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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Line Rechtfertigung der theologischen Wissenschaft

Der Glaube an die wunderbare Geburt Jesu ist wahrscheinlich sehr früh
entstanden, Paulus allerdings scheint ihn noch nicht mit Bestimmtheit zu
haben, und uoch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts gab es Christen,
die als solche anerkannt wurden und ihn nicht teilten. Bald darauf aber
wurde ein solcher Standpunkt schlechthin zur Ketzerei. Beachtet zu werden
verdient, daß Joseph allem Anschein nach schon lange tot war, als Jesus
öffentlich auftrat, also niemand den Vater kannte. Die eigentliche Wurzel des
Glaubens ist aber eine doppelte. Erstens gab es eine bestimmt^ Richtung
innerhalb der jüdischen Religionsphilosophie, die mich den alttestamentlichen
Patriarchen in allegvrisireuder Weise übernatürliche Geburt zuschrieb, wie denu
überhaupt die vaterlose Erzeugung großer religiöser Persönlichkeiten in der
Mythologie vieler Völker wiederkehrt. Sodann aber gab auch eine von den
Christen auf den Messias gedeutete Stelle des Alten Testaments Anlaß dazu.
Es sind die Worte Jesnias 7, 14: "Siehe eine Jungfrau wird schwanger
werden und einen Sohn gebären, den sollst du heißen Immanuel." Die Sep-
tuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, hat das betreffende
hebräische Wort als "Jungfrau" gefaßt, und nach ihr auch die lateinische
Vulgata und Luther; es heißt aber gar nicht "Jungfrau," sondern "junges
Weib," ohne Rücksicht auf Jungfräulichkeit im natürlichen Sinne. Weil man
aber sehr bald nur noch die Septuaginta gebrauchte, so setzte sich das Mi߬
verständnis fest, und es findet sich bekanntlich schon Mutes. 1, 22, W ver¬
wertet, wo nach der Erzählung der jungfräulichen Geburt auf die Jesaias-
stelle hingewiesen wird: "Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllet würde,
was vom Herrn durch den Propheten gesagt ist." Thatsächlich ist der Weg
der umgekehrte gewesen: aus der vermeintlichen Prophezeiung erschloß man erst
das Vorkommnis.

Über den andern Punkt, die Mannhaftigkeit des Ausdrucks im syrischen
Text, kann man nur sage", daß hier eine "och nicht ganz gelöste Frage vor¬
liegt. Da es Evangelienhandschriften giebt, die erst hinter dein Stammbaum,
bei Vers 18 des ersten Kapitels, die Bemerkung haben: "Hier sängt das
Evangelium nach Matthäus an," so läge es am nächsten, anzunehmen, daß
der Verfasser sei" Buch uoch gar nicht mit dem Staimnbanm ausgestattet habe,
sondern dieser erst nachträglich von einem Ergänzer des Evangeliums hinzu¬
gefügt worden sei, der zu ängstlich oder zu ungeschickt war, den verhängnis¬
vollen Schluß durchgreifend zu ändern, und sich mit einer halben Andeutung
des wahren Hergangs begnügte. Dem Verfasser selbst ist so etwas doch nicht
leicht zuzutrauen. Bemerkenswert ist außerdem, daß mau an verschiednen Hand¬
schriften noch heute beobachten k"nu, wie sich der altsyrische Text allmählich
in den uns geläufigen verwandelt hat. Er war eben zu ungeschickt, um auf
die Dauer ertragen zu werden. Doch hat hier die Forschung noch nicht das


Line Rechtfertigung der theologischen Wissenschaft

Der Glaube an die wunderbare Geburt Jesu ist wahrscheinlich sehr früh
entstanden, Paulus allerdings scheint ihn noch nicht mit Bestimmtheit zu
haben, und uoch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts gab es Christen,
die als solche anerkannt wurden und ihn nicht teilten. Bald darauf aber
wurde ein solcher Standpunkt schlechthin zur Ketzerei. Beachtet zu werden
verdient, daß Joseph allem Anschein nach schon lange tot war, als Jesus
öffentlich auftrat, also niemand den Vater kannte. Die eigentliche Wurzel des
Glaubens ist aber eine doppelte. Erstens gab es eine bestimmt^ Richtung
innerhalb der jüdischen Religionsphilosophie, die mich den alttestamentlichen
Patriarchen in allegvrisireuder Weise übernatürliche Geburt zuschrieb, wie denu
überhaupt die vaterlose Erzeugung großer religiöser Persönlichkeiten in der
Mythologie vieler Völker wiederkehrt. Sodann aber gab auch eine von den
Christen auf den Messias gedeutete Stelle des Alten Testaments Anlaß dazu.
Es sind die Worte Jesnias 7, 14: „Siehe eine Jungfrau wird schwanger
werden und einen Sohn gebären, den sollst du heißen Immanuel." Die Sep-
tuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, hat das betreffende
hebräische Wort als „Jungfrau" gefaßt, und nach ihr auch die lateinische
Vulgata und Luther; es heißt aber gar nicht „Jungfrau," sondern »junges
Weib," ohne Rücksicht auf Jungfräulichkeit im natürlichen Sinne. Weil man
aber sehr bald nur noch die Septuaginta gebrauchte, so setzte sich das Mi߬
verständnis fest, und es findet sich bekanntlich schon Mutes. 1, 22, W ver¬
wertet, wo nach der Erzählung der jungfräulichen Geburt auf die Jesaias-
stelle hingewiesen wird: „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllet würde,
was vom Herrn durch den Propheten gesagt ist." Thatsächlich ist der Weg
der umgekehrte gewesen: aus der vermeintlichen Prophezeiung erschloß man erst
das Vorkommnis.

Über den andern Punkt, die Mannhaftigkeit des Ausdrucks im syrischen
Text, kann man nur sage», daß hier eine »och nicht ganz gelöste Frage vor¬
liegt. Da es Evangelienhandschriften giebt, die erst hinter dein Stammbaum,
bei Vers 18 des ersten Kapitels, die Bemerkung haben: „Hier sängt das
Evangelium nach Matthäus an," so läge es am nächsten, anzunehmen, daß
der Verfasser sei» Buch uoch gar nicht mit dem Staimnbanm ausgestattet habe,
sondern dieser erst nachträglich von einem Ergänzer des Evangeliums hinzu¬
gefügt worden sei, der zu ängstlich oder zu ungeschickt war, den verhängnis¬
vollen Schluß durchgreifend zu ändern, und sich mit einer halben Andeutung
des wahren Hergangs begnügte. Dem Verfasser selbst ist so etwas doch nicht
leicht zuzutrauen. Bemerkenswert ist außerdem, daß mau an verschiednen Hand¬
schriften noch heute beobachten k«nu, wie sich der altsyrische Text allmählich
in den uns geläufigen verwandelt hat. Er war eben zu ungeschickt, um auf
die Dauer ertragen zu werden. Doch hat hier die Forschung noch nicht das


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[0385] Line Rechtfertigung der theologischen Wissenschaft Der Glaube an die wunderbare Geburt Jesu ist wahrscheinlich sehr früh entstanden, Paulus allerdings scheint ihn noch nicht mit Bestimmtheit zu haben, und uoch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts gab es Christen, die als solche anerkannt wurden und ihn nicht teilten. Bald darauf aber wurde ein solcher Standpunkt schlechthin zur Ketzerei. Beachtet zu werden verdient, daß Joseph allem Anschein nach schon lange tot war, als Jesus öffentlich auftrat, also niemand den Vater kannte. Die eigentliche Wurzel des Glaubens ist aber eine doppelte. Erstens gab es eine bestimmt^ Richtung innerhalb der jüdischen Religionsphilosophie, die mich den alttestamentlichen Patriarchen in allegvrisireuder Weise übernatürliche Geburt zuschrieb, wie denu überhaupt die vaterlose Erzeugung großer religiöser Persönlichkeiten in der Mythologie vieler Völker wiederkehrt. Sodann aber gab auch eine von den Christen auf den Messias gedeutete Stelle des Alten Testaments Anlaß dazu. Es sind die Worte Jesnias 7, 14: „Siehe eine Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, den sollst du heißen Immanuel." Die Sep- tuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, hat das betreffende hebräische Wort als „Jungfrau" gefaßt, und nach ihr auch die lateinische Vulgata und Luther; es heißt aber gar nicht „Jungfrau," sondern »junges Weib," ohne Rücksicht auf Jungfräulichkeit im natürlichen Sinne. Weil man aber sehr bald nur noch die Septuaginta gebrauchte, so setzte sich das Mi߬ verständnis fest, und es findet sich bekanntlich schon Mutes. 1, 22, W ver¬ wertet, wo nach der Erzählung der jungfräulichen Geburt auf die Jesaias- stelle hingewiesen wird: „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllet würde, was vom Herrn durch den Propheten gesagt ist." Thatsächlich ist der Weg der umgekehrte gewesen: aus der vermeintlichen Prophezeiung erschloß man erst das Vorkommnis. Über den andern Punkt, die Mannhaftigkeit des Ausdrucks im syrischen Text, kann man nur sage», daß hier eine »och nicht ganz gelöste Frage vor¬ liegt. Da es Evangelienhandschriften giebt, die erst hinter dein Stammbaum, bei Vers 18 des ersten Kapitels, die Bemerkung haben: „Hier sängt das Evangelium nach Matthäus an," so läge es am nächsten, anzunehmen, daß der Verfasser sei» Buch uoch gar nicht mit dem Staimnbanm ausgestattet habe, sondern dieser erst nachträglich von einem Ergänzer des Evangeliums hinzu¬ gefügt worden sei, der zu ängstlich oder zu ungeschickt war, den verhängnis¬ vollen Schluß durchgreifend zu ändern, und sich mit einer halben Andeutung des wahren Hergangs begnügte. Dem Verfasser selbst ist so etwas doch nicht leicht zuzutrauen. Bemerkenswert ist außerdem, daß mau an verschiednen Hand¬ schriften noch heute beobachten k«nu, wie sich der altsyrische Text allmählich in den uns geläufigen verwandelt hat. Er war eben zu ungeschickt, um auf die Dauer ertragen zu werden. Doch hat hier die Forschung noch nicht das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/385>, abgerufen am 23.07.2024.