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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Aus einer kleinen Lake

heit nicht. Nein, keineswegs! Freilich, es giebt hier auch Menschen, mit denen
man gern zu thun hat, und solche, mit denen man nichts zu thun haben mag.
So haben auch wir unsre offnen und geheimen Gottesleugner, ja Geistes¬
leugner auf der einen Seite und eine sehr große Menge "bequemer Christen"
auf einer zweiten, die sich mit jeder andern Staatsreligion ebenso gut behelfen
würden. Aber auf einer dritten -- wieviel echt innerlich protestantischer Geist
steckt da noch in manchen Leuten, die weder Strauß noch Stöcker lieben! Muß
man denn im Strudel des großen Lebens gewesen sein, um sich eine Welt¬
anschauung zu bilden, d. h. eine Idee von Gott und dem Menschen? Nein,
der Mikrokosmus ist allenthalben derselbe. Weder zu den Verdünnter noch
zu den Verführten wollen wir gehören. Wie sich auch dieser und jener inner¬
lich zu einzelnen Dogmen stellen mag, Gott und Christus verehren wir lebendig,
und wer das thut, braucht sich nicht Atheist nennen zu lassen. So aber stehts
auch weithin im Vaterland und in andern christlichen Ländern, und darum
ist auch die Menschheit nicht religiös verkommen, wenn auch viele Abtrünnige
unter ihr sind, die besser thäten, sich nicht mehr Christen zu nennen, aber auch
viele Engherzige, die durch ihr Ungestüm das Reich Christi nicht vermehren,
sondern vermindern. Richtet nicht!

Und ob die Sitten der Menschen wirklich so grundschlecht sind, wie sie
von so vielen Seiten her geschildert werden? Das weiß der Himmel: der
Mensch müßte überhaupt noch nicht die Augen aufgemacht haben, dem noch
keine schlechten Menschen begegnet wären, auch in der allerkleinsten Ecke. In
welche Verborgenheit schicken nicht Neid und Haß, Roheit und Tücke ihre Pfeile?
Aber ihr werten Meuschheitsverdammer, in welchen Winkel dringen auch die
Strahlen der Menschenliebe niemals ein? Ja, ihr habt Recht, es giebt ge¬
wissenlose "Unsicher" und neidzerfressene Proletarier in Massen, es giebt
Heuchler der Tugend von den obersten Schichten der Gesellschaft bis zu den
niedrigsten, aber giebt es nur solche? Und haben jene Übclthätcr keine reine
Stelle an ihrem Sittengewand? Kennt ihr keine reichen Leute, die mit ehr¬
lichsten Eifer Gutes thun, Millionen zu Hilfe und Rettung? und kennt ihr
keine Armen, die in Genügsamkeit das Ihre zu Rate halten, sich der Liebe
der Ihrigen erfreuen und die Reichen um ihre Sorgen und mancherlei Last
und Plant nicht beneiden? Und von jenen Schlemmern hat auch schon mancher
einem Bettler einen Thaler oder ein Goldstück zugeworfen, ist für die Familie
mannhaft eingetreten, hat Kameraden und selbst Dienern im geheimen aus der
Not geholfen; jene Neidbolde aber sind oft rüstige Helfer in der Not, wo es
Mannesmut gilt, treue Freunde dem, der sich in schlichter, unaufdringlicher
Weise um sie verdient macht. Endlich auch: ändert sich nicht mancher von
diesen wie jenen später noch ganz und gar? Also nicht gleich verzweifeln und
verdammen! Freilich, drüben bei euch in der großen Welt schwemmt der Strom
der Zeit auch allerlei sonderbare Theorien an, die manchen verderben; ehe


Aus einer kleinen Lake

heit nicht. Nein, keineswegs! Freilich, es giebt hier auch Menschen, mit denen
man gern zu thun hat, und solche, mit denen man nichts zu thun haben mag.
So haben auch wir unsre offnen und geheimen Gottesleugner, ja Geistes¬
leugner auf der einen Seite und eine sehr große Menge „bequemer Christen"
auf einer zweiten, die sich mit jeder andern Staatsreligion ebenso gut behelfen
würden. Aber auf einer dritten — wieviel echt innerlich protestantischer Geist
steckt da noch in manchen Leuten, die weder Strauß noch Stöcker lieben! Muß
man denn im Strudel des großen Lebens gewesen sein, um sich eine Welt¬
anschauung zu bilden, d. h. eine Idee von Gott und dem Menschen? Nein,
der Mikrokosmus ist allenthalben derselbe. Weder zu den Verdünnter noch
zu den Verführten wollen wir gehören. Wie sich auch dieser und jener inner¬
lich zu einzelnen Dogmen stellen mag, Gott und Christus verehren wir lebendig,
und wer das thut, braucht sich nicht Atheist nennen zu lassen. So aber stehts
auch weithin im Vaterland und in andern christlichen Ländern, und darum
ist auch die Menschheit nicht religiös verkommen, wenn auch viele Abtrünnige
unter ihr sind, die besser thäten, sich nicht mehr Christen zu nennen, aber auch
viele Engherzige, die durch ihr Ungestüm das Reich Christi nicht vermehren,
sondern vermindern. Richtet nicht!

Und ob die Sitten der Menschen wirklich so grundschlecht sind, wie sie
von so vielen Seiten her geschildert werden? Das weiß der Himmel: der
Mensch müßte überhaupt noch nicht die Augen aufgemacht haben, dem noch
keine schlechten Menschen begegnet wären, auch in der allerkleinsten Ecke. In
welche Verborgenheit schicken nicht Neid und Haß, Roheit und Tücke ihre Pfeile?
Aber ihr werten Meuschheitsverdammer, in welchen Winkel dringen auch die
Strahlen der Menschenliebe niemals ein? Ja, ihr habt Recht, es giebt ge¬
wissenlose „Unsicher" und neidzerfressene Proletarier in Massen, es giebt
Heuchler der Tugend von den obersten Schichten der Gesellschaft bis zu den
niedrigsten, aber giebt es nur solche? Und haben jene Übclthätcr keine reine
Stelle an ihrem Sittengewand? Kennt ihr keine reichen Leute, die mit ehr¬
lichsten Eifer Gutes thun, Millionen zu Hilfe und Rettung? und kennt ihr
keine Armen, die in Genügsamkeit das Ihre zu Rate halten, sich der Liebe
der Ihrigen erfreuen und die Reichen um ihre Sorgen und mancherlei Last
und Plant nicht beneiden? Und von jenen Schlemmern hat auch schon mancher
einem Bettler einen Thaler oder ein Goldstück zugeworfen, ist für die Familie
mannhaft eingetreten, hat Kameraden und selbst Dienern im geheimen aus der
Not geholfen; jene Neidbolde aber sind oft rüstige Helfer in der Not, wo es
Mannesmut gilt, treue Freunde dem, der sich in schlichter, unaufdringlicher
Weise um sie verdient macht. Endlich auch: ändert sich nicht mancher von
diesen wie jenen später noch ganz und gar? Also nicht gleich verzweifeln und
verdammen! Freilich, drüben bei euch in der großen Welt schwemmt der Strom
der Zeit auch allerlei sonderbare Theorien an, die manchen verderben; ehe


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[0494] Aus einer kleinen Lake heit nicht. Nein, keineswegs! Freilich, es giebt hier auch Menschen, mit denen man gern zu thun hat, und solche, mit denen man nichts zu thun haben mag. So haben auch wir unsre offnen und geheimen Gottesleugner, ja Geistes¬ leugner auf der einen Seite und eine sehr große Menge „bequemer Christen" auf einer zweiten, die sich mit jeder andern Staatsreligion ebenso gut behelfen würden. Aber auf einer dritten — wieviel echt innerlich protestantischer Geist steckt da noch in manchen Leuten, die weder Strauß noch Stöcker lieben! Muß man denn im Strudel des großen Lebens gewesen sein, um sich eine Welt¬ anschauung zu bilden, d. h. eine Idee von Gott und dem Menschen? Nein, der Mikrokosmus ist allenthalben derselbe. Weder zu den Verdünnter noch zu den Verführten wollen wir gehören. Wie sich auch dieser und jener inner¬ lich zu einzelnen Dogmen stellen mag, Gott und Christus verehren wir lebendig, und wer das thut, braucht sich nicht Atheist nennen zu lassen. So aber stehts auch weithin im Vaterland und in andern christlichen Ländern, und darum ist auch die Menschheit nicht religiös verkommen, wenn auch viele Abtrünnige unter ihr sind, die besser thäten, sich nicht mehr Christen zu nennen, aber auch viele Engherzige, die durch ihr Ungestüm das Reich Christi nicht vermehren, sondern vermindern. Richtet nicht! Und ob die Sitten der Menschen wirklich so grundschlecht sind, wie sie von so vielen Seiten her geschildert werden? Das weiß der Himmel: der Mensch müßte überhaupt noch nicht die Augen aufgemacht haben, dem noch keine schlechten Menschen begegnet wären, auch in der allerkleinsten Ecke. In welche Verborgenheit schicken nicht Neid und Haß, Roheit und Tücke ihre Pfeile? Aber ihr werten Meuschheitsverdammer, in welchen Winkel dringen auch die Strahlen der Menschenliebe niemals ein? Ja, ihr habt Recht, es giebt ge¬ wissenlose „Unsicher" und neidzerfressene Proletarier in Massen, es giebt Heuchler der Tugend von den obersten Schichten der Gesellschaft bis zu den niedrigsten, aber giebt es nur solche? Und haben jene Übclthätcr keine reine Stelle an ihrem Sittengewand? Kennt ihr keine reichen Leute, die mit ehr¬ lichsten Eifer Gutes thun, Millionen zu Hilfe und Rettung? und kennt ihr keine Armen, die in Genügsamkeit das Ihre zu Rate halten, sich der Liebe der Ihrigen erfreuen und die Reichen um ihre Sorgen und mancherlei Last und Plant nicht beneiden? Und von jenen Schlemmern hat auch schon mancher einem Bettler einen Thaler oder ein Goldstück zugeworfen, ist für die Familie mannhaft eingetreten, hat Kameraden und selbst Dienern im geheimen aus der Not geholfen; jene Neidbolde aber sind oft rüstige Helfer in der Not, wo es Mannesmut gilt, treue Freunde dem, der sich in schlichter, unaufdringlicher Weise um sie verdient macht. Endlich auch: ändert sich nicht mancher von diesen wie jenen später noch ganz und gar? Also nicht gleich verzweifeln und verdammen! Freilich, drüben bei euch in der großen Welt schwemmt der Strom der Zeit auch allerlei sonderbare Theorien an, die manchen verderben; ehe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/494>, abgerufen am 23.07.2024.