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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft

komme ich ohne weiteres zu der Erkenntnis, daß er nicht nur hinkt, sondern
ganz ohne Beine geboren ist, und es ergreift mich die Furcht, daß ich mit
solchen Zumutungen dem Denkvermögen des Herrn Rosenberg schweres Unrecht
thue. Ich schlage daher einen andern Weg der Prüfung ein und versuche,
seine bildliche Ausdrucksweise ihres anthropomorphen Gewandes zu entkleiden,
und da finde ich dann folgenden rettenden Ausweg: Herr Rosenberg hat
lediglich sagen wollen, die Wissenschaft habe feit ihrem Bestehen eine von Zeit
und Ort, ja sogar von ihren Bearbeitern unabhängige Entwicklung genommen.
In dieser Fassung ist wenigstens der Hauptsatz, daß sich die Wissenschaft ent¬
wickelt habe, richtig, wenn auch sehr trivial; über die Abhängigkeit oder Un¬
abhängigkeit ihrer Entwicklung von Raum und Zeit ließe sich eine ungeheure
Masse leeres Stroh dreschen, selbst wenn man als Vertreter der einen Ansicht
nur Taine oder Zola, als Vertreter der andern mir einen einzigen, beliebigen
MetaPhysiker ausschlachten wollte; dagegen ließe sich ihre volle Abhängigkeit
von den "Arbeitern," im Gegensatz zu Herrn Rosenbergs Annahme, recht leicht an
tausend Beispielen aus der Geschichte der "Wissenschaft" nachweisen. Wollte man
freilich bei diesem Nachweise einfach von der "Wissenschaft" sprechen, so würde
man sehr bald zu der Überzeugung kommen, daß man, um in diesem Irrgarten
den Ariadnefaden zu finden, zuerst den Begriff der Wissenschaft definiren müsse;
und bei dem Versuche dazu würde man, sonderbarerweise sogar auf dem Wege
der Induktion, zu dem Ergebnis kommen, daß diese Definition ganz außer¬
ordentlich verschieden ausfiele, je nachdem man die "Wissenschaft" des zehnten
oder des achtzehnten oder des neunzehnten oder eines beliebigen andern Jahr¬
hunderts zu Grunde legte. Im allgemeinen würde man finden, daß man für
frühere Zeiten die Begriffe der Philosophie und der Metaphysik, für unser
Jahrhundert dagegen den Begriff der Naturwissenschaft, sehr oft aber auch
einen ganz undefinirbaren Mischbegriff an seine Stelle setzen muß. Liegt aber
in dieser Notwendigkeit allein schon der Beweis, daß die "Wissenschaft" kein
selbständiger, sich nach eignen ihm innewohnenden Gesetzen entwickelnder Or¬
ganismus, sondern an sich ein ganz leerer Begriff, ein Abstraktum ist, das erst
Inhalt bekommt durch das, was von den in der Wissenschaft thätigen Arbeitern
hineingelegt wird, so ergiebt die Prüfung dieses von den Arbeitern hinein¬
gelegten Inhalts aufs schlagendste, daß es gar keine einheitliche, deshalb auch
keine selbständige Wissenschaft im Sinne Nosenbergs giebt, sondern, je nach
der Gedankenarbeit, die der menschliche Geist im Laufe der Jahrhunderte, vor-
und rückwärtsschreitend oder sich im Kreise drehend, geleistet hat, eine mit
dem jeweiligen Zustande des wirklichen oder eingebildeten Wissens mehr oder
weniger harmonirende, aber immer von ihr abhängige und mit ihr wechselnde,
auf irgend ein allgemeines Prinzip zurückgeführte Auffassung der Natur und
ihres Gesamtinhalts. Die Formulirung dieser Auffassung war die Aufgabe
der Philosophie: sie suchte sie in doppelter Weise zu lösen, erstens, indem sie


Die Wissenschaft

komme ich ohne weiteres zu der Erkenntnis, daß er nicht nur hinkt, sondern
ganz ohne Beine geboren ist, und es ergreift mich die Furcht, daß ich mit
solchen Zumutungen dem Denkvermögen des Herrn Rosenberg schweres Unrecht
thue. Ich schlage daher einen andern Weg der Prüfung ein und versuche,
seine bildliche Ausdrucksweise ihres anthropomorphen Gewandes zu entkleiden,
und da finde ich dann folgenden rettenden Ausweg: Herr Rosenberg hat
lediglich sagen wollen, die Wissenschaft habe feit ihrem Bestehen eine von Zeit
und Ort, ja sogar von ihren Bearbeitern unabhängige Entwicklung genommen.
In dieser Fassung ist wenigstens der Hauptsatz, daß sich die Wissenschaft ent¬
wickelt habe, richtig, wenn auch sehr trivial; über die Abhängigkeit oder Un¬
abhängigkeit ihrer Entwicklung von Raum und Zeit ließe sich eine ungeheure
Masse leeres Stroh dreschen, selbst wenn man als Vertreter der einen Ansicht
nur Taine oder Zola, als Vertreter der andern mir einen einzigen, beliebigen
MetaPhysiker ausschlachten wollte; dagegen ließe sich ihre volle Abhängigkeit
von den „Arbeitern," im Gegensatz zu Herrn Rosenbergs Annahme, recht leicht an
tausend Beispielen aus der Geschichte der „Wissenschaft" nachweisen. Wollte man
freilich bei diesem Nachweise einfach von der „Wissenschaft" sprechen, so würde
man sehr bald zu der Überzeugung kommen, daß man, um in diesem Irrgarten
den Ariadnefaden zu finden, zuerst den Begriff der Wissenschaft definiren müsse;
und bei dem Versuche dazu würde man, sonderbarerweise sogar auf dem Wege
der Induktion, zu dem Ergebnis kommen, daß diese Definition ganz außer¬
ordentlich verschieden ausfiele, je nachdem man die „Wissenschaft" des zehnten
oder des achtzehnten oder des neunzehnten oder eines beliebigen andern Jahr¬
hunderts zu Grunde legte. Im allgemeinen würde man finden, daß man für
frühere Zeiten die Begriffe der Philosophie und der Metaphysik, für unser
Jahrhundert dagegen den Begriff der Naturwissenschaft, sehr oft aber auch
einen ganz undefinirbaren Mischbegriff an seine Stelle setzen muß. Liegt aber
in dieser Notwendigkeit allein schon der Beweis, daß die „Wissenschaft" kein
selbständiger, sich nach eignen ihm innewohnenden Gesetzen entwickelnder Or¬
ganismus, sondern an sich ein ganz leerer Begriff, ein Abstraktum ist, das erst
Inhalt bekommt durch das, was von den in der Wissenschaft thätigen Arbeitern
hineingelegt wird, so ergiebt die Prüfung dieses von den Arbeitern hinein¬
gelegten Inhalts aufs schlagendste, daß es gar keine einheitliche, deshalb auch
keine selbständige Wissenschaft im Sinne Nosenbergs giebt, sondern, je nach
der Gedankenarbeit, die der menschliche Geist im Laufe der Jahrhunderte, vor-
und rückwärtsschreitend oder sich im Kreise drehend, geleistet hat, eine mit
dem jeweiligen Zustande des wirklichen oder eingebildeten Wissens mehr oder
weniger harmonirende, aber immer von ihr abhängige und mit ihr wechselnde,
auf irgend ein allgemeines Prinzip zurückgeführte Auffassung der Natur und
ihres Gesamtinhalts. Die Formulirung dieser Auffassung war die Aufgabe
der Philosophie: sie suchte sie in doppelter Weise zu lösen, erstens, indem sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/418>, abgerufen am 22.07.2024.