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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Parlament und Pcirlannmtsdisziplm in England

Die Geschäftsordnung bestimmt um, daß el" Mitglied, das die Autorität
des Präsidentensessels <vinir) mißachtet, entweder aufgefordert werden kann, den
Sitzungssaal zu verlasse" -- und wenn er sich dessen weigert, so wird er von
dem unter dein Namen Sergeant an Arms bekannten Hausbeamten mit Gewalt
entfernt --, oder daß er, und zwar auf Beschluß des Hauses, nicht bloß durch
Verfügung des Sprechers, vom Besuch des Hauses ausgeschlossen (Lusvonäscl)
werden kann, auf eine Woche für das erste Ärgernis, auf vierzehn Tage für
die zweite, und endlich auf vier Wochen für die dritte Verletzung der Ordnung.
Genügt auch dies noch nicht, fernere Zuwiderhandlungen zu verhüten, so hat
das Haus als letzten Notbehelf noch die Möglichkeit, das widerspenstige Mit¬
glied zur Haft zu bringen, wo es bis zum Schluß der Parlcnnentssesston oder
bis das Haus andre Bestimmungen trifft, verweilen darf. Als äußerste Ma߬
regel hat das Parlament auch noch die Macht, ein Mitglied auszustoßen
(sxpoNmA), man wendet sie aber nur in dem Falle an, daß sich das Mitglied
eines Verbrechens schuldig gemacht hat, und mehr als Mittel, den Abscheu
und die Verachtung des Hauses hierüber kundzugeben. Gegen die Entschei¬
dung des Hauses ist auch keine Berufung an die Gerichtshöfe möglich, da
es kein Gesetz über das parlamentarische Verfahren giebt. Vielmehr hat das
Haus der Gemeinen innerhalb seines eignen Bereichs eine vollkommnere Ge¬
walt als selbst die ordentlichen Gerichte.

Was die Fragen betrifft, die mau als solche der Schicklichkeit oder Eti¬
kette bezeichnen darf, so ist bezeichnend, daß es hierüber geschriebne Regeln
oder Geschüftsordnungsbestimmnngen überhaupt nicht giebt. Die Gepflogen¬
heiten des Hauses der Gemeinen beruhen in diesen Dingen nur ans unge¬
schriebnen Gesetzen. Mr. Disraeli, später Lord Beaconsfield, bekämpfte im
Jahre 1875 einen Antrag des jetzigen Herzogs von Devonshire, der sich auf
die Zulassung von Vertretern der Presse als Berichterstatter bezog. Er be¬
rief sich dabei auf einen Ausspruch des Lord Eldon: er könne im Par¬
lament sonst etwas thun, er werde aber niemals versuchen, sich mit den: unge¬
schriebnen Parlamentsrecht in Widerstreit zu setzen. Die Parlamentsglieder
find peinlich genan in der Beobachtung dessen, was man parlamentarische
Etikette nennt. Es wird z. B. erwartet, daß, während ein Mitglied gerade
vom Platze ans spricht, ein andres Mitglied, das sich ans seinen Platz begeben
will, dabei nicht zwischen den Redner und den Präsidenten gerät. Geschieht
es doch einmal, daß ein Mitglied aus Unachtsamkeit oder ans Unkenntnis
dieser Etikettenregel unbewußt zwischen dem Redner und dem "Mr. speaker"
(dem Präsidenten) hindurchgeht, so ertönt sofort von allen Seiten des Hauses
der Ruf: Orcler, orcler! Wenn aber ein Mitglied zwischen beiden hindurch
will und dabei einfach den .Kopf ein wenig beugt, um anzudeuten, daß er
durchaus nicht gewillt sei, die Etikette selbst zu mißachten, so zeigt sich das
Haus nachsichtig, und man hört keinen Ordnungsruf. Immerhin hat es den


Parlament und Pcirlannmtsdisziplm in England

Die Geschäftsordnung bestimmt um, daß el» Mitglied, das die Autorität
des Präsidentensessels <vinir) mißachtet, entweder aufgefordert werden kann, den
Sitzungssaal zu verlasse» — und wenn er sich dessen weigert, so wird er von
dem unter dein Namen Sergeant an Arms bekannten Hausbeamten mit Gewalt
entfernt —, oder daß er, und zwar auf Beschluß des Hauses, nicht bloß durch
Verfügung des Sprechers, vom Besuch des Hauses ausgeschlossen (Lusvonäscl)
werden kann, auf eine Woche für das erste Ärgernis, auf vierzehn Tage für
die zweite, und endlich auf vier Wochen für die dritte Verletzung der Ordnung.
Genügt auch dies noch nicht, fernere Zuwiderhandlungen zu verhüten, so hat
das Haus als letzten Notbehelf noch die Möglichkeit, das widerspenstige Mit¬
glied zur Haft zu bringen, wo es bis zum Schluß der Parlcnnentssesston oder
bis das Haus andre Bestimmungen trifft, verweilen darf. Als äußerste Ma߬
regel hat das Parlament auch noch die Macht, ein Mitglied auszustoßen
(sxpoNmA), man wendet sie aber nur in dem Falle an, daß sich das Mitglied
eines Verbrechens schuldig gemacht hat, und mehr als Mittel, den Abscheu
und die Verachtung des Hauses hierüber kundzugeben. Gegen die Entschei¬
dung des Hauses ist auch keine Berufung an die Gerichtshöfe möglich, da
es kein Gesetz über das parlamentarische Verfahren giebt. Vielmehr hat das
Haus der Gemeinen innerhalb seines eignen Bereichs eine vollkommnere Ge¬
walt als selbst die ordentlichen Gerichte.

Was die Fragen betrifft, die mau als solche der Schicklichkeit oder Eti¬
kette bezeichnen darf, so ist bezeichnend, daß es hierüber geschriebne Regeln
oder Geschüftsordnungsbestimmnngen überhaupt nicht giebt. Die Gepflogen¬
heiten des Hauses der Gemeinen beruhen in diesen Dingen nur ans unge¬
schriebnen Gesetzen. Mr. Disraeli, später Lord Beaconsfield, bekämpfte im
Jahre 1875 einen Antrag des jetzigen Herzogs von Devonshire, der sich auf
die Zulassung von Vertretern der Presse als Berichterstatter bezog. Er be¬
rief sich dabei auf einen Ausspruch des Lord Eldon: er könne im Par¬
lament sonst etwas thun, er werde aber niemals versuchen, sich mit den: unge¬
schriebnen Parlamentsrecht in Widerstreit zu setzen. Die Parlamentsglieder
find peinlich genan in der Beobachtung dessen, was man parlamentarische
Etikette nennt. Es wird z. B. erwartet, daß, während ein Mitglied gerade
vom Platze ans spricht, ein andres Mitglied, das sich ans seinen Platz begeben
will, dabei nicht zwischen den Redner und den Präsidenten gerät. Geschieht
es doch einmal, daß ein Mitglied aus Unachtsamkeit oder ans Unkenntnis
dieser Etikettenregel unbewußt zwischen dem Redner und dem „Mr. speaker"
(dem Präsidenten) hindurchgeht, so ertönt sofort von allen Seiten des Hauses
der Ruf: Orcler, orcler! Wenn aber ein Mitglied zwischen beiden hindurch
will und dabei einfach den .Kopf ein wenig beugt, um anzudeuten, daß er
durchaus nicht gewillt sei, die Etikette selbst zu mißachten, so zeigt sich das
Haus nachsichtig, und man hört keinen Ordnungsruf. Immerhin hat es den


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[0313] Parlament und Pcirlannmtsdisziplm in England Die Geschäftsordnung bestimmt um, daß el» Mitglied, das die Autorität des Präsidentensessels <vinir) mißachtet, entweder aufgefordert werden kann, den Sitzungssaal zu verlasse» — und wenn er sich dessen weigert, so wird er von dem unter dein Namen Sergeant an Arms bekannten Hausbeamten mit Gewalt entfernt —, oder daß er, und zwar auf Beschluß des Hauses, nicht bloß durch Verfügung des Sprechers, vom Besuch des Hauses ausgeschlossen (Lusvonäscl) werden kann, auf eine Woche für das erste Ärgernis, auf vierzehn Tage für die zweite, und endlich auf vier Wochen für die dritte Verletzung der Ordnung. Genügt auch dies noch nicht, fernere Zuwiderhandlungen zu verhüten, so hat das Haus als letzten Notbehelf noch die Möglichkeit, das widerspenstige Mit¬ glied zur Haft zu bringen, wo es bis zum Schluß der Parlcnnentssesston oder bis das Haus andre Bestimmungen trifft, verweilen darf. Als äußerste Ma߬ regel hat das Parlament auch noch die Macht, ein Mitglied auszustoßen (sxpoNmA), man wendet sie aber nur in dem Falle an, daß sich das Mitglied eines Verbrechens schuldig gemacht hat, und mehr als Mittel, den Abscheu und die Verachtung des Hauses hierüber kundzugeben. Gegen die Entschei¬ dung des Hauses ist auch keine Berufung an die Gerichtshöfe möglich, da es kein Gesetz über das parlamentarische Verfahren giebt. Vielmehr hat das Haus der Gemeinen innerhalb seines eignen Bereichs eine vollkommnere Ge¬ walt als selbst die ordentlichen Gerichte. Was die Fragen betrifft, die mau als solche der Schicklichkeit oder Eti¬ kette bezeichnen darf, so ist bezeichnend, daß es hierüber geschriebne Regeln oder Geschüftsordnungsbestimmnngen überhaupt nicht giebt. Die Gepflogen¬ heiten des Hauses der Gemeinen beruhen in diesen Dingen nur ans unge¬ schriebnen Gesetzen. Mr. Disraeli, später Lord Beaconsfield, bekämpfte im Jahre 1875 einen Antrag des jetzigen Herzogs von Devonshire, der sich auf die Zulassung von Vertretern der Presse als Berichterstatter bezog. Er be¬ rief sich dabei auf einen Ausspruch des Lord Eldon: er könne im Par¬ lament sonst etwas thun, er werde aber niemals versuchen, sich mit den: unge¬ schriebnen Parlamentsrecht in Widerstreit zu setzen. Die Parlamentsglieder find peinlich genan in der Beobachtung dessen, was man parlamentarische Etikette nennt. Es wird z. B. erwartet, daß, während ein Mitglied gerade vom Platze ans spricht, ein andres Mitglied, das sich ans seinen Platz begeben will, dabei nicht zwischen den Redner und den Präsidenten gerät. Geschieht es doch einmal, daß ein Mitglied aus Unachtsamkeit oder ans Unkenntnis dieser Etikettenregel unbewußt zwischen dem Redner und dem „Mr. speaker" (dem Präsidenten) hindurchgeht, so ertönt sofort von allen Seiten des Hauses der Ruf: Orcler, orcler! Wenn aber ein Mitglied zwischen beiden hindurch will und dabei einfach den .Kopf ein wenig beugt, um anzudeuten, daß er durchaus nicht gewillt sei, die Etikette selbst zu mißachten, so zeigt sich das Haus nachsichtig, und man hört keinen Ordnungsruf. Immerhin hat es den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/313>, abgerufen am 23.07.2024.