unsern Sand kommt, hat es solche Senkstoffe meist schon abgesetzt, oder sie sinken hier unter die Oberfläche und trüben das Wasser nicht. Und da glücklicherweise die Weltstädte — wenn sie es sich auch manch¬ mal einbilden — noch keineswegs die Welt ausmachen, sondern die kleinen Ecken alle zusammen ihnen an Menschenzahl weit überlegen sind, so gehts im allgemeinen doch noch ganz leidlich mit der Menschheit. Soviel freilich ist gewiß: durch eine graue Brille kann man nur grau sehen, durch das Fenster¬ glas der gesunden Empfindung, der ruhigen Betrachtung findet man aber nicht nur häßliche, sondern auch manche schone Farben. Und da wir hier die Ob¬ jekte viel näher vor Augen haben als die „auf der Höhe" „mit dem weiten Blick," so sehe» wir auch die schönen Farben recht deutlich. Zu bessern wird immer genug an uns allen bleiben, und dem, ders ernst mit dieser Arbeit meint, nimmt erst der Tod das Werkzeug aus der Hand; das darf aber von rüstigem Schaffen nicht abhalten. Dagegen kann auch glücklicherweise noch vieles schlimmer dargestellt werden, als es ist. Wenn aber gewisse große Denker und Menschenkenner verkündigen, daß alles am Menschen tugendlos sei, nun so erlauben wir uns eben ganz ergebenst, so modern die auch sein mögen, dennoch andrer Meinung zu sein; für das gar zu Moderne sind wir überhaupt nicht. Und wenn anch ein bischen Mut dazu gehört, den Worten Trotz zu bieten: „Aber daran glaubt ja kein vernünftiger Mensch mehr!", so hat doch die Geschichte oft genug gezeigt, daß die Originale der einen Periode die Vertreter des selbstverständlichen der nächsten gewesen sind. Auch Denker können „vorbeidenken." „Stände" haben wir bei uns auch (wenn auch einige freilich etwas dünn vertreten sind), und daß jeder von ihnen auf die andern herabsieht und sich selbst für den wichtigsten hält, ist nicht nur in Rom und im Mittelalter so gewesen, auch jetzt nicht nur in Berlin oder London zu finden, sondern in der kleinen Ecke ebenso. Und wie! Schlecht zu wirtschaften versteht man hier auch schon, freilich auch gut zu wirtschaften. Und trotz des Standesbewußt¬ seins vertragen sich alle die Alleinwichtigen doch unter einander ganz gut, weil jenes Bewußtsein hauptsächlich nnr in Reden zum Ausdruck kommt, die wohl ärgern, aber nicht schaden können; in Wirklichkeit aber weiß schließlich doch jeder Stand, daß er die andern nötig hat, und handelt darnach. Wer also andre anerkennt, kann sicher sein, auch anerkannt zu werden. Zu arbeiten könnte wohl der oder jener etwas mehr haben, und der und jener etwas weniger, aber keiner könnte doch die Arbeit des andern verrichten. Unznfriedne und Weltverbesserer — im kleinen freilich — habe ich das Vergnügen per¬ sönlich zu kennen, die über falsche oder nicht anerkannte Notstände, träge Beamte, eingebildete Schulmeister, gewissenlose Gewerbtreibende alle Tage her¬ ziehen und gewiß von ihren eignen Standesrechten nichts abgeben würden. Aber wo und wann sind die nicht gewesen? Oder hat es etwa nie ein gut-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/495>, abgerufen am 23.07.2024.