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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft

wohl kaum noch Zeit haben. Wenn ich aber mit Herrn Hückel den Kampf
gegen diesen selbstmörderischen Gesetzentwurf, der, anstatt den Umsturz zu ver¬
hüten, ihn mehr fördern würde als alle Anarchisten zusammengenommen, für
die Pflicht jedes selbstbewußten Mannes halte, gleichviel, welcher politischen
Partei er angehört, so muß ich ebenso entschieden Verwahrung dagegen ein¬
legen, daß Herr Hückel in diesem Kampf seinen Mitkämpfern seinen "Monis¬
mus," seine "monistische Philosophie" oder gar sein "Substanzgesetz" als
Paragraph 1 seiner monistischen Vernunftreligion aufdrängt. Denn hier
spricht nicht mehr der Vertreter der Naturwissenschaft. d. h. der induktiven
Forschungsmethode, sondern der Philosoph, der die Grenzen des Natur-
erkennens ebenso überschreitet wie der religiöse Schwärmer und Fanatiker, und
der deshalb von der "Wissenschaft" mit demselben Maße gemessen werden muß
wie jeuer. Mag Herr Hückel seine "Religion" lehren und bekennen, wo und
wie er will, mag er für sich glauben, "daß wir modernen Naturforscher keines-
wegs die Religion aus der Welt schaffen, sondern daß wir sie durch zeit¬
gemäße Reformen mit den Ergebnissen der Wissenschaft versöhnen und dadurch
zu einem wertvollen Besitztum der heutigen Gesellschaft erheben wollen," ich
werde ihm das ebenso wenig verdenken wie Herrn Dubois-Reymond, der
in seiner Rede über die Grenzen des Natnrerkenuens in der Verbindung der
Begriffe von Materie und Kraft auf der einen und in der Entstehung des
Bewußtseins auf der andern Seite zwei unübersteigbare Schranken dieses Er-
kennens aufstellt, aber für den Naturforscher, "je unbedingter er die ihm ge¬
steckten Grenzen anerkennt und je demütiger er sich in seine Unwissenheit schickt,"
um so mehr das Recht in Anspruch nimmt, "mit voller Freiheit, unbeirrt
durch Mythen, Dogmen und altersstolze Philosopheme, aus dem Wege der
Induktion sich seine eigne Meinung über die Beziehungen zwischen Geist und
Materie zu bilden und das Entstehe" des Bewußtseins zu erklären"; aber ich
werde beiden stets entgegenhalten, daß sie damit die von der Naturwissenschaft
selbst festgestellten Schranken überschreiten, daß sie sich ihre Meinungen nicht
mehr auf dem Wege der Induktion, sondern auf spiritualistischen Wege bilden
und sie deshalb nicht mehr als Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung,
sondern als Ergebnisse der Spekulation darstellen müssen. Herr Dubois-
Neymond gelangt ans diesem Wege zum Materialismus, Herr Hückel zum
Monismus. Herr Haeckel protestirt dagegen, daß die Naturforschung die
Wissenschaft materialisire, Herr Dubois-Reymond gesteht es, wenn auch ein
wenig verschümt, zu. Herr Hückel wird auf den Pfaden seiner Wissenschaft zum
Aristokraten, Herr Dubois-Reymond logischerweise zum Demokraten. Und
die Moral? Nun, sie ist einfach und lautet: die Naturwissenschaft führt, sobald
sie ihr eigentliches Gebiet überschreitet, zu denselben Trugschlüssen wie die
Spekulation und ist ebenso wenig wie diese imstande, die Rätsel zu lösen, an
denen die Menschheit, seitdem sie denkt, ihr Hirn zermartert. Noch mehr: sie


Die Wissenschaft

wohl kaum noch Zeit haben. Wenn ich aber mit Herrn Hückel den Kampf
gegen diesen selbstmörderischen Gesetzentwurf, der, anstatt den Umsturz zu ver¬
hüten, ihn mehr fördern würde als alle Anarchisten zusammengenommen, für
die Pflicht jedes selbstbewußten Mannes halte, gleichviel, welcher politischen
Partei er angehört, so muß ich ebenso entschieden Verwahrung dagegen ein¬
legen, daß Herr Hückel in diesem Kampf seinen Mitkämpfern seinen „Monis¬
mus," seine „monistische Philosophie" oder gar sein „Substanzgesetz" als
Paragraph 1 seiner monistischen Vernunftreligion aufdrängt. Denn hier
spricht nicht mehr der Vertreter der Naturwissenschaft. d. h. der induktiven
Forschungsmethode, sondern der Philosoph, der die Grenzen des Natur-
erkennens ebenso überschreitet wie der religiöse Schwärmer und Fanatiker, und
der deshalb von der „Wissenschaft" mit demselben Maße gemessen werden muß
wie jeuer. Mag Herr Hückel seine „Religion" lehren und bekennen, wo und
wie er will, mag er für sich glauben, „daß wir modernen Naturforscher keines-
wegs die Religion aus der Welt schaffen, sondern daß wir sie durch zeit¬
gemäße Reformen mit den Ergebnissen der Wissenschaft versöhnen und dadurch
zu einem wertvollen Besitztum der heutigen Gesellschaft erheben wollen," ich
werde ihm das ebenso wenig verdenken wie Herrn Dubois-Reymond, der
in seiner Rede über die Grenzen des Natnrerkenuens in der Verbindung der
Begriffe von Materie und Kraft auf der einen und in der Entstehung des
Bewußtseins auf der andern Seite zwei unübersteigbare Schranken dieses Er-
kennens aufstellt, aber für den Naturforscher, „je unbedingter er die ihm ge¬
steckten Grenzen anerkennt und je demütiger er sich in seine Unwissenheit schickt,"
um so mehr das Recht in Anspruch nimmt, „mit voller Freiheit, unbeirrt
durch Mythen, Dogmen und altersstolze Philosopheme, aus dem Wege der
Induktion sich seine eigne Meinung über die Beziehungen zwischen Geist und
Materie zu bilden und das Entstehe» des Bewußtseins zu erklären"; aber ich
werde beiden stets entgegenhalten, daß sie damit die von der Naturwissenschaft
selbst festgestellten Schranken überschreiten, daß sie sich ihre Meinungen nicht
mehr auf dem Wege der Induktion, sondern auf spiritualistischen Wege bilden
und sie deshalb nicht mehr als Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung,
sondern als Ergebnisse der Spekulation darstellen müssen. Herr Dubois-
Neymond gelangt ans diesem Wege zum Materialismus, Herr Hückel zum
Monismus. Herr Haeckel protestirt dagegen, daß die Naturforschung die
Wissenschaft materialisire, Herr Dubois-Reymond gesteht es, wenn auch ein
wenig verschümt, zu. Herr Hückel wird auf den Pfaden seiner Wissenschaft zum
Aristokraten, Herr Dubois-Reymond logischerweise zum Demokraten. Und
die Moral? Nun, sie ist einfach und lautet: die Naturwissenschaft führt, sobald
sie ihr eigentliches Gebiet überschreitet, zu denselben Trugschlüssen wie die
Spekulation und ist ebenso wenig wie diese imstande, die Rätsel zu lösen, an
denen die Menschheit, seitdem sie denkt, ihr Hirn zermartert. Noch mehr: sie


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[0422] Die Wissenschaft wohl kaum noch Zeit haben. Wenn ich aber mit Herrn Hückel den Kampf gegen diesen selbstmörderischen Gesetzentwurf, der, anstatt den Umsturz zu ver¬ hüten, ihn mehr fördern würde als alle Anarchisten zusammengenommen, für die Pflicht jedes selbstbewußten Mannes halte, gleichviel, welcher politischen Partei er angehört, so muß ich ebenso entschieden Verwahrung dagegen ein¬ legen, daß Herr Hückel in diesem Kampf seinen Mitkämpfern seinen „Monis¬ mus," seine „monistische Philosophie" oder gar sein „Substanzgesetz" als Paragraph 1 seiner monistischen Vernunftreligion aufdrängt. Denn hier spricht nicht mehr der Vertreter der Naturwissenschaft. d. h. der induktiven Forschungsmethode, sondern der Philosoph, der die Grenzen des Natur- erkennens ebenso überschreitet wie der religiöse Schwärmer und Fanatiker, und der deshalb von der „Wissenschaft" mit demselben Maße gemessen werden muß wie jeuer. Mag Herr Hückel seine „Religion" lehren und bekennen, wo und wie er will, mag er für sich glauben, „daß wir modernen Naturforscher keines- wegs die Religion aus der Welt schaffen, sondern daß wir sie durch zeit¬ gemäße Reformen mit den Ergebnissen der Wissenschaft versöhnen und dadurch zu einem wertvollen Besitztum der heutigen Gesellschaft erheben wollen," ich werde ihm das ebenso wenig verdenken wie Herrn Dubois-Reymond, der in seiner Rede über die Grenzen des Natnrerkenuens in der Verbindung der Begriffe von Materie und Kraft auf der einen und in der Entstehung des Bewußtseins auf der andern Seite zwei unübersteigbare Schranken dieses Er- kennens aufstellt, aber für den Naturforscher, „je unbedingter er die ihm ge¬ steckten Grenzen anerkennt und je demütiger er sich in seine Unwissenheit schickt," um so mehr das Recht in Anspruch nimmt, „mit voller Freiheit, unbeirrt durch Mythen, Dogmen und altersstolze Philosopheme, aus dem Wege der Induktion sich seine eigne Meinung über die Beziehungen zwischen Geist und Materie zu bilden und das Entstehe» des Bewußtseins zu erklären"; aber ich werde beiden stets entgegenhalten, daß sie damit die von der Naturwissenschaft selbst festgestellten Schranken überschreiten, daß sie sich ihre Meinungen nicht mehr auf dem Wege der Induktion, sondern auf spiritualistischen Wege bilden und sie deshalb nicht mehr als Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung, sondern als Ergebnisse der Spekulation darstellen müssen. Herr Dubois- Neymond gelangt ans diesem Wege zum Materialismus, Herr Hückel zum Monismus. Herr Haeckel protestirt dagegen, daß die Naturforschung die Wissenschaft materialisire, Herr Dubois-Reymond gesteht es, wenn auch ein wenig verschümt, zu. Herr Hückel wird auf den Pfaden seiner Wissenschaft zum Aristokraten, Herr Dubois-Reymond logischerweise zum Demokraten. Und die Moral? Nun, sie ist einfach und lautet: die Naturwissenschaft führt, sobald sie ihr eigentliches Gebiet überschreitet, zu denselben Trugschlüssen wie die Spekulation und ist ebenso wenig wie diese imstande, die Rätsel zu lösen, an denen die Menschheit, seitdem sie denkt, ihr Hirn zermartert. Noch mehr: sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/422>, abgerufen am 01.07.2024.