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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft

zichten, ihre darüber hinausgehenden Hypothesen und Theorien als Ergebnisse
der Wissenschaft zu verkünden und diese "Wissenschaft" für ein unabänderliches,
absolutes "Prinzip" auszugeben. Thut sie das, so verfällt sie in denselben
Fehler, dessen Bekämpfung ihr nicht nur den Sieg über die deduktive Methode,
sondern auch ihre ungeheuern Erfolge in der Erkenntnis und in der Beherr¬
schung der Natnrkrüfte gesichert hat. Mag sie deshalb den Satz der Ver¬
fassung: "die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" ruhig umändern lassen in
den: "die wissenschaftliche Forschung und ihre Lehren sind frei"; das Gebiet
ihrer Thätigkeit wird dadurch nicht eingeschränkt und der Kreis ihrer Wirkungs¬
freiheit nicht verkleinert; aber es dürfte nicht nur auf die blinden Anhänger
ihrer Hypothesen, sondern auch auf viele ihrer Mitarbeiter selbst einen guten
erzieherischen Einfluß üben, wenn mit der genaue" Feststellung ihrer Aufgabe
und ihrer Grenzen die Illusionen zerstört würden, die ihr eine unmögliche
Herrschaft über die Welt und ihren ganzen Inhalt vorspiegeln. Ich weiß
wohl, daß so ein Verfnssnngsparagmph, der das Endergebnis eines die Geister
einer großen Zeitperiode mächtig bewegenden Kampfes auf Leben und Tod
in endgiltige Form gebracht hat, für die siegreiche Partei ein unverletzliches
Heiligtum bildet; auch verkenne ich nicht, daß es für die Naturwissenschaft
eine Einbuße an Macht über die Gemüter bedeuten würde, wenn es in der
Verfassung nicht mehr hieße: "die Wissenschaft," sonder" "die wissenschaftliche
Forschung" ist frei, und wenn nicht mehr "die Wissenschaft," sondern der
Forscher dem Volke neue Ergebnisse der Forschung verkündigte; denn vor der
Wissenschaft hatte der Deutsche mit der Zeit mehr Respekt bekommen als vor
den zehn Geboten, und wenn ihm jemand nicht in seinem eignen Namen,
sondern im Namen der Wissenschaft ein neues Gericht vorsetzte, so vergaß er
das ihm sonst ungeborne Mißtrauen gegen seinesgleichen vollständig und ver¬
zehrte es mit derselben Gewissenhaftigkeit und Zuversicht, mit der der gläu¬
bige Katholik die Entscheidungen seines unfehlbaren Oberhauptes in sich auf¬
nimmt. Wollte übrigens jemand aus dieser meiner Betrachtung schließen, daß
ich jenen Paragraph der preußischen Verfassung zu Ungunsten der freien
Forschung umändern mochte, so wäre er in einem großen Irrtum; im Gegen¬
teil, ich teile vollständig die schmerzliche Entrüstung, mit der Herr Professor
Hückcl in Ur. 18 der "Zukunft" die Angriffe zurückweist, die die Neichsregierung
in der Umsturzvorlage gegen die Freiheit des menschlichen Geistes gerichtet
hat: werden die Strafbestimmungen, die hier, namentlich in dem § 130, der
"Religion, Monarchie, Ehe, Familie und Eigentum" vor Angriffen und Be¬
schimpfungen schützen soll, vorgeschlagen werden, Gesetz, so ist es mit der "Ge¬
dankenfreiheit" und mit der vielgerühmten Kultur des deutschen Reichs vorbei,
und der Staatsanwalt ist als Nachfolger Ahlwardts zum geistigen Rektor der
Deutschen eingesetzt: um die Börse, deu Wucher, die betrügerische Konkurrenz
und ähnliche Blüten der modernen Zivilisation sich zu kümmern wird er dann


Die Wissenschaft

zichten, ihre darüber hinausgehenden Hypothesen und Theorien als Ergebnisse
der Wissenschaft zu verkünden und diese „Wissenschaft" für ein unabänderliches,
absolutes „Prinzip" auszugeben. Thut sie das, so verfällt sie in denselben
Fehler, dessen Bekämpfung ihr nicht nur den Sieg über die deduktive Methode,
sondern auch ihre ungeheuern Erfolge in der Erkenntnis und in der Beherr¬
schung der Natnrkrüfte gesichert hat. Mag sie deshalb den Satz der Ver¬
fassung: „die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" ruhig umändern lassen in
den: „die wissenschaftliche Forschung und ihre Lehren sind frei"; das Gebiet
ihrer Thätigkeit wird dadurch nicht eingeschränkt und der Kreis ihrer Wirkungs¬
freiheit nicht verkleinert; aber es dürfte nicht nur auf die blinden Anhänger
ihrer Hypothesen, sondern auch auf viele ihrer Mitarbeiter selbst einen guten
erzieherischen Einfluß üben, wenn mit der genaue» Feststellung ihrer Aufgabe
und ihrer Grenzen die Illusionen zerstört würden, die ihr eine unmögliche
Herrschaft über die Welt und ihren ganzen Inhalt vorspiegeln. Ich weiß
wohl, daß so ein Verfnssnngsparagmph, der das Endergebnis eines die Geister
einer großen Zeitperiode mächtig bewegenden Kampfes auf Leben und Tod
in endgiltige Form gebracht hat, für die siegreiche Partei ein unverletzliches
Heiligtum bildet; auch verkenne ich nicht, daß es für die Naturwissenschaft
eine Einbuße an Macht über die Gemüter bedeuten würde, wenn es in der
Verfassung nicht mehr hieße: „die Wissenschaft," sonder» „die wissenschaftliche
Forschung" ist frei, und wenn nicht mehr „die Wissenschaft," sondern der
Forscher dem Volke neue Ergebnisse der Forschung verkündigte; denn vor der
Wissenschaft hatte der Deutsche mit der Zeit mehr Respekt bekommen als vor
den zehn Geboten, und wenn ihm jemand nicht in seinem eignen Namen,
sondern im Namen der Wissenschaft ein neues Gericht vorsetzte, so vergaß er
das ihm sonst ungeborne Mißtrauen gegen seinesgleichen vollständig und ver¬
zehrte es mit derselben Gewissenhaftigkeit und Zuversicht, mit der der gläu¬
bige Katholik die Entscheidungen seines unfehlbaren Oberhauptes in sich auf¬
nimmt. Wollte übrigens jemand aus dieser meiner Betrachtung schließen, daß
ich jenen Paragraph der preußischen Verfassung zu Ungunsten der freien
Forschung umändern mochte, so wäre er in einem großen Irrtum; im Gegen¬
teil, ich teile vollständig die schmerzliche Entrüstung, mit der Herr Professor
Hückcl in Ur. 18 der „Zukunft" die Angriffe zurückweist, die die Neichsregierung
in der Umsturzvorlage gegen die Freiheit des menschlichen Geistes gerichtet
hat: werden die Strafbestimmungen, die hier, namentlich in dem § 130, der
„Religion, Monarchie, Ehe, Familie und Eigentum" vor Angriffen und Be¬
schimpfungen schützen soll, vorgeschlagen werden, Gesetz, so ist es mit der „Ge¬
dankenfreiheit" und mit der vielgerühmten Kultur des deutschen Reichs vorbei,
und der Staatsanwalt ist als Nachfolger Ahlwardts zum geistigen Rektor der
Deutschen eingesetzt: um die Börse, deu Wucher, die betrügerische Konkurrenz
und ähnliche Blüten der modernen Zivilisation sich zu kümmern wird er dann


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[0421] Die Wissenschaft zichten, ihre darüber hinausgehenden Hypothesen und Theorien als Ergebnisse der Wissenschaft zu verkünden und diese „Wissenschaft" für ein unabänderliches, absolutes „Prinzip" auszugeben. Thut sie das, so verfällt sie in denselben Fehler, dessen Bekämpfung ihr nicht nur den Sieg über die deduktive Methode, sondern auch ihre ungeheuern Erfolge in der Erkenntnis und in der Beherr¬ schung der Natnrkrüfte gesichert hat. Mag sie deshalb den Satz der Ver¬ fassung: „die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" ruhig umändern lassen in den: „die wissenschaftliche Forschung und ihre Lehren sind frei"; das Gebiet ihrer Thätigkeit wird dadurch nicht eingeschränkt und der Kreis ihrer Wirkungs¬ freiheit nicht verkleinert; aber es dürfte nicht nur auf die blinden Anhänger ihrer Hypothesen, sondern auch auf viele ihrer Mitarbeiter selbst einen guten erzieherischen Einfluß üben, wenn mit der genaue» Feststellung ihrer Aufgabe und ihrer Grenzen die Illusionen zerstört würden, die ihr eine unmögliche Herrschaft über die Welt und ihren ganzen Inhalt vorspiegeln. Ich weiß wohl, daß so ein Verfnssnngsparagmph, der das Endergebnis eines die Geister einer großen Zeitperiode mächtig bewegenden Kampfes auf Leben und Tod in endgiltige Form gebracht hat, für die siegreiche Partei ein unverletzliches Heiligtum bildet; auch verkenne ich nicht, daß es für die Naturwissenschaft eine Einbuße an Macht über die Gemüter bedeuten würde, wenn es in der Verfassung nicht mehr hieße: „die Wissenschaft," sonder» „die wissenschaftliche Forschung" ist frei, und wenn nicht mehr „die Wissenschaft," sondern der Forscher dem Volke neue Ergebnisse der Forschung verkündigte; denn vor der Wissenschaft hatte der Deutsche mit der Zeit mehr Respekt bekommen als vor den zehn Geboten, und wenn ihm jemand nicht in seinem eignen Namen, sondern im Namen der Wissenschaft ein neues Gericht vorsetzte, so vergaß er das ihm sonst ungeborne Mißtrauen gegen seinesgleichen vollständig und ver¬ zehrte es mit derselben Gewissenhaftigkeit und Zuversicht, mit der der gläu¬ bige Katholik die Entscheidungen seines unfehlbaren Oberhauptes in sich auf¬ nimmt. Wollte übrigens jemand aus dieser meiner Betrachtung schließen, daß ich jenen Paragraph der preußischen Verfassung zu Ungunsten der freien Forschung umändern mochte, so wäre er in einem großen Irrtum; im Gegen¬ teil, ich teile vollständig die schmerzliche Entrüstung, mit der Herr Professor Hückcl in Ur. 18 der „Zukunft" die Angriffe zurückweist, die die Neichsregierung in der Umsturzvorlage gegen die Freiheit des menschlichen Geistes gerichtet hat: werden die Strafbestimmungen, die hier, namentlich in dem § 130, der „Religion, Monarchie, Ehe, Familie und Eigentum" vor Angriffen und Be¬ schimpfungen schützen soll, vorgeschlagen werden, Gesetz, so ist es mit der „Ge¬ dankenfreiheit" und mit der vielgerühmten Kultur des deutschen Reichs vorbei, und der Staatsanwalt ist als Nachfolger Ahlwardts zum geistigen Rektor der Deutschen eingesetzt: um die Börse, deu Wucher, die betrügerische Konkurrenz und ähnliche Blüten der modernen Zivilisation sich zu kümmern wird er dann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/421>, abgerufen am 03.07.2024.