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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Eine Rechtfertigung der theologischen Misseiischaft

wenn sie auch mir eine Spur davon gewußt hätten. Es bleibt also dabei:
ist Jesus vom Hause Davids, so ist er Josephs Sohn, und beides ist er nach
dem Glauben der ältesten Christen gewesen. Aber schon eine sehr frühe Zeit
ist aus irgend welchen Gründen dazu gelaugt, nu diesem Glaube" Anstoß zu
nehmen; ein Beweis dafür ist der heutige Stammbaum mit seiner Korrektur am
Schluß, die doch den Sinn und Zweck des ganze" Werkes aufhebt.

Dieser Thatbestand war von der unbefangne" Forschung längst erkannt
und ausgesprochen. Nun hat die auf dem Wege logischer Schlußfolgerung
gewonnene Erkenntnis die unerwartete äußere Bestätigung durch den sinaitischen
Fund erhalten. Dieser Vorfall ist gewiß geeignet, das Vertrauen auf die
Sicherheit der Methode unsrer kritische" Arbeit am Neue" Testament zu be¬
festigen, und wenn man bedenkt, wie viel überraschende Funde auf dem Gebiete
der altchristlichen Litteratur die neuere Zeit erlebt hat, so kann man hoffen,
daß vielleicht noch einmal eine aus dem Grabe hervorgezogne Schrift el"
Wort aus der christliche" Urzeit i" die Kämpfe der Gegenwart hineinrufe"
wird, den suchenden Geistern eine Ermutigung, auf ihrem Wege fortzuschreiten,
eine Mahnung zur Umkehr aber für solche, die die Geschichte durch das Dogma
meistern wollen.

Man müßte freilich die Theologie nicht keime", we"n um" erwarte" wollte,
daß der Ausdruck "geboren von der Jungfrau" nun werde freigegeben werden.
Das wird noch lange nicht geschehen, es würde aber auch nicht geschehe",
wenn ein Engel vom Himmel käme, es zu verkündige". Aber was nicht aus¬
bleiben kann, ist das, daß der Baum der christlichen Denkfreiheit eine "e"e
und starke Wurzel in den langsam vor ihrem Wachstum berstenden Stein
hineintreiben wird, unter dem die christliche Religion in einem dumpfen Ge¬
wölbe gefangen gehalten werden soll, weil man meint, sie könne Licht und Luft
nicht ertragen.

Aber wir sind den Lesern noch einige Worte über den syrischen Matthäus¬
vers schuldig. Aus dem bisher Gesagten geht wohl genügend deutlich hervor,
daß er in der uns vorliegenden Gestalt zwei Bestandteile von verschiednen
Alter und Charakter enthält: die Aussage, Jesus sei von einem menschlichen
Vater erzeugt worden, und die Andeutung der jungfräuliche" Geburt. Daß
der zweite der jüngere Bestandteil ist, bedarf wohl keiner weitern Ausführung;
es drängen sich nur noch zwei Fragen auf. 1. Wenn die ältesten Christen
an die natürliche Erzengmig glauben, wie kam dann die spätere Zeit auf den
Gedanken der jungfräulichen Geburt? und 2. Wenn die altsyrische Form
von Matth. 1, >16 schon durch den Glauben an die jungfräuliche Geburt be¬
einflußt ist, wie konnte man sich dann mit einer so ungenügenden, zweifel¬
haften Form des Ausdrucks für diese neue Erkenntnis begnügen? Beide Fragen
können hier nicht erschöpfend beantwortet werden, doch mögen wenigstens einige
Andeutungen auf den richtigen Weg weisen.


Eine Rechtfertigung der theologischen Misseiischaft

wenn sie auch mir eine Spur davon gewußt hätten. Es bleibt also dabei:
ist Jesus vom Hause Davids, so ist er Josephs Sohn, und beides ist er nach
dem Glauben der ältesten Christen gewesen. Aber schon eine sehr frühe Zeit
ist aus irgend welchen Gründen dazu gelaugt, nu diesem Glaube» Anstoß zu
nehmen; ein Beweis dafür ist der heutige Stammbaum mit seiner Korrektur am
Schluß, die doch den Sinn und Zweck des ganze» Werkes aufhebt.

Dieser Thatbestand war von der unbefangne» Forschung längst erkannt
und ausgesprochen. Nun hat die auf dem Wege logischer Schlußfolgerung
gewonnene Erkenntnis die unerwartete äußere Bestätigung durch den sinaitischen
Fund erhalten. Dieser Vorfall ist gewiß geeignet, das Vertrauen auf die
Sicherheit der Methode unsrer kritische» Arbeit am Neue» Testament zu be¬
festigen, und wenn man bedenkt, wie viel überraschende Funde auf dem Gebiete
der altchristlichen Litteratur die neuere Zeit erlebt hat, so kann man hoffen,
daß vielleicht noch einmal eine aus dem Grabe hervorgezogne Schrift el»
Wort aus der christliche» Urzeit i» die Kämpfe der Gegenwart hineinrufe»
wird, den suchenden Geistern eine Ermutigung, auf ihrem Wege fortzuschreiten,
eine Mahnung zur Umkehr aber für solche, die die Geschichte durch das Dogma
meistern wollen.

Man müßte freilich die Theologie nicht keime», we»n um» erwarte» wollte,
daß der Ausdruck „geboren von der Jungfrau" nun werde freigegeben werden.
Das wird noch lange nicht geschehen, es würde aber auch nicht geschehe»,
wenn ein Engel vom Himmel käme, es zu verkündige». Aber was nicht aus¬
bleiben kann, ist das, daß der Baum der christlichen Denkfreiheit eine »e»e
und starke Wurzel in den langsam vor ihrem Wachstum berstenden Stein
hineintreiben wird, unter dem die christliche Religion in einem dumpfen Ge¬
wölbe gefangen gehalten werden soll, weil man meint, sie könne Licht und Luft
nicht ertragen.

Aber wir sind den Lesern noch einige Worte über den syrischen Matthäus¬
vers schuldig. Aus dem bisher Gesagten geht wohl genügend deutlich hervor,
daß er in der uns vorliegenden Gestalt zwei Bestandteile von verschiednen
Alter und Charakter enthält: die Aussage, Jesus sei von einem menschlichen
Vater erzeugt worden, und die Andeutung der jungfräuliche» Geburt. Daß
der zweite der jüngere Bestandteil ist, bedarf wohl keiner weitern Ausführung;
es drängen sich nur noch zwei Fragen auf. 1. Wenn die ältesten Christen
an die natürliche Erzengmig glauben, wie kam dann die spätere Zeit auf den
Gedanken der jungfräulichen Geburt? und 2. Wenn die altsyrische Form
von Matth. 1, >16 schon durch den Glauben an die jungfräuliche Geburt be¬
einflußt ist, wie konnte man sich dann mit einer so ungenügenden, zweifel¬
haften Form des Ausdrucks für diese neue Erkenntnis begnügen? Beide Fragen
können hier nicht erschöpfend beantwortet werden, doch mögen wenigstens einige
Andeutungen auf den richtigen Weg weisen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/384>, abgerufen am 23.07.2024.