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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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vie Wissenschaft

Religion ohne jeden wissenschaftlichen Beweis zur Lebensregel erhebe, so würde
er mit Grausen und Entsetzen die nur wissenschaftliche Erziehungsweise ab¬
weisen. Bernstein hat wohl kaum geahnt, daß schon das nächste Geschlecht
mit Schaudern und Entsetzen vor dem Abgrunde stehen würde, den er vor¬
aussah, und den die materialistische Weltanschauung dem deutschen Volke ge¬
graben hat; am wenigsten aber würde er begreifen, wie sich heute uoch Herr
Hcickel zu dem Glauben bekennen kann, daß er mit seinem Monismus Reli¬
gion und Wissenschaft versöhnen und dem Volke mit seinem "Snbstanzgesetz" ein
Äquivalent zu bieten vermöge für die Religion, die ihm allein verständlich
ist, weil sie den Bedürfnissen seines Kopfes und Herzens entspricht, und die den
persönlichen Gott und die Unsterblichkeit zur Voraussetzung hat. Herrn Hcickel
wird das freilich sehr trnnrig und unwissenschaftlich vorkommen; er kennt
eben, wie die Gelehrten überhaupt, die im Laboratorium und am Schreibtisch
Weltanschauungen konstruiren, weder das Volk noch seine Triebe und Be¬
dürfnisse; er wird deshalb auch nie einsehen, daß eine Moral aus dem dar-
winistischen oder ans dein Nützlichkeitsprinzip heraus, wobei der Nutzen nicht
der Person, sondern dem Ganzen zu gute kommen soll, dem schlichten Men¬
schen unfaßbar ist. Dieser versteht es sehr gut, wenn man ihm sagt: das
siud die zehn Gebote Gottes, nach denen du zu handeln hast; ihre Über¬
tretung ist Sünde und wird bestraft hier von dem irdischen und dort von dem
humnlischen Richter; sagt man ihm aber: diese Gebote sind Vorschriften des
Staats, übertrittst du sie, so wirst du bestraft, wenn du ertappt wirst, sonst
nicht, so wird er ohne Gewissensbisse jedes Gebot verletzen, wenn es ihm Vorteil
bringt, und er die Übertretung verheimlichen kann. Warum sollte er auch seinem
natürlichen Trieb, zum eignen Vorteil zu handeln, Schranken auferlegen, solange
er keinen Nachteil davon zu fürchten hat? Ist doch uach dem Darwinismus das
menschliche Leben nichts als ein Kampf ums Dasein, worin der Stärkere Recht
hat und nach dem Materialismus nichts als der Ablauf gewisser Moletularbewc-
gungen an einem kleinern oder größern PrvtoploSmaklumPen, ein dem sich die
Materie in dynamischen Gleichgewicht befindet, von Bewegungen, die noch dazu
uach unabänderlichen Naturgesetzen ablaufen, für die daher niemand die aller¬
geringste Verantwortlichkeit zu trage" braucht. Freilich giebt es Leute genug, die
auch in dem Wegfall dieser persönlichen Verantwortlichkeit keine Gefahr für die
Gesellschaft sehen. Zeuge davon ist die Entwicklung der modernen Kriminalistik
mit Herrn Cesare Lombroso an der Spitze. Hier kann man nur ausrufen:
Wen Gott verderbe" will, den schlägt er mit Blindheit!

Ich habe gesagt, daß viele bedeutende Naturforscher der Neuzeit den
spekulativen Ergebnissen nach induktiver Methode, d. h. der materialistischen
und materialistisch-monistischen Weltanschauung den Rücken gekehrt und nicht
nur deren Unfähigkeit, die Rätsel des Seins zu erklären, sondern auch ihre
verderbliche Wirkung auf das geistige und sittliche Leben der Nationen offen


vie Wissenschaft

Religion ohne jeden wissenschaftlichen Beweis zur Lebensregel erhebe, so würde
er mit Grausen und Entsetzen die nur wissenschaftliche Erziehungsweise ab¬
weisen. Bernstein hat wohl kaum geahnt, daß schon das nächste Geschlecht
mit Schaudern und Entsetzen vor dem Abgrunde stehen würde, den er vor¬
aussah, und den die materialistische Weltanschauung dem deutschen Volke ge¬
graben hat; am wenigsten aber würde er begreifen, wie sich heute uoch Herr
Hcickel zu dem Glauben bekennen kann, daß er mit seinem Monismus Reli¬
gion und Wissenschaft versöhnen und dem Volke mit seinem „Snbstanzgesetz" ein
Äquivalent zu bieten vermöge für die Religion, die ihm allein verständlich
ist, weil sie den Bedürfnissen seines Kopfes und Herzens entspricht, und die den
persönlichen Gott und die Unsterblichkeit zur Voraussetzung hat. Herrn Hcickel
wird das freilich sehr trnnrig und unwissenschaftlich vorkommen; er kennt
eben, wie die Gelehrten überhaupt, die im Laboratorium und am Schreibtisch
Weltanschauungen konstruiren, weder das Volk noch seine Triebe und Be¬
dürfnisse; er wird deshalb auch nie einsehen, daß eine Moral aus dem dar-
winistischen oder ans dein Nützlichkeitsprinzip heraus, wobei der Nutzen nicht
der Person, sondern dem Ganzen zu gute kommen soll, dem schlichten Men¬
schen unfaßbar ist. Dieser versteht es sehr gut, wenn man ihm sagt: das
siud die zehn Gebote Gottes, nach denen du zu handeln hast; ihre Über¬
tretung ist Sünde und wird bestraft hier von dem irdischen und dort von dem
humnlischen Richter; sagt man ihm aber: diese Gebote sind Vorschriften des
Staats, übertrittst du sie, so wirst du bestraft, wenn du ertappt wirst, sonst
nicht, so wird er ohne Gewissensbisse jedes Gebot verletzen, wenn es ihm Vorteil
bringt, und er die Übertretung verheimlichen kann. Warum sollte er auch seinem
natürlichen Trieb, zum eignen Vorteil zu handeln, Schranken auferlegen, solange
er keinen Nachteil davon zu fürchten hat? Ist doch uach dem Darwinismus das
menschliche Leben nichts als ein Kampf ums Dasein, worin der Stärkere Recht
hat und nach dem Materialismus nichts als der Ablauf gewisser Moletularbewc-
gungen an einem kleinern oder größern PrvtoploSmaklumPen, ein dem sich die
Materie in dynamischen Gleichgewicht befindet, von Bewegungen, die noch dazu
uach unabänderlichen Naturgesetzen ablaufen, für die daher niemand die aller¬
geringste Verantwortlichkeit zu trage» braucht. Freilich giebt es Leute genug, die
auch in dem Wegfall dieser persönlichen Verantwortlichkeit keine Gefahr für die
Gesellschaft sehen. Zeuge davon ist die Entwicklung der modernen Kriminalistik
mit Herrn Cesare Lombroso an der Spitze. Hier kann man nur ausrufen:
Wen Gott verderbe» will, den schlägt er mit Blindheit!

Ich habe gesagt, daß viele bedeutende Naturforscher der Neuzeit den
spekulativen Ergebnissen nach induktiver Methode, d. h. der materialistischen
und materialistisch-monistischen Weltanschauung den Rücken gekehrt und nicht
nur deren Unfähigkeit, die Rätsel des Seins zu erklären, sondern auch ihre
verderbliche Wirkung auf das geistige und sittliche Leben der Nationen offen


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[0424] vie Wissenschaft Religion ohne jeden wissenschaftlichen Beweis zur Lebensregel erhebe, so würde er mit Grausen und Entsetzen die nur wissenschaftliche Erziehungsweise ab¬ weisen. Bernstein hat wohl kaum geahnt, daß schon das nächste Geschlecht mit Schaudern und Entsetzen vor dem Abgrunde stehen würde, den er vor¬ aussah, und den die materialistische Weltanschauung dem deutschen Volke ge¬ graben hat; am wenigsten aber würde er begreifen, wie sich heute uoch Herr Hcickel zu dem Glauben bekennen kann, daß er mit seinem Monismus Reli¬ gion und Wissenschaft versöhnen und dem Volke mit seinem „Snbstanzgesetz" ein Äquivalent zu bieten vermöge für die Religion, die ihm allein verständlich ist, weil sie den Bedürfnissen seines Kopfes und Herzens entspricht, und die den persönlichen Gott und die Unsterblichkeit zur Voraussetzung hat. Herrn Hcickel wird das freilich sehr trnnrig und unwissenschaftlich vorkommen; er kennt eben, wie die Gelehrten überhaupt, die im Laboratorium und am Schreibtisch Weltanschauungen konstruiren, weder das Volk noch seine Triebe und Be¬ dürfnisse; er wird deshalb auch nie einsehen, daß eine Moral aus dem dar- winistischen oder ans dein Nützlichkeitsprinzip heraus, wobei der Nutzen nicht der Person, sondern dem Ganzen zu gute kommen soll, dem schlichten Men¬ schen unfaßbar ist. Dieser versteht es sehr gut, wenn man ihm sagt: das siud die zehn Gebote Gottes, nach denen du zu handeln hast; ihre Über¬ tretung ist Sünde und wird bestraft hier von dem irdischen und dort von dem humnlischen Richter; sagt man ihm aber: diese Gebote sind Vorschriften des Staats, übertrittst du sie, so wirst du bestraft, wenn du ertappt wirst, sonst nicht, so wird er ohne Gewissensbisse jedes Gebot verletzen, wenn es ihm Vorteil bringt, und er die Übertretung verheimlichen kann. Warum sollte er auch seinem natürlichen Trieb, zum eignen Vorteil zu handeln, Schranken auferlegen, solange er keinen Nachteil davon zu fürchten hat? Ist doch uach dem Darwinismus das menschliche Leben nichts als ein Kampf ums Dasein, worin der Stärkere Recht hat und nach dem Materialismus nichts als der Ablauf gewisser Moletularbewc- gungen an einem kleinern oder größern PrvtoploSmaklumPen, ein dem sich die Materie in dynamischen Gleichgewicht befindet, von Bewegungen, die noch dazu uach unabänderlichen Naturgesetzen ablaufen, für die daher niemand die aller¬ geringste Verantwortlichkeit zu trage» braucht. Freilich giebt es Leute genug, die auch in dem Wegfall dieser persönlichen Verantwortlichkeit keine Gefahr für die Gesellschaft sehen. Zeuge davon ist die Entwicklung der modernen Kriminalistik mit Herrn Cesare Lombroso an der Spitze. Hier kann man nur ausrufen: Wen Gott verderbe» will, den schlägt er mit Blindheit! Ich habe gesagt, daß viele bedeutende Naturforscher der Neuzeit den spekulativen Ergebnissen nach induktiver Methode, d. h. der materialistischen und materialistisch-monistischen Weltanschauung den Rücken gekehrt und nicht nur deren Unfähigkeit, die Rätsel des Seins zu erklären, sondern auch ihre verderbliche Wirkung auf das geistige und sittliche Leben der Nationen offen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/424>, abgerufen am 26.06.2024.