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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Untergang der Lide

Das Gerede über Disziplinmangel an Bord der Elbe ist für den, der die
Verhältnisse der Lloyddampfer kennt, völlig müßig. Am wenigsten wird man
ihm in England glauben, wo die Dutchmen -- der Sammelname für die Um¬
wohner der Nordsee: Skandinavier, Deutsche und Holländer -- als ausge¬
zeichnete, willige Seeleute geschützt sind. Auch in der tapfersten Armee giebt
es, den Tod vor Augen, manchen, dem das Herz schwer wird; und wie schou
erwähnt, gediente Seeleute waren die wenigsten von der Besatzung. Daß nur
zwölf bis fünfzehn Mann davon gerettet wurden, spricht zu Gunsten der Zurück¬
gebliebnen, von denen sich bei größerer Lockerung der Zucht wohl mehr
herbeigedrängt hätten. Man wird vom Norddeutschen Lloyd die Einrei¬
chung der Schiffsordnung für die Elbe verlangen müssen, um zu ermitteln,
ob die Geretteten zu der betreffenden Bvotsnummer gehörten, so insbesondre
der dritte Offizier, der vom Kapitän in das Boot geschickt worden sein will.
Das Verhalten des Kapitäns wird allgemein gelobt. Um es richtig zu ver¬
stehen, muß man wissen, daß er von vornherein ein Verlorner Mann war,
und daß er dies nach seiner Kenntnis der allgemeinen Lage und der Leistungs¬
fähigkeit seines Schiffs sehr bald einsah. Ganz glatt geht es in der Eile mit
der Einschiffung von Passagieren fast nie ab, und der Kapitän hat die Pflicht,
bis zuletzt auf seinem Posten auszuhalten. Ein wahrscheinlich ganz unbe¬
rechtigter Vorwurf gegen den Führer der Elbe könnte nur dahin gehen, daß
er nicht thatkräftig genug in das der einheitlichen Leitung bedürftige Nettungs-
werk eingegriffen habe. Doppelt heiß mochte es dem Kapitän beim Anblick
seiner unglücklichen Schutzbefvhlnen zum Herzen steigen, wenn er sich sagen
mußte, daß die während seiner Abwesenheit von der Kommandobrücke herein-
gebrochne Katastrophe vielleicht vermeidbar gewesen wäre, vermeidbar etwa
dadurch, daß mau, der Wachsamkeit des so viel schlechter gerüsteten und lang¬
samern Gegners mißtrauend, gleichen Kurs mit ihm annahm, um vor ihm
herzulaufen. Vielleicht ist dieses Manöver thatsächlich versucht worden, aber
an der Schwerlenkbarkeit des Dampfers gescheitert.

Ein Spruch, der bei der Seefahrt ganz besonders zutrifft, heißt: "Ein
Quentchen Glück ist mehr wert als ein Pfund Verstand." Von einem, man
muß sagen geradezu wunderbaren Glücke waren bisher die Unternehmungen
der englischen Cunardlinie, der Besitzerin der Oregon, begleitet, deren Dampfer
von den aus der Elbe geretteten Amerikanern zur Weiterreise benutzt wurden.
Unter den transatlantischen Dampfergesellschaften ist die Cunardlinie die älteste
und daher bekannteste; sie wurde im Jahre 1840 begründet, sieben Jahre
früher als die (anfangs nur mit Segelschiffen fahrende) Hamburg-Amerikanische
Paketfahrt und sechzehn Jahre vor dem Norddeutschen Lloyd. Obgleich
ihr im Laufe der Zeit außer der Oregon noch etwa ein halbes Dutzend
andre Dampfer abhanden gekommen sind, darf sie sich rühmen, nie einen Fahr¬
gast eingebüßt zu haben (növzr lost IM, während z. B. der nächstältesten


Der Untergang der Lide

Das Gerede über Disziplinmangel an Bord der Elbe ist für den, der die
Verhältnisse der Lloyddampfer kennt, völlig müßig. Am wenigsten wird man
ihm in England glauben, wo die Dutchmen — der Sammelname für die Um¬
wohner der Nordsee: Skandinavier, Deutsche und Holländer — als ausge¬
zeichnete, willige Seeleute geschützt sind. Auch in der tapfersten Armee giebt
es, den Tod vor Augen, manchen, dem das Herz schwer wird; und wie schou
erwähnt, gediente Seeleute waren die wenigsten von der Besatzung. Daß nur
zwölf bis fünfzehn Mann davon gerettet wurden, spricht zu Gunsten der Zurück¬
gebliebnen, von denen sich bei größerer Lockerung der Zucht wohl mehr
herbeigedrängt hätten. Man wird vom Norddeutschen Lloyd die Einrei¬
chung der Schiffsordnung für die Elbe verlangen müssen, um zu ermitteln,
ob die Geretteten zu der betreffenden Bvotsnummer gehörten, so insbesondre
der dritte Offizier, der vom Kapitän in das Boot geschickt worden sein will.
Das Verhalten des Kapitäns wird allgemein gelobt. Um es richtig zu ver¬
stehen, muß man wissen, daß er von vornherein ein Verlorner Mann war,
und daß er dies nach seiner Kenntnis der allgemeinen Lage und der Leistungs¬
fähigkeit seines Schiffs sehr bald einsah. Ganz glatt geht es in der Eile mit
der Einschiffung von Passagieren fast nie ab, und der Kapitän hat die Pflicht,
bis zuletzt auf seinem Posten auszuhalten. Ein wahrscheinlich ganz unbe¬
rechtigter Vorwurf gegen den Führer der Elbe könnte nur dahin gehen, daß
er nicht thatkräftig genug in das der einheitlichen Leitung bedürftige Nettungs-
werk eingegriffen habe. Doppelt heiß mochte es dem Kapitän beim Anblick
seiner unglücklichen Schutzbefvhlnen zum Herzen steigen, wenn er sich sagen
mußte, daß die während seiner Abwesenheit von der Kommandobrücke herein-
gebrochne Katastrophe vielleicht vermeidbar gewesen wäre, vermeidbar etwa
dadurch, daß mau, der Wachsamkeit des so viel schlechter gerüsteten und lang¬
samern Gegners mißtrauend, gleichen Kurs mit ihm annahm, um vor ihm
herzulaufen. Vielleicht ist dieses Manöver thatsächlich versucht worden, aber
an der Schwerlenkbarkeit des Dampfers gescheitert.

Ein Spruch, der bei der Seefahrt ganz besonders zutrifft, heißt: „Ein
Quentchen Glück ist mehr wert als ein Pfund Verstand." Von einem, man
muß sagen geradezu wunderbaren Glücke waren bisher die Unternehmungen
der englischen Cunardlinie, der Besitzerin der Oregon, begleitet, deren Dampfer
von den aus der Elbe geretteten Amerikanern zur Weiterreise benutzt wurden.
Unter den transatlantischen Dampfergesellschaften ist die Cunardlinie die älteste
und daher bekannteste; sie wurde im Jahre 1840 begründet, sieben Jahre
früher als die (anfangs nur mit Segelschiffen fahrende) Hamburg-Amerikanische
Paketfahrt und sechzehn Jahre vor dem Norddeutschen Lloyd. Obgleich
ihr im Laufe der Zeit außer der Oregon noch etwa ein halbes Dutzend
andre Dampfer abhanden gekommen sind, darf sie sich rühmen, nie einen Fahr¬
gast eingebüßt zu haben (növzr lost IM, während z. B. der nächstältesten


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[0362] Der Untergang der Lide Das Gerede über Disziplinmangel an Bord der Elbe ist für den, der die Verhältnisse der Lloyddampfer kennt, völlig müßig. Am wenigsten wird man ihm in England glauben, wo die Dutchmen — der Sammelname für die Um¬ wohner der Nordsee: Skandinavier, Deutsche und Holländer — als ausge¬ zeichnete, willige Seeleute geschützt sind. Auch in der tapfersten Armee giebt es, den Tod vor Augen, manchen, dem das Herz schwer wird; und wie schou erwähnt, gediente Seeleute waren die wenigsten von der Besatzung. Daß nur zwölf bis fünfzehn Mann davon gerettet wurden, spricht zu Gunsten der Zurück¬ gebliebnen, von denen sich bei größerer Lockerung der Zucht wohl mehr herbeigedrängt hätten. Man wird vom Norddeutschen Lloyd die Einrei¬ chung der Schiffsordnung für die Elbe verlangen müssen, um zu ermitteln, ob die Geretteten zu der betreffenden Bvotsnummer gehörten, so insbesondre der dritte Offizier, der vom Kapitän in das Boot geschickt worden sein will. Das Verhalten des Kapitäns wird allgemein gelobt. Um es richtig zu ver¬ stehen, muß man wissen, daß er von vornherein ein Verlorner Mann war, und daß er dies nach seiner Kenntnis der allgemeinen Lage und der Leistungs¬ fähigkeit seines Schiffs sehr bald einsah. Ganz glatt geht es in der Eile mit der Einschiffung von Passagieren fast nie ab, und der Kapitän hat die Pflicht, bis zuletzt auf seinem Posten auszuhalten. Ein wahrscheinlich ganz unbe¬ rechtigter Vorwurf gegen den Führer der Elbe könnte nur dahin gehen, daß er nicht thatkräftig genug in das der einheitlichen Leitung bedürftige Nettungs- werk eingegriffen habe. Doppelt heiß mochte es dem Kapitän beim Anblick seiner unglücklichen Schutzbefvhlnen zum Herzen steigen, wenn er sich sagen mußte, daß die während seiner Abwesenheit von der Kommandobrücke herein- gebrochne Katastrophe vielleicht vermeidbar gewesen wäre, vermeidbar etwa dadurch, daß mau, der Wachsamkeit des so viel schlechter gerüsteten und lang¬ samern Gegners mißtrauend, gleichen Kurs mit ihm annahm, um vor ihm herzulaufen. Vielleicht ist dieses Manöver thatsächlich versucht worden, aber an der Schwerlenkbarkeit des Dampfers gescheitert. Ein Spruch, der bei der Seefahrt ganz besonders zutrifft, heißt: „Ein Quentchen Glück ist mehr wert als ein Pfund Verstand." Von einem, man muß sagen geradezu wunderbaren Glücke waren bisher die Unternehmungen der englischen Cunardlinie, der Besitzerin der Oregon, begleitet, deren Dampfer von den aus der Elbe geretteten Amerikanern zur Weiterreise benutzt wurden. Unter den transatlantischen Dampfergesellschaften ist die Cunardlinie die älteste und daher bekannteste; sie wurde im Jahre 1840 begründet, sieben Jahre früher als die (anfangs nur mit Segelschiffen fahrende) Hamburg-Amerikanische Paketfahrt und sechzehn Jahre vor dem Norddeutschen Lloyd. Obgleich ihr im Laufe der Zeit außer der Oregon noch etwa ein halbes Dutzend andre Dampfer abhanden gekommen sind, darf sie sich rühmen, nie einen Fahr¬ gast eingebüßt zu haben (növzr lost IM, während z. B. der nächstältesten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/362>, abgerufen am 03.07.2024.