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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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^u"-' Rechtfertigung der theologische" ivisseuschaft

Religion gelten muß. Durch die unvermutete Auffindung einer sehr alten
syrischen Evangelieuübersetzuug im Kloster der heiligen Katharina auf dem
Simri ist die älteste Textgestalt des Verses Matthäus 1, 16 bekannt geworden:
"Jakob zeugte Joseph, Joseph, dem Maria, die Jungfrau, verlobt war, zeugte
Jesus, der Christus heißt." Diese Worte bilden hier den Schluß des Geschlechts¬
registers Jesu, das bekanntlich dem Matthäusevangelium vorangestellt ist.

Es ist begreiflich, daß diese Entdeckung zunächst mit Vorsicht aufgenommen
wurde; man schien geneigt, anzunehmen, daß eine nltchristliche Sekte, die so¬
genannten Ebioniten, an dem unerhörten Text schuld seien. Die Ebioniten
waren strenge Judenchristen und glaubten nicht an die jungfräuliche Geburt.
Es schien also möglich, daß sie den Vers in ihrem Sinne gestaltet hätten.
Daran ist aber gar nicht zu denken. Zunächst ist nicht abzusehen, was die
"Jungfrau" Maria bedeuten soll, wenn die Jungfräulichkeit bestritten werden
sollte; sodann aber, und das ist entscheidend, folgt gleich darauf die bekannte
Erzählung von Josephs Traum, Matthäus 1, 18 bis 25, die gerade das Wunder
bei der Geburt zum Gegenstande hat. Es bleibt, so seltsam es scheint, nichts
weiter übrig, als anzunehmen, daß der neuentdeckte syrische Text von Matth. 1, 16
die jungfräuliche Geburt nicht verneinen, sondern bezeugen soll; denn man
kann es weder dem Verfasser des Evangeliums, uoch einem vielleicht anzuneh¬
menden spätern Vervollstäudiger zutrauen, daß er sich mit Bewußtsein inner¬
halb weniger Zeilen widersprochen habe.

Ist aber diese Schlußfolgerung unzweifelhaft richtig, so wird man auch
einer andern nicht entgehen können: kein Mensch und am allerwenigsten der
gar nicht ungeschickte Verfasser des Matthäusevangeliums wird sich aus freien
Stücken so ausdrücken, wie der syrische Text lautet, wenn er von der jung¬
fräulichen Geburt reden will. Was dn steht, ist im Grunde Unsinn, oder es
müßte so verstanden werden, als ob Joseph Wohl Jesus gezeugt habe, aber
keineswegs von der Maria, die damals zwar mit ihm verlobt, aber noch Jung¬
frau gewesen wäre. Natürlich soll das uicht gesagt sein, aber der Ausdruck ist
im höchsten Grade sonderbar und irreführend, wenn daneben die wunderbare
Geburt Jesu aus Maria der Jungfrau bestehen bleiben soll. Folglich ist der
Schreiber nicht frei gewesen, sondern er hat, als er den Schluß des Geschlechts¬
registers schrieb, eine bestimmte Vorlage gehabt, deren Wortlaut ihn zu einer
so eigentümlichen Ausdrucksweise nötigte.

Welcher Art ist nun diese Vorlage gewesen? wie hat sie gelautet? Offenbar
war es einer jener gesonderten Stammbäume Jesu, die es mit Bestimmtheit
unter den ältesten Christen auf jüdischem Boden gegeben hat. Diesen ältesten
Christen war Jesus der Christus, der Messias, und als solcher mußte er allen
Anforderungen an einen Messias genügen. Nun galt es als sicher, daß der
Messias aus Abrahams Samen und aus Davids Stamm kommen würde.
Wer also an Jesus als an den Messias glaubte, mußte das von dieser ge-


^u»-' Rechtfertigung der theologische» ivisseuschaft

Religion gelten muß. Durch die unvermutete Auffindung einer sehr alten
syrischen Evangelieuübersetzuug im Kloster der heiligen Katharina auf dem
Simri ist die älteste Textgestalt des Verses Matthäus 1, 16 bekannt geworden:
„Jakob zeugte Joseph, Joseph, dem Maria, die Jungfrau, verlobt war, zeugte
Jesus, der Christus heißt." Diese Worte bilden hier den Schluß des Geschlechts¬
registers Jesu, das bekanntlich dem Matthäusevangelium vorangestellt ist.

Es ist begreiflich, daß diese Entdeckung zunächst mit Vorsicht aufgenommen
wurde; man schien geneigt, anzunehmen, daß eine nltchristliche Sekte, die so¬
genannten Ebioniten, an dem unerhörten Text schuld seien. Die Ebioniten
waren strenge Judenchristen und glaubten nicht an die jungfräuliche Geburt.
Es schien also möglich, daß sie den Vers in ihrem Sinne gestaltet hätten.
Daran ist aber gar nicht zu denken. Zunächst ist nicht abzusehen, was die
„Jungfrau" Maria bedeuten soll, wenn die Jungfräulichkeit bestritten werden
sollte; sodann aber, und das ist entscheidend, folgt gleich darauf die bekannte
Erzählung von Josephs Traum, Matthäus 1, 18 bis 25, die gerade das Wunder
bei der Geburt zum Gegenstande hat. Es bleibt, so seltsam es scheint, nichts
weiter übrig, als anzunehmen, daß der neuentdeckte syrische Text von Matth. 1, 16
die jungfräuliche Geburt nicht verneinen, sondern bezeugen soll; denn man
kann es weder dem Verfasser des Evangeliums, uoch einem vielleicht anzuneh¬
menden spätern Vervollstäudiger zutrauen, daß er sich mit Bewußtsein inner¬
halb weniger Zeilen widersprochen habe.

Ist aber diese Schlußfolgerung unzweifelhaft richtig, so wird man auch
einer andern nicht entgehen können: kein Mensch und am allerwenigsten der
gar nicht ungeschickte Verfasser des Matthäusevangeliums wird sich aus freien
Stücken so ausdrücken, wie der syrische Text lautet, wenn er von der jung¬
fräulichen Geburt reden will. Was dn steht, ist im Grunde Unsinn, oder es
müßte so verstanden werden, als ob Joseph Wohl Jesus gezeugt habe, aber
keineswegs von der Maria, die damals zwar mit ihm verlobt, aber noch Jung¬
frau gewesen wäre. Natürlich soll das uicht gesagt sein, aber der Ausdruck ist
im höchsten Grade sonderbar und irreführend, wenn daneben die wunderbare
Geburt Jesu aus Maria der Jungfrau bestehen bleiben soll. Folglich ist der
Schreiber nicht frei gewesen, sondern er hat, als er den Schluß des Geschlechts¬
registers schrieb, eine bestimmte Vorlage gehabt, deren Wortlaut ihn zu einer
so eigentümlichen Ausdrucksweise nötigte.

Welcher Art ist nun diese Vorlage gewesen? wie hat sie gelautet? Offenbar
war es einer jener gesonderten Stammbäume Jesu, die es mit Bestimmtheit
unter den ältesten Christen auf jüdischem Boden gegeben hat. Diesen ältesten
Christen war Jesus der Christus, der Messias, und als solcher mußte er allen
Anforderungen an einen Messias genügen. Nun galt es als sicher, daß der
Messias aus Abrahams Samen und aus Davids Stamm kommen würde.
Wer also an Jesus als an den Messias glaubte, mußte das von dieser ge-


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[0382] ^u»-' Rechtfertigung der theologische» ivisseuschaft Religion gelten muß. Durch die unvermutete Auffindung einer sehr alten syrischen Evangelieuübersetzuug im Kloster der heiligen Katharina auf dem Simri ist die älteste Textgestalt des Verses Matthäus 1, 16 bekannt geworden: „Jakob zeugte Joseph, Joseph, dem Maria, die Jungfrau, verlobt war, zeugte Jesus, der Christus heißt." Diese Worte bilden hier den Schluß des Geschlechts¬ registers Jesu, das bekanntlich dem Matthäusevangelium vorangestellt ist. Es ist begreiflich, daß diese Entdeckung zunächst mit Vorsicht aufgenommen wurde; man schien geneigt, anzunehmen, daß eine nltchristliche Sekte, die so¬ genannten Ebioniten, an dem unerhörten Text schuld seien. Die Ebioniten waren strenge Judenchristen und glaubten nicht an die jungfräuliche Geburt. Es schien also möglich, daß sie den Vers in ihrem Sinne gestaltet hätten. Daran ist aber gar nicht zu denken. Zunächst ist nicht abzusehen, was die „Jungfrau" Maria bedeuten soll, wenn die Jungfräulichkeit bestritten werden sollte; sodann aber, und das ist entscheidend, folgt gleich darauf die bekannte Erzählung von Josephs Traum, Matthäus 1, 18 bis 25, die gerade das Wunder bei der Geburt zum Gegenstande hat. Es bleibt, so seltsam es scheint, nichts weiter übrig, als anzunehmen, daß der neuentdeckte syrische Text von Matth. 1, 16 die jungfräuliche Geburt nicht verneinen, sondern bezeugen soll; denn man kann es weder dem Verfasser des Evangeliums, uoch einem vielleicht anzuneh¬ menden spätern Vervollstäudiger zutrauen, daß er sich mit Bewußtsein inner¬ halb weniger Zeilen widersprochen habe. Ist aber diese Schlußfolgerung unzweifelhaft richtig, so wird man auch einer andern nicht entgehen können: kein Mensch und am allerwenigsten der gar nicht ungeschickte Verfasser des Matthäusevangeliums wird sich aus freien Stücken so ausdrücken, wie der syrische Text lautet, wenn er von der jung¬ fräulichen Geburt reden will. Was dn steht, ist im Grunde Unsinn, oder es müßte so verstanden werden, als ob Joseph Wohl Jesus gezeugt habe, aber keineswegs von der Maria, die damals zwar mit ihm verlobt, aber noch Jung¬ frau gewesen wäre. Natürlich soll das uicht gesagt sein, aber der Ausdruck ist im höchsten Grade sonderbar und irreführend, wenn daneben die wunderbare Geburt Jesu aus Maria der Jungfrau bestehen bleiben soll. Folglich ist der Schreiber nicht frei gewesen, sondern er hat, als er den Schluß des Geschlechts¬ registers schrieb, eine bestimmte Vorlage gehabt, deren Wortlaut ihn zu einer so eigentümlichen Ausdrucksweise nötigte. Welcher Art ist nun diese Vorlage gewesen? wie hat sie gelautet? Offenbar war es einer jener gesonderten Stammbäume Jesu, die es mit Bestimmtheit unter den ältesten Christen auf jüdischem Boden gegeben hat. Diesen ältesten Christen war Jesus der Christus, der Messias, und als solcher mußte er allen Anforderungen an einen Messias genügen. Nun galt es als sicher, daß der Messias aus Abrahams Samen und aus Davids Stamm kommen würde. Wer also an Jesus als an den Messias glaubte, mußte das von dieser ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/382>, abgerufen am 23.07.2024.