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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Streit der Fakultäten

sein Standpunkt. Und da er nun die Verhältnisse der kleinen Leute und die,
wie er meinte, unschädliche Gleichgiltigkeit und Hartnäckigkeit des Landvolkes
kannte, so konnte er sich auch nie so recht für die Lehren der sogenannten
Hygiene erwärmen. In diesem Punkte blieb er ungläubig, auch wo sich die
berühmtesten Autoritäten und die eifrigsten Fachgenossen für immer neue For¬
derungen an den Geldbeutel ihrer Mitmenschen begeisterten. Sein immer reger
Zusammenhang mit den Schichten des Volkes, aus denen er selbst hervor¬
gegangen war, bewahrte ihn mich vor der gefährlichen Klippe seines Berufs,
in der zunehmenden Menge derer, die seine Hilfe begehrten, mehr und mehr
nur das statistische Material zu scheu, das häufig, wie er selbst bemerkte, ganz
nutzlos zur Befestigung irgend eines windigen Einfalls zusammengestellt wurde.

So war er denu, wie seine Zeugnisse bewiesen, ein tüchtiger Mediziner
geworden, und er selbst konnte sich nach einer mehrjährigen Thätigkeit in
Bettenbvstel, wo er sich nach längerer Assistentenlaufbahn und nachdem es ihm
auch gelungen war, akademische Anfechtungen abzuthun, niedergelassen hatte,
selbst sage", daß er kein schlechter Arzt zu werden versprach. Das Zutrauen
der Leute und sein eignes Gewissen bestätigten ihm das. Übermäßig glücklich
war er deshalb doch nicht, aber auch nicht unzufrieden, nicht grüblerisch und
nicht mattherzig. Er lebte so hin, nahm an den Veranstaltungen, die die
nicht gerade nach Kvrpsgruudsätzeu zusammengesetzte Herrengesellschaft der
Gegend den oder jenen Abend ins Wirtshaus zusammenführten, nicht ungern
teil, hielt sich einen Hund und die Münchner Neuesten Nachrichten und fuhr
ab und zu in die Stadt, um doch auch "auf dem Laufenden" zu bleiben.

Das Versprechen, das er dem jungen Fräulein von Mechtshausen gegeben
hatte, gegen Abend noch einmal nach Marienzelle zu kommen, störte eigentlich
seinen Tagesplan. Es war für den Abend eine Geburtstagsfeier im Hauptgasthofe
des Orts angesetzt, zu der er des Festkindes, eines lustigen alten Oberförsters,
wegen pünktlich anzutreten zugesagt hatte. Nun hatte er außer einigen drin¬
genden Besuchen im Orte selbst auch noch diese, wie er jetzt meinte, im Grunde
unnötige Verpflichtung übernommen. Er zieh sich in augenblicklichem Unmut
unverzeihlicher Schwäche gegen adliches Wesen, von der er sich sonst freisprach.
Er ärgerte sich. Aber er machte nach kurzer Ruhe seine Besuche im Ort und
ging, um die Pferde zu schonen und sich Bewegung zu machen, zu Fuße nach
Marieuzelle und kam zu der verabredeten Festlichkeit erst zurück, als der Houpt-
trinkspruch aus deu Oberförster längst ausgebracht war.

Denn als er ius Stift kam, traf er seine Patientin und ihre Pflegerin
in dem behaglich umgestalteten Krankenzimmer gerade im Begriff, gemeinsam
Thee zu trinken, und er wurde aufgefordert, an dem Tischchen ohne Umstände
Platz zu nehmen und eine Tasse mitzutrinken. Diese schlanke Art gefiel ihm;
er hätte auch so leicht keine Form finden können, das freundliche Anerbieten
aufzuschlagen. Wie ein gezähmter Löwe saß er nnn an dem Sofa der Stifts-


Der Streit der Fakultäten

sein Standpunkt. Und da er nun die Verhältnisse der kleinen Leute und die,
wie er meinte, unschädliche Gleichgiltigkeit und Hartnäckigkeit des Landvolkes
kannte, so konnte er sich auch nie so recht für die Lehren der sogenannten
Hygiene erwärmen. In diesem Punkte blieb er ungläubig, auch wo sich die
berühmtesten Autoritäten und die eifrigsten Fachgenossen für immer neue For¬
derungen an den Geldbeutel ihrer Mitmenschen begeisterten. Sein immer reger
Zusammenhang mit den Schichten des Volkes, aus denen er selbst hervor¬
gegangen war, bewahrte ihn mich vor der gefährlichen Klippe seines Berufs,
in der zunehmenden Menge derer, die seine Hilfe begehrten, mehr und mehr
nur das statistische Material zu scheu, das häufig, wie er selbst bemerkte, ganz
nutzlos zur Befestigung irgend eines windigen Einfalls zusammengestellt wurde.

So war er denu, wie seine Zeugnisse bewiesen, ein tüchtiger Mediziner
geworden, und er selbst konnte sich nach einer mehrjährigen Thätigkeit in
Bettenbvstel, wo er sich nach längerer Assistentenlaufbahn und nachdem es ihm
auch gelungen war, akademische Anfechtungen abzuthun, niedergelassen hatte,
selbst sage», daß er kein schlechter Arzt zu werden versprach. Das Zutrauen
der Leute und sein eignes Gewissen bestätigten ihm das. Übermäßig glücklich
war er deshalb doch nicht, aber auch nicht unzufrieden, nicht grüblerisch und
nicht mattherzig. Er lebte so hin, nahm an den Veranstaltungen, die die
nicht gerade nach Kvrpsgruudsätzeu zusammengesetzte Herrengesellschaft der
Gegend den oder jenen Abend ins Wirtshaus zusammenführten, nicht ungern
teil, hielt sich einen Hund und die Münchner Neuesten Nachrichten und fuhr
ab und zu in die Stadt, um doch auch „auf dem Laufenden" zu bleiben.

Das Versprechen, das er dem jungen Fräulein von Mechtshausen gegeben
hatte, gegen Abend noch einmal nach Marienzelle zu kommen, störte eigentlich
seinen Tagesplan. Es war für den Abend eine Geburtstagsfeier im Hauptgasthofe
des Orts angesetzt, zu der er des Festkindes, eines lustigen alten Oberförsters,
wegen pünktlich anzutreten zugesagt hatte. Nun hatte er außer einigen drin¬
genden Besuchen im Orte selbst auch noch diese, wie er jetzt meinte, im Grunde
unnötige Verpflichtung übernommen. Er zieh sich in augenblicklichem Unmut
unverzeihlicher Schwäche gegen adliches Wesen, von der er sich sonst freisprach.
Er ärgerte sich. Aber er machte nach kurzer Ruhe seine Besuche im Ort und
ging, um die Pferde zu schonen und sich Bewegung zu machen, zu Fuße nach
Marieuzelle und kam zu der verabredeten Festlichkeit erst zurück, als der Houpt-
trinkspruch aus deu Oberförster längst ausgebracht war.

Denn als er ius Stift kam, traf er seine Patientin und ihre Pflegerin
in dem behaglich umgestalteten Krankenzimmer gerade im Begriff, gemeinsam
Thee zu trinken, und er wurde aufgefordert, an dem Tischchen ohne Umstände
Platz zu nehmen und eine Tasse mitzutrinken. Diese schlanke Art gefiel ihm;
er hätte auch so leicht keine Form finden können, das freundliche Anerbieten
aufzuschlagen. Wie ein gezähmter Löwe saß er nnn an dem Sofa der Stifts-


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[0438] Der Streit der Fakultäten sein Standpunkt. Und da er nun die Verhältnisse der kleinen Leute und die, wie er meinte, unschädliche Gleichgiltigkeit und Hartnäckigkeit des Landvolkes kannte, so konnte er sich auch nie so recht für die Lehren der sogenannten Hygiene erwärmen. In diesem Punkte blieb er ungläubig, auch wo sich die berühmtesten Autoritäten und die eifrigsten Fachgenossen für immer neue For¬ derungen an den Geldbeutel ihrer Mitmenschen begeisterten. Sein immer reger Zusammenhang mit den Schichten des Volkes, aus denen er selbst hervor¬ gegangen war, bewahrte ihn mich vor der gefährlichen Klippe seines Berufs, in der zunehmenden Menge derer, die seine Hilfe begehrten, mehr und mehr nur das statistische Material zu scheu, das häufig, wie er selbst bemerkte, ganz nutzlos zur Befestigung irgend eines windigen Einfalls zusammengestellt wurde. So war er denu, wie seine Zeugnisse bewiesen, ein tüchtiger Mediziner geworden, und er selbst konnte sich nach einer mehrjährigen Thätigkeit in Bettenbvstel, wo er sich nach längerer Assistentenlaufbahn und nachdem es ihm auch gelungen war, akademische Anfechtungen abzuthun, niedergelassen hatte, selbst sage», daß er kein schlechter Arzt zu werden versprach. Das Zutrauen der Leute und sein eignes Gewissen bestätigten ihm das. Übermäßig glücklich war er deshalb doch nicht, aber auch nicht unzufrieden, nicht grüblerisch und nicht mattherzig. Er lebte so hin, nahm an den Veranstaltungen, die die nicht gerade nach Kvrpsgruudsätzeu zusammengesetzte Herrengesellschaft der Gegend den oder jenen Abend ins Wirtshaus zusammenführten, nicht ungern teil, hielt sich einen Hund und die Münchner Neuesten Nachrichten und fuhr ab und zu in die Stadt, um doch auch „auf dem Laufenden" zu bleiben. Das Versprechen, das er dem jungen Fräulein von Mechtshausen gegeben hatte, gegen Abend noch einmal nach Marienzelle zu kommen, störte eigentlich seinen Tagesplan. Es war für den Abend eine Geburtstagsfeier im Hauptgasthofe des Orts angesetzt, zu der er des Festkindes, eines lustigen alten Oberförsters, wegen pünktlich anzutreten zugesagt hatte. Nun hatte er außer einigen drin¬ genden Besuchen im Orte selbst auch noch diese, wie er jetzt meinte, im Grunde unnötige Verpflichtung übernommen. Er zieh sich in augenblicklichem Unmut unverzeihlicher Schwäche gegen adliches Wesen, von der er sich sonst freisprach. Er ärgerte sich. Aber er machte nach kurzer Ruhe seine Besuche im Ort und ging, um die Pferde zu schonen und sich Bewegung zu machen, zu Fuße nach Marieuzelle und kam zu der verabredeten Festlichkeit erst zurück, als der Houpt- trinkspruch aus deu Oberförster längst ausgebracht war. Denn als er ius Stift kam, traf er seine Patientin und ihre Pflegerin in dem behaglich umgestalteten Krankenzimmer gerade im Begriff, gemeinsam Thee zu trinken, und er wurde aufgefordert, an dem Tischchen ohne Umstände Platz zu nehmen und eine Tasse mitzutrinken. Diese schlanke Art gefiel ihm; er hätte auch so leicht keine Form finden können, das freundliche Anerbieten aufzuschlagen. Wie ein gezähmter Löwe saß er nnn an dem Sofa der Stifts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/438>, abgerufen am 23.07.2024.