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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft

die Ergebnisse, die die Einzelmissenschaften, die Naturwissenschaften im engern
Sinne (Chemie, Physik u. f. w.), die Psychologie, die Mathematik n. s. w.
gewonnen hatten, unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen suchte,
um von ihm ans eine ursächliche Erklärung der Welt und ihres Inhalts zu
geben, um deu Wissensdrang der Menschheit, ihr Kausalitätsbedürfnis zu. be¬
friedigen; sodann, indem sie, von einem allgemeinen, nicht aus der Erfahrung,
sondern dnrch das sogenannte reine Denken gewonnenen Satz als oberstem
Prinzip ausgehend, die gesamte Natur aus diesem Satz zu erklären und ab¬
zuleiten versuchte. Bezeichnen wir die erste Methode als empirische Philo¬
sophie (Naturwissenschaften), die zweite als rationale (Metaphysik), so liegt in
diesen Bezeichnungen zugleich der wesentliche Unterschied ausgesprochen, der
beide trennt, der sich aber nicht auf den Inhalt, sondern lediglich auf die
Methode bezieht, die zur Ermittlung des Inhalts verwandt wird.

Die Herrschaft führte bis zum Beginn unsers Jahrhunderts und darüber
hinaus die Metaphysik, und zwar in so hohem Maße, daß die exakten Wissen¬
schaften gegenüber deu sogenannten Geisteswissenschaften nur als ganz unter¬
geordnete Hilfswissenschaften anerkannt wurden. So nennt sich noch Schopen¬
hauer einen Montblanc gegenüber einem Maulwurfshaufen, wenn er sich mit
einem Naturforscher vergleicht, und Friedrich Albert Lange schildert den Wert,
den sich die MetaPhysiker gegenüber den Empirikern beilegte", mit folgenden
Worten: "Der Hegelianer schreibt zwar dem Herbarticmer ein nnvollkomm-
neres Wissen zu als sich selbst, und umgekehrt; aber keiner nimmt Anstand,
das Wissen des andern gegenüber dem des Empirilers als ein höheres und
wenigstens als eine Annäherung an das allein wahre Wissen anzuerkennen."
Dieses Verhältnis änderte sich jedoch in der letzten Hälfte unsers Jahrhunderts
aus einem innern und aus einem äußern Grunde bis zur völligen Umkehrung.
Der innere Grund liegt in der allmählich zum Durchbruch und zur Geltung
gekommnen Philosophie Kants, der in seiner "Kritik der reinen Vernunft" nach¬
gewiesen hatte, daß der menschliche Geist nicht über die aus der reinen Er¬
fahrung gewonnenen Schlüsse hinausköune, und daß sämtliche metaphysischen
auf Deduktion beruhenden Systeme der Vergangenheit Trugbilder seien, und
der so den Anstoß gab zu den erkenntnistheoretischen Studien, die in der
Aufstellung der induktiven Forschungsiuethvde als allein berechtigter Grund¬
lage für die Erkenntnis der Natur ihren Abschluß fanden. Der änßere Grund
liegt in deu großartigen Entdeckungen der Naturwissenschaft, die sich der in¬
duktiven Methode bemächtigte, sie nach allen Richtungen ausbildete, auf nlleu
Gebieten des Wissens anwandte und mit ihr die bewundrungswürdigen Er¬
folge errang, die das Leben des Einzelnen wie das der Völker ans dem Gebiet
der physischen Arbeit wie in der Kunst, der Wissenschaft und der Litteratur
von Grund aus umgestalteten. Ungeheure materielle Werte schaffend, die
Handarbeit durch Maschinenarbeit ersetzend, den Raum überwindend, die Zeit


Grenzboten I 1395 52
Die Wissenschaft

die Ergebnisse, die die Einzelmissenschaften, die Naturwissenschaften im engern
Sinne (Chemie, Physik u. f. w.), die Psychologie, die Mathematik n. s. w.
gewonnen hatten, unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen suchte,
um von ihm ans eine ursächliche Erklärung der Welt und ihres Inhalts zu
geben, um deu Wissensdrang der Menschheit, ihr Kausalitätsbedürfnis zu. be¬
friedigen; sodann, indem sie, von einem allgemeinen, nicht aus der Erfahrung,
sondern dnrch das sogenannte reine Denken gewonnenen Satz als oberstem
Prinzip ausgehend, die gesamte Natur aus diesem Satz zu erklären und ab¬
zuleiten versuchte. Bezeichnen wir die erste Methode als empirische Philo¬
sophie (Naturwissenschaften), die zweite als rationale (Metaphysik), so liegt in
diesen Bezeichnungen zugleich der wesentliche Unterschied ausgesprochen, der
beide trennt, der sich aber nicht auf den Inhalt, sondern lediglich auf die
Methode bezieht, die zur Ermittlung des Inhalts verwandt wird.

Die Herrschaft führte bis zum Beginn unsers Jahrhunderts und darüber
hinaus die Metaphysik, und zwar in so hohem Maße, daß die exakten Wissen¬
schaften gegenüber deu sogenannten Geisteswissenschaften nur als ganz unter¬
geordnete Hilfswissenschaften anerkannt wurden. So nennt sich noch Schopen¬
hauer einen Montblanc gegenüber einem Maulwurfshaufen, wenn er sich mit
einem Naturforscher vergleicht, und Friedrich Albert Lange schildert den Wert,
den sich die MetaPhysiker gegenüber den Empirikern beilegte», mit folgenden
Worten: „Der Hegelianer schreibt zwar dem Herbarticmer ein nnvollkomm-
neres Wissen zu als sich selbst, und umgekehrt; aber keiner nimmt Anstand,
das Wissen des andern gegenüber dem des Empirilers als ein höheres und
wenigstens als eine Annäherung an das allein wahre Wissen anzuerkennen."
Dieses Verhältnis änderte sich jedoch in der letzten Hälfte unsers Jahrhunderts
aus einem innern und aus einem äußern Grunde bis zur völligen Umkehrung.
Der innere Grund liegt in der allmählich zum Durchbruch und zur Geltung
gekommnen Philosophie Kants, der in seiner „Kritik der reinen Vernunft" nach¬
gewiesen hatte, daß der menschliche Geist nicht über die aus der reinen Er¬
fahrung gewonnenen Schlüsse hinausköune, und daß sämtliche metaphysischen
auf Deduktion beruhenden Systeme der Vergangenheit Trugbilder seien, und
der so den Anstoß gab zu den erkenntnistheoretischen Studien, die in der
Aufstellung der induktiven Forschungsiuethvde als allein berechtigter Grund¬
lage für die Erkenntnis der Natur ihren Abschluß fanden. Der änßere Grund
liegt in deu großartigen Entdeckungen der Naturwissenschaft, die sich der in¬
duktiven Methode bemächtigte, sie nach allen Richtungen ausbildete, auf nlleu
Gebieten des Wissens anwandte und mit ihr die bewundrungswürdigen Er¬
folge errang, die das Leben des Einzelnen wie das der Völker ans dem Gebiet
der physischen Arbeit wie in der Kunst, der Wissenschaft und der Litteratur
von Grund aus umgestalteten. Ungeheure materielle Werte schaffend, die
Handarbeit durch Maschinenarbeit ersetzend, den Raum überwindend, die Zeit


Grenzboten I 1395 52
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[0419] Die Wissenschaft die Ergebnisse, die die Einzelmissenschaften, die Naturwissenschaften im engern Sinne (Chemie, Physik u. f. w.), die Psychologie, die Mathematik n. s. w. gewonnen hatten, unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen suchte, um von ihm ans eine ursächliche Erklärung der Welt und ihres Inhalts zu geben, um deu Wissensdrang der Menschheit, ihr Kausalitätsbedürfnis zu. be¬ friedigen; sodann, indem sie, von einem allgemeinen, nicht aus der Erfahrung, sondern dnrch das sogenannte reine Denken gewonnenen Satz als oberstem Prinzip ausgehend, die gesamte Natur aus diesem Satz zu erklären und ab¬ zuleiten versuchte. Bezeichnen wir die erste Methode als empirische Philo¬ sophie (Naturwissenschaften), die zweite als rationale (Metaphysik), so liegt in diesen Bezeichnungen zugleich der wesentliche Unterschied ausgesprochen, der beide trennt, der sich aber nicht auf den Inhalt, sondern lediglich auf die Methode bezieht, die zur Ermittlung des Inhalts verwandt wird. Die Herrschaft führte bis zum Beginn unsers Jahrhunderts und darüber hinaus die Metaphysik, und zwar in so hohem Maße, daß die exakten Wissen¬ schaften gegenüber deu sogenannten Geisteswissenschaften nur als ganz unter¬ geordnete Hilfswissenschaften anerkannt wurden. So nennt sich noch Schopen¬ hauer einen Montblanc gegenüber einem Maulwurfshaufen, wenn er sich mit einem Naturforscher vergleicht, und Friedrich Albert Lange schildert den Wert, den sich die MetaPhysiker gegenüber den Empirikern beilegte», mit folgenden Worten: „Der Hegelianer schreibt zwar dem Herbarticmer ein nnvollkomm- neres Wissen zu als sich selbst, und umgekehrt; aber keiner nimmt Anstand, das Wissen des andern gegenüber dem des Empirilers als ein höheres und wenigstens als eine Annäherung an das allein wahre Wissen anzuerkennen." Dieses Verhältnis änderte sich jedoch in der letzten Hälfte unsers Jahrhunderts aus einem innern und aus einem äußern Grunde bis zur völligen Umkehrung. Der innere Grund liegt in der allmählich zum Durchbruch und zur Geltung gekommnen Philosophie Kants, der in seiner „Kritik der reinen Vernunft" nach¬ gewiesen hatte, daß der menschliche Geist nicht über die aus der reinen Er¬ fahrung gewonnenen Schlüsse hinausköune, und daß sämtliche metaphysischen auf Deduktion beruhenden Systeme der Vergangenheit Trugbilder seien, und der so den Anstoß gab zu den erkenntnistheoretischen Studien, die in der Aufstellung der induktiven Forschungsiuethvde als allein berechtigter Grund¬ lage für die Erkenntnis der Natur ihren Abschluß fanden. Der änßere Grund liegt in deu großartigen Entdeckungen der Naturwissenschaft, die sich der in¬ duktiven Methode bemächtigte, sie nach allen Richtungen ausbildete, auf nlleu Gebieten des Wissens anwandte und mit ihr die bewundrungswürdigen Er¬ folge errang, die das Leben des Einzelnen wie das der Völker ans dem Gebiet der physischen Arbeit wie in der Kunst, der Wissenschaft und der Litteratur von Grund aus umgestalteten. Ungeheure materielle Werte schaffend, die Handarbeit durch Maschinenarbeit ersetzend, den Raum überwindend, die Zeit Grenzboten I 1395 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/419>, abgerufen am 22.07.2024.