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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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sich förmlich auf den Kopf, schlagen Purzelbäume, maskiren sich, reißen sich
die Kleider ab, je nachdem, und das liebe Publikum steht starr, wenigstens
eine Zeit lang. Es giebt eine ganze Reihe bekannter Schriftsteller, die weiter
nichts thun, als auf neue Mätzchen sinnen, um das Publikum zu verblüffen.
Da haben wir wieder die wilde Jagd nach dem Erfolg um jeden Preis, die
meist ein Preisgeben der eignen Persönlichkeit in sich schließt, wie es wider¬
licher nicht zu denken ist. Und da schreit man heute uoch uach "Persönlich¬
keit"! Als ob es die Persönlichkeit allein thäte, als ob die wahrhaft bedeu¬
tenden Persönlichkeiten so häufig wären, und als ob nicht gerade sie meist
ihrer Natur gemäß verschmähen müßten, da zu stehen, wohin man sie wünscht!
Ich fürchte, man wird durch diesen Moderuf zwar Originale, Virtuosen und
Komödianten genug in Bewegung setzen, aber wenig ausgebildete ernste und
große Naturen. Nur der Anspruch, eine "Persönlichkeit" zu sein, wird all¬
gemein werden, die Gattung des lwmo sui gsnoris aber kaum häufiger.

Man kann es ja, um wieder zu unserm eigentlichen Thema zurückzu¬
kehren, einem bedeutenden Schriftsteller nicht verwehren, in der Form nach
Besonderheit zu streben, obwohl das Goethische "Es trägt Verstand und
rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor" immer seine Geltung behalten
wird. Selbst etwas Manier läßt man sich bei einem großen Geist gefallen,
da man sich sagt, daß der Widerstand der Welt allmählich in Manier hinein¬
treibe. Tadelnswert ist aber alle reine Sensationssucht und das bewußte Ko-
mödicmtentum, und leider sind selbst hervorragende Schriftsteller unsrer Zeit
damit befleckt, ein Beweis für die Krankhaftigkeit unsrer Zustünde, die immer
noch geleugnete Decadence, die freilich wohl nur vereinzelte Schichten unsers
Volks schwerer ergriffen hat. Von dem Schriftsteller und Dichter Richard
Wagner sehe ich hier ab, da ich den von ihm untrennbaren Musiker Richard
Wagner nicht beurteilen kann. Ich nenne zuerst Nietzsche. Daß er ein nicht
gewöhnlicher Geist ist -- oder war, muß mau wohl sagen --, wird auch sein
grimmigster Gegner nicht bestreiten können, daß aber schon von vornherein
etwas Krankhaftes in ihm war, könnte man, wenn man es nicht auch sonst
wüßte, schon aus den Titeln seiner Schriften ableiten. Ihn zu einem be¬
wußten Komödianten zu stempeln, wäre freilich trotz der angemaßten Zara-
thustrarolle ungerecht, aber daß ihn weniger die Liebe zur Wahrheit als die
nervöse Sucht unsrer Zeit, Aufsehen zu erregen (Strengere werden einfach
sagen: der Größenwahn) dahin trieb, wohin er gelangt ist, wird sich kaum
leugnen lassen. In frühern Zeiten wäre Nietzsche vielleicht etwas wie ein
Cota Rienzi oder gar König von Sion geworden, in unsrer wurde er mit
Notwendigkeit Schriftsteller. Seine Bedeutung als gründlichster Vekämpfer
des Begriffs "sittliche Weltordnung," dessen beliebte opportunistische Ver¬
wendung allerdings höchst unsittlich war, als Schöpfer einer immerhin manches
erklärenden neuen Anschauung der Weltgeschichte, als gewaltiger Psychologe


sich förmlich auf den Kopf, schlagen Purzelbäume, maskiren sich, reißen sich
die Kleider ab, je nachdem, und das liebe Publikum steht starr, wenigstens
eine Zeit lang. Es giebt eine ganze Reihe bekannter Schriftsteller, die weiter
nichts thun, als auf neue Mätzchen sinnen, um das Publikum zu verblüffen.
Da haben wir wieder die wilde Jagd nach dem Erfolg um jeden Preis, die
meist ein Preisgeben der eignen Persönlichkeit in sich schließt, wie es wider¬
licher nicht zu denken ist. Und da schreit man heute uoch uach „Persönlich¬
keit"! Als ob es die Persönlichkeit allein thäte, als ob die wahrhaft bedeu¬
tenden Persönlichkeiten so häufig wären, und als ob nicht gerade sie meist
ihrer Natur gemäß verschmähen müßten, da zu stehen, wohin man sie wünscht!
Ich fürchte, man wird durch diesen Moderuf zwar Originale, Virtuosen und
Komödianten genug in Bewegung setzen, aber wenig ausgebildete ernste und
große Naturen. Nur der Anspruch, eine „Persönlichkeit" zu sein, wird all¬
gemein werden, die Gattung des lwmo sui gsnoris aber kaum häufiger.

Man kann es ja, um wieder zu unserm eigentlichen Thema zurückzu¬
kehren, einem bedeutenden Schriftsteller nicht verwehren, in der Form nach
Besonderheit zu streben, obwohl das Goethische „Es trägt Verstand und
rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor" immer seine Geltung behalten
wird. Selbst etwas Manier läßt man sich bei einem großen Geist gefallen,
da man sich sagt, daß der Widerstand der Welt allmählich in Manier hinein¬
treibe. Tadelnswert ist aber alle reine Sensationssucht und das bewußte Ko-
mödicmtentum, und leider sind selbst hervorragende Schriftsteller unsrer Zeit
damit befleckt, ein Beweis für die Krankhaftigkeit unsrer Zustünde, die immer
noch geleugnete Decadence, die freilich wohl nur vereinzelte Schichten unsers
Volks schwerer ergriffen hat. Von dem Schriftsteller und Dichter Richard
Wagner sehe ich hier ab, da ich den von ihm untrennbaren Musiker Richard
Wagner nicht beurteilen kann. Ich nenne zuerst Nietzsche. Daß er ein nicht
gewöhnlicher Geist ist — oder war, muß mau wohl sagen —, wird auch sein
grimmigster Gegner nicht bestreiten können, daß aber schon von vornherein
etwas Krankhaftes in ihm war, könnte man, wenn man es nicht auch sonst
wüßte, schon aus den Titeln seiner Schriften ableiten. Ihn zu einem be¬
wußten Komödianten zu stempeln, wäre freilich trotz der angemaßten Zara-
thustrarolle ungerecht, aber daß ihn weniger die Liebe zur Wahrheit als die
nervöse Sucht unsrer Zeit, Aufsehen zu erregen (Strengere werden einfach
sagen: der Größenwahn) dahin trieb, wohin er gelangt ist, wird sich kaum
leugnen lassen. In frühern Zeiten wäre Nietzsche vielleicht etwas wie ein
Cota Rienzi oder gar König von Sion geworden, in unsrer wurde er mit
Notwendigkeit Schriftsteller. Seine Bedeutung als gründlichster Vekämpfer
des Begriffs „sittliche Weltordnung," dessen beliebte opportunistische Ver¬
wendung allerdings höchst unsittlich war, als Schöpfer einer immerhin manches
erklärenden neuen Anschauung der Weltgeschichte, als gewaltiger Psychologe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/479>, abgerufen am 23.07.2024.