Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Die Wissenschaft führt, wie sehr es auch Herr Häckel leugnet, durch ihre Übergriffe auf ein Die Wissenschaft führt, wie sehr es auch Herr Häckel leugnet, durch ihre Übergriffe auf ein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0423" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219425"/> <fw type="header" place="top"> Die Wissenschaft</fw><lb/> <p xml:id="ID_1267" prev="#ID_1266" next="#ID_1268"> führt, wie sehr es auch Herr Häckel leugnet, durch ihre Übergriffe auf ein<lb/> fremdes Gebiet, durch die Übertragung ihrer mechanischen Erklärungsweisen<lb/> auf das Gebiet des Geistes und der Ethik, zur Materialisirung der Wissen¬<lb/> schaft. Zum Beweise für diese letztere Behauptung halte ich es nicht für<lb/> nötig, alle die Forscher anzuführen, die offen und ehrlich für ihre materia¬<lb/> listische Weltanschauung eingetreten sind, denn ihre Zahl ist Legion, und viele<lb/> sind sogar, leider, im Munde der Unmündigen; aber darauf will ich ver¬<lb/> weisen, daß das ganze moderne Leben, außer bei einem großen Teil der Katho¬<lb/> liken und der protestantischen Landbevölkerung, lautes und beredtes Zeugnis<lb/> dafür ablegt, daß die materialistischen Anschauungen heute nicht nur den Geist,<lb/> sondern auch das Herz der Menschen beherrschen, daß die Menschheit darnach<lb/> lebt. Darin allerdings würde ich Herrn Häckel beistimmen, wenn er die richtigen<lb/> Folgerungen aus seiner eignen Weltanschauung zöge und sagte, daß die Periode<lb/> der materialistischen Verflachung bei den geistigen Führern der Nation wieder im<lb/> Schwinden begriffen sei. Die Forscher, namentlich die hervorragenden Naturfor¬<lb/> scher, haben die erste Periode des Enthusiasmus, wo die exakte Wissenschaft nicht<lb/> nur die Erde, sondern auch den Himmel erobern, nicht mir den Verstand, sondern<lb/> auch das Gemüt des Menschen befriedigen zu können glaubte, längst hinter sich.<lb/> Spricht man doch heute ganz offen von dem Bankrott der Wissenschaft! Diese<lb/> veränderte Strömung in den leitenden Kreisen nimmt täglich sichtbar an Kraft<lb/> und Breite zu. Aber wie Jahrzehnte notwendig gewesen sind, um die Volksseele<lb/> mit den neuen Anschauungen der religionslosen Wissenschaft zu erfüllen, so werden<lb/> auch Jahrzehnte notwendig sein, um das Gift und seine Zersctznngsprodukte aus<lb/> ihr zu entfernen. Inzwischen erntet die Sozialdemokratie die Frucht der hoch<lb/> ausgeschossenen Smal: denn das Volk, um von den höher» Ständen gar nicht<lb/> zu reden, hat den höchst zweifelhaften und winzig kleinen Fortschritt in der<lb/> Erkenntnis bezahlt mit einem ungeheuern Rückschritt an sittlichem Bewußtsein<lb/> und sittlicher Kraft, und auf der einen Seite hat die Erwerbsgier und die<lb/> Genußsucht, auf der andern das Elend, die Begehrlichkeit und der Neid eine<lb/> solche Höhe erreicht, daß die Einrichtungen des Staats nicht mehr nach dem<lb/> Maßstabe des Vorteils sür das große Ganze, sondern fast ausschließlich nach<lb/> pekuniären Interessen beurteilt werden. So stehen wir wieder einmal in<lb/> unsrer Entwicklung an einer Grenze, wo es zweifelhaft ist, ob sich der schwer<lb/> erkrankte Organismus der Gesellschaft noch durch friedliche Mittel der bessern<lb/> Einsicht und Umkehr oder nur durch gewaltsame Revolution zur Gesundung<lb/> durchringen kann. Heute weiß jeder mit offnen Sinnen beobachtende, wie<lb/> Recht der alte volkstümliche Schriftsteller Bernstein hatte, der sür die Aus¬<lb/> breitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse im Volke jahrzehntelang wirksam<lb/> war, als er in der Berliner Volkszeitung schrieb: wenn er die freie Wahl<lb/> hätte, ein Geschlecht zu erziehen, entweder nur in der Erkenntnis dessen, was<lb/> sich wissenschaftlich beweisen ließe, oder nur in der Neigung zu alledem, was</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0423]
Die Wissenschaft
führt, wie sehr es auch Herr Häckel leugnet, durch ihre Übergriffe auf ein
fremdes Gebiet, durch die Übertragung ihrer mechanischen Erklärungsweisen
auf das Gebiet des Geistes und der Ethik, zur Materialisirung der Wissen¬
schaft. Zum Beweise für diese letztere Behauptung halte ich es nicht für
nötig, alle die Forscher anzuführen, die offen und ehrlich für ihre materia¬
listische Weltanschauung eingetreten sind, denn ihre Zahl ist Legion, und viele
sind sogar, leider, im Munde der Unmündigen; aber darauf will ich ver¬
weisen, daß das ganze moderne Leben, außer bei einem großen Teil der Katho¬
liken und der protestantischen Landbevölkerung, lautes und beredtes Zeugnis
dafür ablegt, daß die materialistischen Anschauungen heute nicht nur den Geist,
sondern auch das Herz der Menschen beherrschen, daß die Menschheit darnach
lebt. Darin allerdings würde ich Herrn Häckel beistimmen, wenn er die richtigen
Folgerungen aus seiner eignen Weltanschauung zöge und sagte, daß die Periode
der materialistischen Verflachung bei den geistigen Führern der Nation wieder im
Schwinden begriffen sei. Die Forscher, namentlich die hervorragenden Naturfor¬
scher, haben die erste Periode des Enthusiasmus, wo die exakte Wissenschaft nicht
nur die Erde, sondern auch den Himmel erobern, nicht mir den Verstand, sondern
auch das Gemüt des Menschen befriedigen zu können glaubte, längst hinter sich.
Spricht man doch heute ganz offen von dem Bankrott der Wissenschaft! Diese
veränderte Strömung in den leitenden Kreisen nimmt täglich sichtbar an Kraft
und Breite zu. Aber wie Jahrzehnte notwendig gewesen sind, um die Volksseele
mit den neuen Anschauungen der religionslosen Wissenschaft zu erfüllen, so werden
auch Jahrzehnte notwendig sein, um das Gift und seine Zersctznngsprodukte aus
ihr zu entfernen. Inzwischen erntet die Sozialdemokratie die Frucht der hoch
ausgeschossenen Smal: denn das Volk, um von den höher» Ständen gar nicht
zu reden, hat den höchst zweifelhaften und winzig kleinen Fortschritt in der
Erkenntnis bezahlt mit einem ungeheuern Rückschritt an sittlichem Bewußtsein
und sittlicher Kraft, und auf der einen Seite hat die Erwerbsgier und die
Genußsucht, auf der andern das Elend, die Begehrlichkeit und der Neid eine
solche Höhe erreicht, daß die Einrichtungen des Staats nicht mehr nach dem
Maßstabe des Vorteils sür das große Ganze, sondern fast ausschließlich nach
pekuniären Interessen beurteilt werden. So stehen wir wieder einmal in
unsrer Entwicklung an einer Grenze, wo es zweifelhaft ist, ob sich der schwer
erkrankte Organismus der Gesellschaft noch durch friedliche Mittel der bessern
Einsicht und Umkehr oder nur durch gewaltsame Revolution zur Gesundung
durchringen kann. Heute weiß jeder mit offnen Sinnen beobachtende, wie
Recht der alte volkstümliche Schriftsteller Bernstein hatte, der sür die Aus¬
breitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse im Volke jahrzehntelang wirksam
war, als er in der Berliner Volkszeitung schrieb: wenn er die freie Wahl
hätte, ein Geschlecht zu erziehen, entweder nur in der Erkenntnis dessen, was
sich wissenschaftlich beweisen ließe, oder nur in der Neigung zu alledem, was
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