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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Untergang der Elbe

Teil der Fahrgäste erkletterte unter Führung des Schiffsarztes die Masten.
Wenig mehr als zehn Minuten, und die Cimbria lag dreißig Meter tief auf
dem Grunde,") sodaß ihre drei Masten nur noch wenig aus dem Wasser
hervorragten. Von den ausgesetzten vier Booten kenterte eins sofort infolge
von Überladung, die andern mit zusammen 39 Personen wurden von Segel¬
schiffen aufgefunden. In den Masten behaupteten sich von früh zwei Uhr
bis gegen Mittag, wo vom Lande her Rettung nahte, 17 Personen; der Arzt
war gegen acht Uhr freiwillig ins Meer gesprungen, andre ihm von Kälte
und Erschöpfung gezwungen gefolgt. Von 496 Personen wurden 56 gerettet,
und zwar von der Mannschaft 25 Prozent, von den Passagieren nur 8 Pro¬
zent. Die Passagiere hatten meist aus Slowaken bestanden, die des Deutschen
nicht mächtig waren und angesichts der Gefahr in eine unbeschreibliche Ver¬
wirrung geraten waren.

Bei der seeamtlichen Untersuchung des Unglücks der Elbe werden der
auf Wache gewesene dritte Offizier und die beiden Lotsen, der deutsche und
der englische, besonders wichtige Zeugen sein. Mit dem, was der Elblotse
und der Lloydofsizier Zeitungsnachrichten zufolge bisher vor ihrer vorgesetzten
Behörde ausgesagt haben, ist ihr Wissen um die Sache nicht erschöpft.
Nicht recht begreiflich ist, warum einerseits die bereits im Boote befindliche
Frau des geretteten Hofmann mit ihrem Kind aussteigen mußte und ander¬
seits keine männlichen Reisenden zutreten durften. Weshalb wurden ferner
die Frauen auf die hochliegende Steuerbordseite geschickt, wo doch jede Rettung
abgeschnitten war, weil die Boote nicht herauskonnten? Der Widerspruch
löst sich nur, wenn man eine plötzlich eingetretene Verschlimmerung der Lage
annimmt. Die verhältnismäßig große Zahl der geretteten Mannschaft, 10
Prozent, wenn man die beiden Lotsen mitrechnet, erklärt sich aus dem Um¬
stände, daß das Schiffspersonal für etwaige Vorkommnisse im voraus auf die
Boote verteilt ist. Zehn Boote und 140 bis 150 Mann Besatzung ergiebt
auf jedes Boot etwa 15 Personen, was der Zahl der geretteten Mannschaft
entspricht. In großen Booten finden unter günstigen Umständen bis zu 70
Personen Platz, wenn sich die meisten an den Boden setzen; bei schlechtem
Wetter aber laufen die unten sitzenden Gefahr, in dem einfallenden Wasser
zu ertrinken. Annähernd 40 Personen wären wohl auf alle Fälle in dem



*) Gleich der Cimbria wird die Elbe in etwa 30 Meter Wassertiefe liegen. Am
Boden angelangt, ist das unglückliche Schiff auf die Seite gefallen, wobei wohl die Masten
gebrochen sind. Man wird vermutlich einen Taucher hinabschicken, der aber vielleicht des
trüben Wassers wegen nicht viel wird ausrichten können. Der beim Tauchen auf den Körper
ausgeübte Druck steigt mit je 10 Meter Wassertiefe um eine Atmosphäre. In 15 Meter
Tiefe fühlt ein kräftiger Mann noch keine großen Atembeschwerden, dagegen bedarf es für
eine Tiefe von 30 Meter schon großer Übung im Tauchen, und bei 60 Meter hält der Körper
den Druck überhaupt nicht mehr aus.
Der Untergang der Elbe

Teil der Fahrgäste erkletterte unter Führung des Schiffsarztes die Masten.
Wenig mehr als zehn Minuten, und die Cimbria lag dreißig Meter tief auf
dem Grunde,") sodaß ihre drei Masten nur noch wenig aus dem Wasser
hervorragten. Von den ausgesetzten vier Booten kenterte eins sofort infolge
von Überladung, die andern mit zusammen 39 Personen wurden von Segel¬
schiffen aufgefunden. In den Masten behaupteten sich von früh zwei Uhr
bis gegen Mittag, wo vom Lande her Rettung nahte, 17 Personen; der Arzt
war gegen acht Uhr freiwillig ins Meer gesprungen, andre ihm von Kälte
und Erschöpfung gezwungen gefolgt. Von 496 Personen wurden 56 gerettet,
und zwar von der Mannschaft 25 Prozent, von den Passagieren nur 8 Pro¬
zent. Die Passagiere hatten meist aus Slowaken bestanden, die des Deutschen
nicht mächtig waren und angesichts der Gefahr in eine unbeschreibliche Ver¬
wirrung geraten waren.

Bei der seeamtlichen Untersuchung des Unglücks der Elbe werden der
auf Wache gewesene dritte Offizier und die beiden Lotsen, der deutsche und
der englische, besonders wichtige Zeugen sein. Mit dem, was der Elblotse
und der Lloydofsizier Zeitungsnachrichten zufolge bisher vor ihrer vorgesetzten
Behörde ausgesagt haben, ist ihr Wissen um die Sache nicht erschöpft.
Nicht recht begreiflich ist, warum einerseits die bereits im Boote befindliche
Frau des geretteten Hofmann mit ihrem Kind aussteigen mußte und ander¬
seits keine männlichen Reisenden zutreten durften. Weshalb wurden ferner
die Frauen auf die hochliegende Steuerbordseite geschickt, wo doch jede Rettung
abgeschnitten war, weil die Boote nicht herauskonnten? Der Widerspruch
löst sich nur, wenn man eine plötzlich eingetretene Verschlimmerung der Lage
annimmt. Die verhältnismäßig große Zahl der geretteten Mannschaft, 10
Prozent, wenn man die beiden Lotsen mitrechnet, erklärt sich aus dem Um¬
stände, daß das Schiffspersonal für etwaige Vorkommnisse im voraus auf die
Boote verteilt ist. Zehn Boote und 140 bis 150 Mann Besatzung ergiebt
auf jedes Boot etwa 15 Personen, was der Zahl der geretteten Mannschaft
entspricht. In großen Booten finden unter günstigen Umständen bis zu 70
Personen Platz, wenn sich die meisten an den Boden setzen; bei schlechtem
Wetter aber laufen die unten sitzenden Gefahr, in dem einfallenden Wasser
zu ertrinken. Annähernd 40 Personen wären wohl auf alle Fälle in dem



*) Gleich der Cimbria wird die Elbe in etwa 30 Meter Wassertiefe liegen. Am
Boden angelangt, ist das unglückliche Schiff auf die Seite gefallen, wobei wohl die Masten
gebrochen sind. Man wird vermutlich einen Taucher hinabschicken, der aber vielleicht des
trüben Wassers wegen nicht viel wird ausrichten können. Der beim Tauchen auf den Körper
ausgeübte Druck steigt mit je 10 Meter Wassertiefe um eine Atmosphäre. In 15 Meter
Tiefe fühlt ein kräftiger Mann noch keine großen Atembeschwerden, dagegen bedarf es für
eine Tiefe von 30 Meter schon großer Übung im Tauchen, und bei 60 Meter hält der Körper
den Druck überhaupt nicht mehr aus.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/360>, abgerufen am 20.09.2024.