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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Line Rechtfertigung der theologischen Wissenschaft

Markusschluß vielleicht zerstört und ein harmonisirender Bericht an seine Stelle
gesetzt worden.

Mit der Geburtsgeschichte verhält es sich aber doch etwas anders. Die
Schrift des Markus ist das älteste Evangelium; diese erzählt von der Ge¬
burt Jesu überhaupt nichts, sonder" beginnt gleich mit seiner Taufe im
Jordan und seinem sich daran schließenden öffentlichen Auftreten als Lehrer.
Daraus sehen wir, daß zu der Zeit, wo dieses Evangelium geschrieben wurde
(wohl kurz nach dem Tode des Paulus), auf christlicher Seite für die nähern
Umstände der Geburt Jesu noch kein besondres Interesse bestand. Wer nun
das Markusevaugelium allein liest, sowie es einst, ehe es in den neutestament-
lichen Kanon kam, auch als selbständige Schrift dawar, der wird nie auf deu
Gedanken kommen, daß Jesus in andrer Weise als jeder andre Mensch das
Licht der Welt erblickt habe. Alles deutet darauf hin, daß ihn der Evangelist
für nichts andres hält als für den Sohn Josephs nud der Maria. Am
meisten spricht dafür der Umstand, daß ihn die eignen Verwandten bei
seinein Auftreten für wahnsinnig hallen und ihn nach Hause zurückbringen
wollen. (Markus 3, 21: Und da es die Seinigen hörten, gingen sie aus, ihn
zu greifen, denn, sagten sie, er ist von Sinnen.)

Wie erstaunt man nun, wenn man, nachdem man den Markus gelesen
hat, an Matthäus und Lukas herantritt! Bei diesen jüngern Schriftstellern
findet man zwar gleichfalls viele Züge und Wendungen, die deutlich Jesus
als Josephs und Marias Sohn erscheinen lassen, aber man findet anch zwei
-- freilich mit einander unvereinbare -- Berichte über die wunderbare Geburt
Jesu aus einer Jungfrau, die ihn vom heiligen Geiste empfangen habe. Wir
verweisen deshalb auf eine kürzlich erschienene Schrift, die eine eingehende
Darstellung der merkwürdige" Thatsache giebt, daß außer den beiden Geburts-
geschichteu nicht nur alles in den Evangelien sür die natürliche Herkunft Jesu
spricht, sondern daß auch in der Geburtsgeschichte selbst die Spuren der ältern
natürliche" Auffassung deutlich sichtbar sind.") Die Gründe für die Annahme
daß dabei nichts weiter zum Ausdruck komme, als die Anschauung der ältesten
Christen, die nicht an die jungfräuliche Geburt glaubten, ja sie gar nicht
kannten, sind so stark, daß sich eine große Anzahl von Theologen unumwunden
dafür ausgesprochen hat. Wer dagegen auftreten zu müssen glaubt, ist nicht
frei von Rücksicht auf das Dogma.

In neuester Zeit ist nun eine litterarische Reliquie aufgesunden worden,
die wohl die endgiltige Bestätigung dafür bringt, daß wirklich das Urchristen¬
tum Jesus nur als den Sohn Josephs kannte, und daß folglich der Satz des
Apostolikums: "Empfangen vom heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau
Maria" als Erzeugnis einer spätern Stufe in der Entwicklung der christliche"



Geboren von der Jungfrau. B"im, Hermann Wnlthcr.
Line Rechtfertigung der theologischen Wissenschaft

Markusschluß vielleicht zerstört und ein harmonisirender Bericht an seine Stelle
gesetzt worden.

Mit der Geburtsgeschichte verhält es sich aber doch etwas anders. Die
Schrift des Markus ist das älteste Evangelium; diese erzählt von der Ge¬
burt Jesu überhaupt nichts, sonder» beginnt gleich mit seiner Taufe im
Jordan und seinem sich daran schließenden öffentlichen Auftreten als Lehrer.
Daraus sehen wir, daß zu der Zeit, wo dieses Evangelium geschrieben wurde
(wohl kurz nach dem Tode des Paulus), auf christlicher Seite für die nähern
Umstände der Geburt Jesu noch kein besondres Interesse bestand. Wer nun
das Markusevaugelium allein liest, sowie es einst, ehe es in den neutestament-
lichen Kanon kam, auch als selbständige Schrift dawar, der wird nie auf deu
Gedanken kommen, daß Jesus in andrer Weise als jeder andre Mensch das
Licht der Welt erblickt habe. Alles deutet darauf hin, daß ihn der Evangelist
für nichts andres hält als für den Sohn Josephs nud der Maria. Am
meisten spricht dafür der Umstand, daß ihn die eignen Verwandten bei
seinein Auftreten für wahnsinnig hallen und ihn nach Hause zurückbringen
wollen. (Markus 3, 21: Und da es die Seinigen hörten, gingen sie aus, ihn
zu greifen, denn, sagten sie, er ist von Sinnen.)

Wie erstaunt man nun, wenn man, nachdem man den Markus gelesen
hat, an Matthäus und Lukas herantritt! Bei diesen jüngern Schriftstellern
findet man zwar gleichfalls viele Züge und Wendungen, die deutlich Jesus
als Josephs und Marias Sohn erscheinen lassen, aber man findet anch zwei
— freilich mit einander unvereinbare — Berichte über die wunderbare Geburt
Jesu aus einer Jungfrau, die ihn vom heiligen Geiste empfangen habe. Wir
verweisen deshalb auf eine kürzlich erschienene Schrift, die eine eingehende
Darstellung der merkwürdige» Thatsache giebt, daß außer den beiden Geburts-
geschichteu nicht nur alles in den Evangelien sür die natürliche Herkunft Jesu
spricht, sondern daß auch in der Geburtsgeschichte selbst die Spuren der ältern
natürliche» Auffassung deutlich sichtbar sind.") Die Gründe für die Annahme
daß dabei nichts weiter zum Ausdruck komme, als die Anschauung der ältesten
Christen, die nicht an die jungfräuliche Geburt glaubten, ja sie gar nicht
kannten, sind so stark, daß sich eine große Anzahl von Theologen unumwunden
dafür ausgesprochen hat. Wer dagegen auftreten zu müssen glaubt, ist nicht
frei von Rücksicht auf das Dogma.

In neuester Zeit ist nun eine litterarische Reliquie aufgesunden worden,
die wohl die endgiltige Bestätigung dafür bringt, daß wirklich das Urchristen¬
tum Jesus nur als den Sohn Josephs kannte, und daß folglich der Satz des
Apostolikums: „Empfangen vom heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau
Maria" als Erzeugnis einer spätern Stufe in der Entwicklung der christliche«



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/381>, abgerufen am 22.07.2024.