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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Sie Wissenschaft

verlängernd, die Genüsse des Südens dem Norden spendend, die Ackerbau¬
staaten in Industriestaaten umschaffend hat sie in der kurzen Zeit von fünfzig
Jahren das Angesicht der Erde und die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner
in einer Weise umgeändert, wie es früher die Arbeit von Jahrtausenden nicht
vermocht hat. Nimmt man dazu die ungeheure Erweiterung des geistigen
Gesichtskreises, die die Menschheit den verbesserten Mikroskopen und Tele¬
skopen, der Spektralanalyse, der Elektrophysik u. s, w. verdankt, so ist es kein
Wunder, daß sich der menschliche Geist demütig vor der Naturwissenschaft
beugte und auch da zu ihrem Sklaven wurde, wo sie sich die Herrschaft an¬
maßte und Gesetze gab, die die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit weit über¬
schritten, auf dem Gebiete der Psychologie; kein Wunder auch, daß sie selbst,
von ihren Erfolgen betäubt, sich Aufgaben stellte, die sie niemals lösen kann,
daß sie nicht nur die mechanischen Kräfte der Natur, sondern auch die geistigen
und seelischen Kräfte des Menschen unter ihre Botmäßigkeit zu bringen suchte.
Hier galt es ihr vor allen Dingen, den Kampf mit der andern weltbezwingenden
Macht, die jahrtausendelang das Menschengeschlecht erzogen und geleitet hatte,
den Kampf mit der Religion und ihren ehrwürdigen Überlieferungen, aber auch
mit ihren Übergriffen auf das sinnliche Gebiet und ihren Eingriffen in die freie
Thätigkeit des menschlichen Geistes aufzunehmen. Das nächste Ziel war die Er¬
ringung der Gleichberechtigung im Staat, die Anerkennung und Gewährleistung
des Grundsatzes, daß die wissenschaftliche Forschung frei sei und ihre Ergebnisse
frei verkündigen dürfe. Schon hier aber verfielen die Anhänger der empirischen
Richtung in denselben Fehler, den die Religionssystematiker von jeher gemacht
haben, daß sie nämlich immer von "der Religion" reden, obgleich es gar
keine Religion, sondern nur Religionsbekenntnisse giebt. Unter eben diesem
Irrtum standen auch die Jünger der neuen Geistesrichtung, als sie den Gesetz¬
geber veranlaßten, in die preußische Verfassung den Satz aufzunehmen: "die
Wissenschaft und ihre Lehre ist frei," anstatt richtig zu sagen: "die wissen¬
schaftliche Forschungsmethode und die Verkündigung ihrer Lehren ist frei."
Unter den damals waltenden Verhältnissen ist dieser Irrtum freilich verzeihlich:
in einer Zeit, wo die Gedanken mir dann zollfrei waren, wenn man sie hübsch
für sich behielt, wo der religiösen Bevormundung, der Herrschsucht der Kirchen
und dem Glaubenszwang gegenüber die Naturwissenschaft allein oder fast allein
die Freiheit des menschlichen Gedankens verteidigte und ihr zum Siege ver-
half, war es uicht zu verwundern, daß sie dem Schlagwort Religion das
Schlagwort Wissenschaft gegenüberstellte und damit den Gegenstand des Streits
jedermann verstündlich und geläufig zu machen suchte. Heute aber, wo die
Naturwissenschaft selbst die Grenzen ihres Erkenntnisgcbiets kennen gelernt
und festgestellt hat, wo sie weiß, daß sie sich darauf beschränken muß, das.
was sich in der Natur abspielt, zu beobachten, die beobachteten Thatsachen zu
sammeln und unter das Gesetz zu bringen, heute sollte sie selbst darauf ver-


Sie Wissenschaft

verlängernd, die Genüsse des Südens dem Norden spendend, die Ackerbau¬
staaten in Industriestaaten umschaffend hat sie in der kurzen Zeit von fünfzig
Jahren das Angesicht der Erde und die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner
in einer Weise umgeändert, wie es früher die Arbeit von Jahrtausenden nicht
vermocht hat. Nimmt man dazu die ungeheure Erweiterung des geistigen
Gesichtskreises, die die Menschheit den verbesserten Mikroskopen und Tele¬
skopen, der Spektralanalyse, der Elektrophysik u. s, w. verdankt, so ist es kein
Wunder, daß sich der menschliche Geist demütig vor der Naturwissenschaft
beugte und auch da zu ihrem Sklaven wurde, wo sie sich die Herrschaft an¬
maßte und Gesetze gab, die die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit weit über¬
schritten, auf dem Gebiete der Psychologie; kein Wunder auch, daß sie selbst,
von ihren Erfolgen betäubt, sich Aufgaben stellte, die sie niemals lösen kann,
daß sie nicht nur die mechanischen Kräfte der Natur, sondern auch die geistigen
und seelischen Kräfte des Menschen unter ihre Botmäßigkeit zu bringen suchte.
Hier galt es ihr vor allen Dingen, den Kampf mit der andern weltbezwingenden
Macht, die jahrtausendelang das Menschengeschlecht erzogen und geleitet hatte,
den Kampf mit der Religion und ihren ehrwürdigen Überlieferungen, aber auch
mit ihren Übergriffen auf das sinnliche Gebiet und ihren Eingriffen in die freie
Thätigkeit des menschlichen Geistes aufzunehmen. Das nächste Ziel war die Er¬
ringung der Gleichberechtigung im Staat, die Anerkennung und Gewährleistung
des Grundsatzes, daß die wissenschaftliche Forschung frei sei und ihre Ergebnisse
frei verkündigen dürfe. Schon hier aber verfielen die Anhänger der empirischen
Richtung in denselben Fehler, den die Religionssystematiker von jeher gemacht
haben, daß sie nämlich immer von „der Religion" reden, obgleich es gar
keine Religion, sondern nur Religionsbekenntnisse giebt. Unter eben diesem
Irrtum standen auch die Jünger der neuen Geistesrichtung, als sie den Gesetz¬
geber veranlaßten, in die preußische Verfassung den Satz aufzunehmen: „die
Wissenschaft und ihre Lehre ist frei," anstatt richtig zu sagen: „die wissen¬
schaftliche Forschungsmethode und die Verkündigung ihrer Lehren ist frei."
Unter den damals waltenden Verhältnissen ist dieser Irrtum freilich verzeihlich:
in einer Zeit, wo die Gedanken mir dann zollfrei waren, wenn man sie hübsch
für sich behielt, wo der religiösen Bevormundung, der Herrschsucht der Kirchen
und dem Glaubenszwang gegenüber die Naturwissenschaft allein oder fast allein
die Freiheit des menschlichen Gedankens verteidigte und ihr zum Siege ver-
half, war es uicht zu verwundern, daß sie dem Schlagwort Religion das
Schlagwort Wissenschaft gegenüberstellte und damit den Gegenstand des Streits
jedermann verstündlich und geläufig zu machen suchte. Heute aber, wo die
Naturwissenschaft selbst die Grenzen ihres Erkenntnisgcbiets kennen gelernt
und festgestellt hat, wo sie weiß, daß sie sich darauf beschränken muß, das.
was sich in der Natur abspielt, zu beobachten, die beobachteten Thatsachen zu
sammeln und unter das Gesetz zu bringen, heute sollte sie selbst darauf ver-


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[0420] Sie Wissenschaft verlängernd, die Genüsse des Südens dem Norden spendend, die Ackerbau¬ staaten in Industriestaaten umschaffend hat sie in der kurzen Zeit von fünfzig Jahren das Angesicht der Erde und die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner in einer Weise umgeändert, wie es früher die Arbeit von Jahrtausenden nicht vermocht hat. Nimmt man dazu die ungeheure Erweiterung des geistigen Gesichtskreises, die die Menschheit den verbesserten Mikroskopen und Tele¬ skopen, der Spektralanalyse, der Elektrophysik u. s, w. verdankt, so ist es kein Wunder, daß sich der menschliche Geist demütig vor der Naturwissenschaft beugte und auch da zu ihrem Sklaven wurde, wo sie sich die Herrschaft an¬ maßte und Gesetze gab, die die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit weit über¬ schritten, auf dem Gebiete der Psychologie; kein Wunder auch, daß sie selbst, von ihren Erfolgen betäubt, sich Aufgaben stellte, die sie niemals lösen kann, daß sie nicht nur die mechanischen Kräfte der Natur, sondern auch die geistigen und seelischen Kräfte des Menschen unter ihre Botmäßigkeit zu bringen suchte. Hier galt es ihr vor allen Dingen, den Kampf mit der andern weltbezwingenden Macht, die jahrtausendelang das Menschengeschlecht erzogen und geleitet hatte, den Kampf mit der Religion und ihren ehrwürdigen Überlieferungen, aber auch mit ihren Übergriffen auf das sinnliche Gebiet und ihren Eingriffen in die freie Thätigkeit des menschlichen Geistes aufzunehmen. Das nächste Ziel war die Er¬ ringung der Gleichberechtigung im Staat, die Anerkennung und Gewährleistung des Grundsatzes, daß die wissenschaftliche Forschung frei sei und ihre Ergebnisse frei verkündigen dürfe. Schon hier aber verfielen die Anhänger der empirischen Richtung in denselben Fehler, den die Religionssystematiker von jeher gemacht haben, daß sie nämlich immer von „der Religion" reden, obgleich es gar keine Religion, sondern nur Religionsbekenntnisse giebt. Unter eben diesem Irrtum standen auch die Jünger der neuen Geistesrichtung, als sie den Gesetz¬ geber veranlaßten, in die preußische Verfassung den Satz aufzunehmen: „die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei," anstatt richtig zu sagen: „die wissen¬ schaftliche Forschungsmethode und die Verkündigung ihrer Lehren ist frei." Unter den damals waltenden Verhältnissen ist dieser Irrtum freilich verzeihlich: in einer Zeit, wo die Gedanken mir dann zollfrei waren, wenn man sie hübsch für sich behielt, wo der religiösen Bevormundung, der Herrschsucht der Kirchen und dem Glaubenszwang gegenüber die Naturwissenschaft allein oder fast allein die Freiheit des menschlichen Gedankens verteidigte und ihr zum Siege ver- half, war es uicht zu verwundern, daß sie dem Schlagwort Religion das Schlagwort Wissenschaft gegenüberstellte und damit den Gegenstand des Streits jedermann verstündlich und geläufig zu machen suchte. Heute aber, wo die Naturwissenschaft selbst die Grenzen ihres Erkenntnisgcbiets kennen gelernt und festgestellt hat, wo sie weiß, daß sie sich darauf beschränken muß, das. was sich in der Natur abspielt, zu beobachten, die beobachteten Thatsachen zu sammeln und unter das Gesetz zu bringen, heute sollte sie selbst darauf ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/420>, abgerufen am 22.07.2024.