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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Parlament und parlainentsdisziplin in England

Anschein, als ob die ritterlichen Gewohnheiten einigermaßen im Rückgänge
begriffen seien. So ist es eine alte parlamentarische Artigkeit, daß das Mit¬
glied, wenn es sich im Sitzungssaal auf seinen Platz begiebt, zuvor dem Prä¬
sidenten eine zierliche Verbeugung macht. Mr. Gladstone unterließ das nie
bis zum letzten Tag seiner Anwesenheit im Hause. Jedesmal, bevor er sich
auf seinem Sitz niederließ, sogar nach einer Abstimmung, verweilte er einen
Augenblick in der Mitte des Hauses und machte eine jener artigen alten Ver¬
beugungen, die für den englischen Gentleman, der noch in allen Überlieferungen
seiner Klasse lebt, bezeichnend sind.

Eine andre ungeschriebne Regel der guten Lebensart ist es für ein Par¬
lamentsmitglied, solange es sich im Sitzungssaale hin- und herbewegt, die
Kopfbedeckung abzunehmen, sie aber wieder aufzusetzen, sobald man sich auf
dem Sitze niederläßt. Für den Fremden ist es ein sonderbarer Anblick, das
ganze Haus oder doch die große Mehrheit seiner Mitglieder mit dem Hute
bedeckt zu sehen. Diese Regel wird noch streng eingehalten, und jedes Mit¬
glied, das bedecktem Hauptes im Saale umhergeht oder sich auch nur von
seinem Sitz entfernt, hat sofort eine Salve von Onlör-Rufen zu erwarten.
Beim Beginn einer neuen Parlamentssession, wo eine Anzahl neu in das
Haus eiugetretner Mitglieder erscheinen, ist dies ein nicht ungewöhnliches Er¬
eignis.

Das Haus der Gemeinen ist so vollständig Herr seiner Angelegenheiten,
daß es von dem Gesetz über Beleidigung (libsl) ausdrücklich ausgenommen ist.
Nichts, was von einem Mitglied des Hauses gesprochen wird, ist wegen llbvl
verfolgbar. Was den Thron betrifft, so verdient mit Rücksicht ans das kürz¬
liche Verhalten der Sozialdemokraten im deutscheu Reichstage bemerkt zu werden,
daß der Name des Souveräns im englischen Unterhalts niemals in einem Zu¬
sammenhange genannt werden darf, daß die Meinungen und Beschlüsse der
Mitglieder dadurch beeinflußt werden könnten. Wenn ein Minister oder ein
Mitglied der Regierung im Laufe der Debatte den Namen des Souveräns er¬
wähnt, so kommt es nicht selten vor, daß sich ein Mitglied der Opposition in
einer Bemerkung zur Geschäftsordnung dagegen verwahrt. Wenn dies geschieht,
so geht die Entscheidung des Sprechers ein für allemal dahin, daß die Ein¬
führung des königlichen Namens in die Debatte nur zulässig sei, soweit es das
Bedürfnis einer Erörterung des gerade auf der Tagesordnung stehenden Gegen¬
standes mit sich bringe. Der Inhaber des englischen Thrones ist nach kon¬
stitutionellem Recht ein Mitglied des Hauses der Lords, und bis zum Re¬
gierungsantritt der Königin Viktoria besuchte der König mich gelegentlich das
Haus, um die Gesichtspunkte seiner Politik darzulegen, wenn auch nicht gerade,
um sich aktiv an den Debatten zu beteiligen. Während der Regierung der
gegenwärtige" Königin -- der längsten Negierung, die die Geschichte von
irgend einen, weiblichen Souverän kennt, und in drei oder vier Jahren der


Parlament und parlainentsdisziplin in England

Anschein, als ob die ritterlichen Gewohnheiten einigermaßen im Rückgänge
begriffen seien. So ist es eine alte parlamentarische Artigkeit, daß das Mit¬
glied, wenn es sich im Sitzungssaal auf seinen Platz begiebt, zuvor dem Prä¬
sidenten eine zierliche Verbeugung macht. Mr. Gladstone unterließ das nie
bis zum letzten Tag seiner Anwesenheit im Hause. Jedesmal, bevor er sich
auf seinem Sitz niederließ, sogar nach einer Abstimmung, verweilte er einen
Augenblick in der Mitte des Hauses und machte eine jener artigen alten Ver¬
beugungen, die für den englischen Gentleman, der noch in allen Überlieferungen
seiner Klasse lebt, bezeichnend sind.

Eine andre ungeschriebne Regel der guten Lebensart ist es für ein Par¬
lamentsmitglied, solange es sich im Sitzungssaale hin- und herbewegt, die
Kopfbedeckung abzunehmen, sie aber wieder aufzusetzen, sobald man sich auf
dem Sitze niederläßt. Für den Fremden ist es ein sonderbarer Anblick, das
ganze Haus oder doch die große Mehrheit seiner Mitglieder mit dem Hute
bedeckt zu sehen. Diese Regel wird noch streng eingehalten, und jedes Mit¬
glied, das bedecktem Hauptes im Saale umhergeht oder sich auch nur von
seinem Sitz entfernt, hat sofort eine Salve von Onlör-Rufen zu erwarten.
Beim Beginn einer neuen Parlamentssession, wo eine Anzahl neu in das
Haus eiugetretner Mitglieder erscheinen, ist dies ein nicht ungewöhnliches Er¬
eignis.

Das Haus der Gemeinen ist so vollständig Herr seiner Angelegenheiten,
daß es von dem Gesetz über Beleidigung (libsl) ausdrücklich ausgenommen ist.
Nichts, was von einem Mitglied des Hauses gesprochen wird, ist wegen llbvl
verfolgbar. Was den Thron betrifft, so verdient mit Rücksicht ans das kürz¬
liche Verhalten der Sozialdemokraten im deutscheu Reichstage bemerkt zu werden,
daß der Name des Souveräns im englischen Unterhalts niemals in einem Zu¬
sammenhange genannt werden darf, daß die Meinungen und Beschlüsse der
Mitglieder dadurch beeinflußt werden könnten. Wenn ein Minister oder ein
Mitglied der Regierung im Laufe der Debatte den Namen des Souveräns er¬
wähnt, so kommt es nicht selten vor, daß sich ein Mitglied der Opposition in
einer Bemerkung zur Geschäftsordnung dagegen verwahrt. Wenn dies geschieht,
so geht die Entscheidung des Sprechers ein für allemal dahin, daß die Ein¬
führung des königlichen Namens in die Debatte nur zulässig sei, soweit es das
Bedürfnis einer Erörterung des gerade auf der Tagesordnung stehenden Gegen¬
standes mit sich bringe. Der Inhaber des englischen Thrones ist nach kon¬
stitutionellem Recht ein Mitglied des Hauses der Lords, und bis zum Re¬
gierungsantritt der Königin Viktoria besuchte der König mich gelegentlich das
Haus, um die Gesichtspunkte seiner Politik darzulegen, wenn auch nicht gerade,
um sich aktiv an den Debatten zu beteiligen. Während der Regierung der
gegenwärtige» Königin — der längsten Negierung, die die Geschichte von
irgend einen, weiblichen Souverän kennt, und in drei oder vier Jahren der


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[0314] Parlament und parlainentsdisziplin in England Anschein, als ob die ritterlichen Gewohnheiten einigermaßen im Rückgänge begriffen seien. So ist es eine alte parlamentarische Artigkeit, daß das Mit¬ glied, wenn es sich im Sitzungssaal auf seinen Platz begiebt, zuvor dem Prä¬ sidenten eine zierliche Verbeugung macht. Mr. Gladstone unterließ das nie bis zum letzten Tag seiner Anwesenheit im Hause. Jedesmal, bevor er sich auf seinem Sitz niederließ, sogar nach einer Abstimmung, verweilte er einen Augenblick in der Mitte des Hauses und machte eine jener artigen alten Ver¬ beugungen, die für den englischen Gentleman, der noch in allen Überlieferungen seiner Klasse lebt, bezeichnend sind. Eine andre ungeschriebne Regel der guten Lebensart ist es für ein Par¬ lamentsmitglied, solange es sich im Sitzungssaale hin- und herbewegt, die Kopfbedeckung abzunehmen, sie aber wieder aufzusetzen, sobald man sich auf dem Sitze niederläßt. Für den Fremden ist es ein sonderbarer Anblick, das ganze Haus oder doch die große Mehrheit seiner Mitglieder mit dem Hute bedeckt zu sehen. Diese Regel wird noch streng eingehalten, und jedes Mit¬ glied, das bedecktem Hauptes im Saale umhergeht oder sich auch nur von seinem Sitz entfernt, hat sofort eine Salve von Onlör-Rufen zu erwarten. Beim Beginn einer neuen Parlamentssession, wo eine Anzahl neu in das Haus eiugetretner Mitglieder erscheinen, ist dies ein nicht ungewöhnliches Er¬ eignis. Das Haus der Gemeinen ist so vollständig Herr seiner Angelegenheiten, daß es von dem Gesetz über Beleidigung (libsl) ausdrücklich ausgenommen ist. Nichts, was von einem Mitglied des Hauses gesprochen wird, ist wegen llbvl verfolgbar. Was den Thron betrifft, so verdient mit Rücksicht ans das kürz¬ liche Verhalten der Sozialdemokraten im deutscheu Reichstage bemerkt zu werden, daß der Name des Souveräns im englischen Unterhalts niemals in einem Zu¬ sammenhange genannt werden darf, daß die Meinungen und Beschlüsse der Mitglieder dadurch beeinflußt werden könnten. Wenn ein Minister oder ein Mitglied der Regierung im Laufe der Debatte den Namen des Souveräns er¬ wähnt, so kommt es nicht selten vor, daß sich ein Mitglied der Opposition in einer Bemerkung zur Geschäftsordnung dagegen verwahrt. Wenn dies geschieht, so geht die Entscheidung des Sprechers ein für allemal dahin, daß die Ein¬ führung des königlichen Namens in die Debatte nur zulässig sei, soweit es das Bedürfnis einer Erörterung des gerade auf der Tagesordnung stehenden Gegen¬ standes mit sich bringe. Der Inhaber des englischen Thrones ist nach kon¬ stitutionellem Recht ein Mitglied des Hauses der Lords, und bis zum Re¬ gierungsantritt der Königin Viktoria besuchte der König mich gelegentlich das Haus, um die Gesichtspunkte seiner Politik darzulegen, wenn auch nicht gerade, um sich aktiv an den Debatten zu beteiligen. Während der Regierung der gegenwärtige» Königin — der längsten Negierung, die die Geschichte von irgend einen, weiblichen Souverän kennt, und in drei oder vier Jahren der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/314>, abgerufen am 23.07.2024.