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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Streit der Fakultäten

dame, die sich in eine möglichst bequeme Lage gebracht hatte, um jede schäd¬
liche Bewegung des gebrochnen Armes zu vermeiden, und von ihrer Nichte
aufmerksam und geräuschlos bedient wurde. Es verstand sich von selbst, daß
der Fall zunächst aufs genaueste erörtert wurde, und nach dem Befunde gab
der junge Arzt die tröstlichsten Zusicherungen. Dabei fand er es gar nicht so
schwer, liebenswürdig und mitteilsam zu sein. Er erzählte zur Beruhigung,
was er sonst sehr selten that, von einigen ähnlichen Brüchen, die gut und
sicher geheilt waren und sich doch viel schlimmer angelassen hatten.

Meine eigne Mutter zum Beispiel, sagte er schließlich, gleichsam um einen
Trumpf auszuspielen, hatte sich einmal einen verzweifelt schweren Armbruch
- ich weiß noch heute nicht, wie es eigentlich zugegangen ist -- dicht über
der Handwurzel zugezogen, und er ist gut geheilt. Und dabei war der Arzt
nicht so schnell zur Stelle, denn ehe der nach Hiltrum kommen kann, kann
schon manches Passiren. Ich mußte nach Hause kommen, die Axt im Haus
erspart den Zimmermann. Meine Mutter weiß nichts mehr von ihrer Bruch¬
stelle. Übrigens hat mich Ihre Nichte beinahe überflüssig gemacht, so gut war
der erste Verband.

Es war nicht zu verkennen, daß dieses schlichte Lob eine gute Stelle
fand, aber das junge Mädchen ging darüber hinweg und fragte nach seiner
Heimat. Der Name seines Dorfes hatte sie aufmerksam gemacht. Und nun
fand sich, daß eine den Mechtöhausen nahe verwandte Familie in unmittel¬
barer Nähe von Hiltrum begütert war, und daß die beiden Dame" häufig,
die eine vor langen Jahren, die andre in naher liegenden Zeiten, dort in der
Heide gewesen waren und die Gegend gemein kannten. Das gab denn genug
Anknüpfungspunkte für eine ausgiebige Unterhaltung. Utermöhlen verweilte
freilich mit wärmeren Anteil bei den Namen, Örtlichkeiten, Wegen und Aus¬
sichten; er freute sich innerlich, daß unerwartet jemand so gut in und bei
Hiltrum, das sonst kein Mensch gekannt hatte, Bescheid wußte. Daß es nun
gar ein so ernstes und schönes Fräulein war, mit dem er darüber sprechen
konnte, kam ihm in seinem sachlichen Eifer gar nicht so recht zum Be¬
wußtsein.

Endlich merkte er, daß es doch wohl Zeit geworden sei, abzubrechen und
sich zu empfehlen. Ohne zu wissen, daß er einen sehr guten Eindruck hinter¬
lassen hatte, machte er sich auf deu Heimweg, steckte sich, da er auf einmal
gewahr wurde, daß ihm die ganze Zeit über etwas unnennbares gefehlt habe,
eine Cigarre an und wandte sich in gar nicht medizinisch-wissenschaftliche
Gedanken vertieft der unverantwortlich lange versäumten Gcbnrtstagsgesell-
schaft zu.

Der junge Mann, sagte inzwischen die Tante zur Nichte, macht einen
recht verstündigen Eindruck. Diese Leute ans der Heide haben doch etwas
an sich. Wenn ich damit den windigen Klages und die Ziererei des Advv-


Der Streit der Fakultäten

dame, die sich in eine möglichst bequeme Lage gebracht hatte, um jede schäd¬
liche Bewegung des gebrochnen Armes zu vermeiden, und von ihrer Nichte
aufmerksam und geräuschlos bedient wurde. Es verstand sich von selbst, daß
der Fall zunächst aufs genaueste erörtert wurde, und nach dem Befunde gab
der junge Arzt die tröstlichsten Zusicherungen. Dabei fand er es gar nicht so
schwer, liebenswürdig und mitteilsam zu sein. Er erzählte zur Beruhigung,
was er sonst sehr selten that, von einigen ähnlichen Brüchen, die gut und
sicher geheilt waren und sich doch viel schlimmer angelassen hatten.

Meine eigne Mutter zum Beispiel, sagte er schließlich, gleichsam um einen
Trumpf auszuspielen, hatte sich einmal einen verzweifelt schweren Armbruch
- ich weiß noch heute nicht, wie es eigentlich zugegangen ist — dicht über
der Handwurzel zugezogen, und er ist gut geheilt. Und dabei war der Arzt
nicht so schnell zur Stelle, denn ehe der nach Hiltrum kommen kann, kann
schon manches Passiren. Ich mußte nach Hause kommen, die Axt im Haus
erspart den Zimmermann. Meine Mutter weiß nichts mehr von ihrer Bruch¬
stelle. Übrigens hat mich Ihre Nichte beinahe überflüssig gemacht, so gut war
der erste Verband.

Es war nicht zu verkennen, daß dieses schlichte Lob eine gute Stelle
fand, aber das junge Mädchen ging darüber hinweg und fragte nach seiner
Heimat. Der Name seines Dorfes hatte sie aufmerksam gemacht. Und nun
fand sich, daß eine den Mechtöhausen nahe verwandte Familie in unmittel¬
barer Nähe von Hiltrum begütert war, und daß die beiden Dame» häufig,
die eine vor langen Jahren, die andre in naher liegenden Zeiten, dort in der
Heide gewesen waren und die Gegend gemein kannten. Das gab denn genug
Anknüpfungspunkte für eine ausgiebige Unterhaltung. Utermöhlen verweilte
freilich mit wärmeren Anteil bei den Namen, Örtlichkeiten, Wegen und Aus¬
sichten; er freute sich innerlich, daß unerwartet jemand so gut in und bei
Hiltrum, das sonst kein Mensch gekannt hatte, Bescheid wußte. Daß es nun
gar ein so ernstes und schönes Fräulein war, mit dem er darüber sprechen
konnte, kam ihm in seinem sachlichen Eifer gar nicht so recht zum Be¬
wußtsein.

Endlich merkte er, daß es doch wohl Zeit geworden sei, abzubrechen und
sich zu empfehlen. Ohne zu wissen, daß er einen sehr guten Eindruck hinter¬
lassen hatte, machte er sich auf deu Heimweg, steckte sich, da er auf einmal
gewahr wurde, daß ihm die ganze Zeit über etwas unnennbares gefehlt habe,
eine Cigarre an und wandte sich in gar nicht medizinisch-wissenschaftliche
Gedanken vertieft der unverantwortlich lange versäumten Gcbnrtstagsgesell-
schaft zu.

Der junge Mann, sagte inzwischen die Tante zur Nichte, macht einen
recht verstündigen Eindruck. Diese Leute ans der Heide haben doch etwas
an sich. Wenn ich damit den windigen Klages und die Ziererei des Advv-


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[0439] Der Streit der Fakultäten dame, die sich in eine möglichst bequeme Lage gebracht hatte, um jede schäd¬ liche Bewegung des gebrochnen Armes zu vermeiden, und von ihrer Nichte aufmerksam und geräuschlos bedient wurde. Es verstand sich von selbst, daß der Fall zunächst aufs genaueste erörtert wurde, und nach dem Befunde gab der junge Arzt die tröstlichsten Zusicherungen. Dabei fand er es gar nicht so schwer, liebenswürdig und mitteilsam zu sein. Er erzählte zur Beruhigung, was er sonst sehr selten that, von einigen ähnlichen Brüchen, die gut und sicher geheilt waren und sich doch viel schlimmer angelassen hatten. Meine eigne Mutter zum Beispiel, sagte er schließlich, gleichsam um einen Trumpf auszuspielen, hatte sich einmal einen verzweifelt schweren Armbruch - ich weiß noch heute nicht, wie es eigentlich zugegangen ist — dicht über der Handwurzel zugezogen, und er ist gut geheilt. Und dabei war der Arzt nicht so schnell zur Stelle, denn ehe der nach Hiltrum kommen kann, kann schon manches Passiren. Ich mußte nach Hause kommen, die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Meine Mutter weiß nichts mehr von ihrer Bruch¬ stelle. Übrigens hat mich Ihre Nichte beinahe überflüssig gemacht, so gut war der erste Verband. Es war nicht zu verkennen, daß dieses schlichte Lob eine gute Stelle fand, aber das junge Mädchen ging darüber hinweg und fragte nach seiner Heimat. Der Name seines Dorfes hatte sie aufmerksam gemacht. Und nun fand sich, daß eine den Mechtöhausen nahe verwandte Familie in unmittel¬ barer Nähe von Hiltrum begütert war, und daß die beiden Dame» häufig, die eine vor langen Jahren, die andre in naher liegenden Zeiten, dort in der Heide gewesen waren und die Gegend gemein kannten. Das gab denn genug Anknüpfungspunkte für eine ausgiebige Unterhaltung. Utermöhlen verweilte freilich mit wärmeren Anteil bei den Namen, Örtlichkeiten, Wegen und Aus¬ sichten; er freute sich innerlich, daß unerwartet jemand so gut in und bei Hiltrum, das sonst kein Mensch gekannt hatte, Bescheid wußte. Daß es nun gar ein so ernstes und schönes Fräulein war, mit dem er darüber sprechen konnte, kam ihm in seinem sachlichen Eifer gar nicht so recht zum Be¬ wußtsein. Endlich merkte er, daß es doch wohl Zeit geworden sei, abzubrechen und sich zu empfehlen. Ohne zu wissen, daß er einen sehr guten Eindruck hinter¬ lassen hatte, machte er sich auf deu Heimweg, steckte sich, da er auf einmal gewahr wurde, daß ihm die ganze Zeit über etwas unnennbares gefehlt habe, eine Cigarre an und wandte sich in gar nicht medizinisch-wissenschaftliche Gedanken vertieft der unverantwortlich lange versäumten Gcbnrtstagsgesell- schaft zu. Der junge Mann, sagte inzwischen die Tante zur Nichte, macht einen recht verstündigen Eindruck. Diese Leute ans der Heide haben doch etwas an sich. Wenn ich damit den windigen Klages und die Ziererei des Advv-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/439>, abgerufen am 22.07.2024.