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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Victor Alan Huber

sie in Schutz gegen den Vorwurf eines unsittlichen Naturalismus, der ihr von
deutschen Tugendbolden nachgesagt wurde. Erstens, sagte er, sei dieser Vor¬
wurf zum großen Teil unbegründet; das Häßliche, Entsetzliche und Lasterhafte
nehme bei diesen Dichtern keinen unverhältnismäßig breiten Raum ein. So¬
dann aber sei es keineswegs Pflicht der Poesie, diese Dinge zu meiden; im
Gegenteil sei eine Dichtung, die die Wirklichkeit darstelle, weil wahrhaft, darum
auch christlicher als der Klassizismus, der uns eine gar nicht vorhandne so¬
genannte Idealwelt vortäusche. "Das Geschrei gegen gräßliche oder sogenannte
unsittliche Gegenstände rührt zum Teil von der sehr weit verbreiteten ungläu¬
bigen Weichlichkeit solcher glücklichen Sterblichen her, die ihre Erfahrungen auf
ihr eignes persönliches Schicksal und das ihrer Verwandten und Freunde be¬
schränken und, so lange es darin leidlich gut geht, ohne absonderliche lär¬
mende Sünden und ohne tiefgreifendes Unglück sich und andern weis zu
machen suchen, es gebe eigentlich keine erhebliche Sünde und kein Unglück in
der Welt, und das Leben lasse sich ohne große Mühe und mystische Veranstal¬
tung recht angenehm tragen und verstehen. Zeigt ihnen nun ein Dichter die
tiefen Abgründe der Sünde und des Elends, so sträuben sie sich mit Händen
und Füßen dagegen und schreien über Mißbrauch der Phantasie oder unsitt¬
liche unpoetische Wahl des Stoffes, während doch die Unfähigkeit der sittlichen
und poetischen Auffassung nur auf ihrer Seite ist. Uns scheint es ganz gut
und heilsam, daß ihnen wenigstens auf diese Weise die Erkenntnis aufgezwungen
werde, daß das Leben nicht so leicht und lieblich und klar ist, wie sie meinen."
In derselben Schrift rügt er den Pharisäismus, mit dem jedes Volk seine
eignen politischen Unthaten beschönige, an die der andern Völker aber den Ma߬
stab der strengsten Moral anlege, und die Thorheit der Liberalen und der Re¬
aktionäre, einander gegenseitig ihre Sünden vorzuwerfen und über das sittliche
Niveau des vor- und des nachrevolutionären Paris zu streiten. Die Revo¬
lution sei einerseits eine Reaktion gegen die Laster der vornehmen Gesellschaft
gewesen, andrerseits selbst sittlichen Verirrungen verfallen. Die Masse der
Sündhaftigkeit sei wahrscheinlich vor, in und nach der Revolution dieselbe
geblieben, nur die Verteilung und die Erscheinungsformen hätten gewechselt.

Wir kommen nun auf Hubers politische Grundansichten. Sein Ideal
einer Staatsverfassung ist, um es kurz auszudrücken, das Friedrich Wilhelms IV.
und ist unter dem Einflüsse dieses Königs, zu dem er in persönliche Be¬
ziehungen trat, zu stände gekommen. Zwischen dem Monarchen und seinem
Volke besteht eine heilige und innige Lebensgemeinschaft, die an der Ehe ein
leichtfaßliches Abbild hat. Kein Blatt Papier darf zwischen die beiden Ver-
bundnen treten; durch den Eid auf die Verfassung würde der Monarch nur die
Revolution anerkennen, die immer Sünde ist und immer Unrecht hat. Weder
historisch gewordne Stände noch eine willkürlich vereinbarte Konstitution dürfen
seine Entschließungen beschränken; die Volksvertretung darf nur eine beratende


Victor Alan Huber

sie in Schutz gegen den Vorwurf eines unsittlichen Naturalismus, der ihr von
deutschen Tugendbolden nachgesagt wurde. Erstens, sagte er, sei dieser Vor¬
wurf zum großen Teil unbegründet; das Häßliche, Entsetzliche und Lasterhafte
nehme bei diesen Dichtern keinen unverhältnismäßig breiten Raum ein. So¬
dann aber sei es keineswegs Pflicht der Poesie, diese Dinge zu meiden; im
Gegenteil sei eine Dichtung, die die Wirklichkeit darstelle, weil wahrhaft, darum
auch christlicher als der Klassizismus, der uns eine gar nicht vorhandne so¬
genannte Idealwelt vortäusche. „Das Geschrei gegen gräßliche oder sogenannte
unsittliche Gegenstände rührt zum Teil von der sehr weit verbreiteten ungläu¬
bigen Weichlichkeit solcher glücklichen Sterblichen her, die ihre Erfahrungen auf
ihr eignes persönliches Schicksal und das ihrer Verwandten und Freunde be¬
schränken und, so lange es darin leidlich gut geht, ohne absonderliche lär¬
mende Sünden und ohne tiefgreifendes Unglück sich und andern weis zu
machen suchen, es gebe eigentlich keine erhebliche Sünde und kein Unglück in
der Welt, und das Leben lasse sich ohne große Mühe und mystische Veranstal¬
tung recht angenehm tragen und verstehen. Zeigt ihnen nun ein Dichter die
tiefen Abgründe der Sünde und des Elends, so sträuben sie sich mit Händen
und Füßen dagegen und schreien über Mißbrauch der Phantasie oder unsitt¬
liche unpoetische Wahl des Stoffes, während doch die Unfähigkeit der sittlichen
und poetischen Auffassung nur auf ihrer Seite ist. Uns scheint es ganz gut
und heilsam, daß ihnen wenigstens auf diese Weise die Erkenntnis aufgezwungen
werde, daß das Leben nicht so leicht und lieblich und klar ist, wie sie meinen."
In derselben Schrift rügt er den Pharisäismus, mit dem jedes Volk seine
eignen politischen Unthaten beschönige, an die der andern Völker aber den Ma߬
stab der strengsten Moral anlege, und die Thorheit der Liberalen und der Re¬
aktionäre, einander gegenseitig ihre Sünden vorzuwerfen und über das sittliche
Niveau des vor- und des nachrevolutionären Paris zu streiten. Die Revo¬
lution sei einerseits eine Reaktion gegen die Laster der vornehmen Gesellschaft
gewesen, andrerseits selbst sittlichen Verirrungen verfallen. Die Masse der
Sündhaftigkeit sei wahrscheinlich vor, in und nach der Revolution dieselbe
geblieben, nur die Verteilung und die Erscheinungsformen hätten gewechselt.

Wir kommen nun auf Hubers politische Grundansichten. Sein Ideal
einer Staatsverfassung ist, um es kurz auszudrücken, das Friedrich Wilhelms IV.
und ist unter dem Einflüsse dieses Königs, zu dem er in persönliche Be¬
ziehungen trat, zu stände gekommen. Zwischen dem Monarchen und seinem
Volke besteht eine heilige und innige Lebensgemeinschaft, die an der Ehe ein
leichtfaßliches Abbild hat. Kein Blatt Papier darf zwischen die beiden Ver-
bundnen treten; durch den Eid auf die Verfassung würde der Monarch nur die
Revolution anerkennen, die immer Sünde ist und immer Unrecht hat. Weder
historisch gewordne Stände noch eine willkürlich vereinbarte Konstitution dürfen
seine Entschließungen beschränken; die Volksvertretung darf nur eine beratende


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[0372] Victor Alan Huber sie in Schutz gegen den Vorwurf eines unsittlichen Naturalismus, der ihr von deutschen Tugendbolden nachgesagt wurde. Erstens, sagte er, sei dieser Vor¬ wurf zum großen Teil unbegründet; das Häßliche, Entsetzliche und Lasterhafte nehme bei diesen Dichtern keinen unverhältnismäßig breiten Raum ein. So¬ dann aber sei es keineswegs Pflicht der Poesie, diese Dinge zu meiden; im Gegenteil sei eine Dichtung, die die Wirklichkeit darstelle, weil wahrhaft, darum auch christlicher als der Klassizismus, der uns eine gar nicht vorhandne so¬ genannte Idealwelt vortäusche. „Das Geschrei gegen gräßliche oder sogenannte unsittliche Gegenstände rührt zum Teil von der sehr weit verbreiteten ungläu¬ bigen Weichlichkeit solcher glücklichen Sterblichen her, die ihre Erfahrungen auf ihr eignes persönliches Schicksal und das ihrer Verwandten und Freunde be¬ schränken und, so lange es darin leidlich gut geht, ohne absonderliche lär¬ mende Sünden und ohne tiefgreifendes Unglück sich und andern weis zu machen suchen, es gebe eigentlich keine erhebliche Sünde und kein Unglück in der Welt, und das Leben lasse sich ohne große Mühe und mystische Veranstal¬ tung recht angenehm tragen und verstehen. Zeigt ihnen nun ein Dichter die tiefen Abgründe der Sünde und des Elends, so sträuben sie sich mit Händen und Füßen dagegen und schreien über Mißbrauch der Phantasie oder unsitt¬ liche unpoetische Wahl des Stoffes, während doch die Unfähigkeit der sittlichen und poetischen Auffassung nur auf ihrer Seite ist. Uns scheint es ganz gut und heilsam, daß ihnen wenigstens auf diese Weise die Erkenntnis aufgezwungen werde, daß das Leben nicht so leicht und lieblich und klar ist, wie sie meinen." In derselben Schrift rügt er den Pharisäismus, mit dem jedes Volk seine eignen politischen Unthaten beschönige, an die der andern Völker aber den Ma߬ stab der strengsten Moral anlege, und die Thorheit der Liberalen und der Re¬ aktionäre, einander gegenseitig ihre Sünden vorzuwerfen und über das sittliche Niveau des vor- und des nachrevolutionären Paris zu streiten. Die Revo¬ lution sei einerseits eine Reaktion gegen die Laster der vornehmen Gesellschaft gewesen, andrerseits selbst sittlichen Verirrungen verfallen. Die Masse der Sündhaftigkeit sei wahrscheinlich vor, in und nach der Revolution dieselbe geblieben, nur die Verteilung und die Erscheinungsformen hätten gewechselt. Wir kommen nun auf Hubers politische Grundansichten. Sein Ideal einer Staatsverfassung ist, um es kurz auszudrücken, das Friedrich Wilhelms IV. und ist unter dem Einflüsse dieses Königs, zu dem er in persönliche Be¬ ziehungen trat, zu stände gekommen. Zwischen dem Monarchen und seinem Volke besteht eine heilige und innige Lebensgemeinschaft, die an der Ehe ein leichtfaßliches Abbild hat. Kein Blatt Papier darf zwischen die beiden Ver- bundnen treten; durch den Eid auf die Verfassung würde der Monarch nur die Revolution anerkennen, die immer Sünde ist und immer Unrecht hat. Weder historisch gewordne Stände noch eine willkürlich vereinbarte Konstitution dürfen seine Entschließungen beschränken; die Volksvertretung darf nur eine beratende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/372>, abgerufen am 23.07.2024.