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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Parlament und jXirlamentsdisziplin in England

Erhebung ein Parteimann gewesen so gut wie andre. Aber von dem Tilge
an, wo er als Sprecher zum Vorsitzenden des Hnuses gewählt worden ist,
hat er sich so völlig als parteilos gezeigt, daß seine Wiederwahl bei Er¬
öffnung jeder neuen Parlamentssession mis etwas selbstverständliches gilt.
Es ist übrigens die überlieferte Anschauung deS Hauses, daß die beiden großen
sich gegenüberstehenden Parteien sich gleichmäßig für verpflichtet halten, bei
jedem Vorkommnis die Geschäftsleitung zu unterstützen. Diese Überlieferung
wird sogar in Fällen beobachtet, wo die allgemeine Empfindung des Hauses
dahin geht, daß der Sprecher einen Mißgriff begangen habe. Immerhin kann
mich der Sprecher keine willkürliche Entscheidung fällen. Seit vielen Jahren
ist es das Amt des ersten Pnrlamentssekrctärs (olücck olsrlc), über jede ge¬
schäftsleitende Anordnung des Sprechers oder des sogenannten Chairman of
Committees, d. h. des in Abwesenheit des Sprechers Vorsitzenden Hausbeamteu,
ein besondres Protokoll aufzunehmen. Diese Anordnungen werden, auch wenn
sie die unbedeutendste" Gegenstände betreffen, u"ter der Aufsicht des ersten
Sekretärs vollständig verzeichnet und gedruckt. Ein Exemplar dieser Protokolle
ist dem Inhaber des Präsidentenstuhls jederzeit zur Hand. Es ist mit einem
so genauen Inhaltsverzeichnis versehen und den bezahlten Hausbeamten über¬
dies so genau bekannt, daß der Sprecher jeden Augenblick seinen Finger auf
irgeud einen Präzedenzfall legen kann, so oft es sich um eine Regel der Ge¬
schäftsordnung handelt. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür trug sich vor
fünf oder sechs Jahren zu. Der bekannte Demokrat Mr. Labouchere äußerte
im Verlaufe der Debatte, er glaube nicht an die Nichtigkeit einer thatsächlichen
Bemerkung des Lord Salisbury, des damaligen ersten Ministers. Der Chairman
of Committees, der damals den Vorsitz führte (Mr. Conrtheh), rief dafür den
Sprecher zur Ordnung und bemerkte, es gehöre sich nicht (sei out ok oriisr)
für Mr. Lnbouchere, zu sagen, er glaube nicht an das von Lord Salisbury
als Thatsache erzählte Vorkommnis. Er forderte ihn auf, diesen Ausdruck
zurückzunehmen. Mr. Labouchere weigerte sich, und der Chairman schritt nun¬
mehr dazu, ihn zu "nennen" (in>.ins), wie die technische Bezeichnung lautet,
weil er die Autorität des Vorsitzende" mißachte. In Übereinstimmung mit
der übliche" Praxis wurde darauf der Ausschluß (8v.8pLnsic>n) Mr. Lnboucheres
vom Besuch des Hauses beantragt und durch Abstimmung beschlossen. Der
Vorgang setzte die damals in Opposition befindliche liberale Partei in große Auf¬
regung, und man beabsichtigte, ihn als eine Überschreitung der Rechte des Prä¬
sidenten weiter zu verfolgen. Bei näherer Untersuchung fand sich jedoch, daß sich
vor vielen, vielen Jahren ein ähnlicher Vorgang abgespielt hatte, und daß sich
allerdings aus jenem Präzedenzfall die Berechtigung zu dem vom Vorsitzende"
gewählten Vorgehe" ergab. Ans diesem Grunde entschloß sich die liberale
Partei unter Führung Mr. Gladstones, der größten Autorität in Sachen der
Geschäftsordnung und der Präzedenzfälle, die Angelegenheit fallen zu lassen.


Parlament und jXirlamentsdisziplin in England

Erhebung ein Parteimann gewesen so gut wie andre. Aber von dem Tilge
an, wo er als Sprecher zum Vorsitzenden des Hnuses gewählt worden ist,
hat er sich so völlig als parteilos gezeigt, daß seine Wiederwahl bei Er¬
öffnung jeder neuen Parlamentssession mis etwas selbstverständliches gilt.
Es ist übrigens die überlieferte Anschauung deS Hauses, daß die beiden großen
sich gegenüberstehenden Parteien sich gleichmäßig für verpflichtet halten, bei
jedem Vorkommnis die Geschäftsleitung zu unterstützen. Diese Überlieferung
wird sogar in Fällen beobachtet, wo die allgemeine Empfindung des Hauses
dahin geht, daß der Sprecher einen Mißgriff begangen habe. Immerhin kann
mich der Sprecher keine willkürliche Entscheidung fällen. Seit vielen Jahren
ist es das Amt des ersten Pnrlamentssekrctärs (olücck olsrlc), über jede ge¬
schäftsleitende Anordnung des Sprechers oder des sogenannten Chairman of
Committees, d. h. des in Abwesenheit des Sprechers Vorsitzenden Hausbeamteu,
ein besondres Protokoll aufzunehmen. Diese Anordnungen werden, auch wenn
sie die unbedeutendste» Gegenstände betreffen, u»ter der Aufsicht des ersten
Sekretärs vollständig verzeichnet und gedruckt. Ein Exemplar dieser Protokolle
ist dem Inhaber des Präsidentenstuhls jederzeit zur Hand. Es ist mit einem
so genauen Inhaltsverzeichnis versehen und den bezahlten Hausbeamten über¬
dies so genau bekannt, daß der Sprecher jeden Augenblick seinen Finger auf
irgeud einen Präzedenzfall legen kann, so oft es sich um eine Regel der Ge¬
schäftsordnung handelt. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür trug sich vor
fünf oder sechs Jahren zu. Der bekannte Demokrat Mr. Labouchere äußerte
im Verlaufe der Debatte, er glaube nicht an die Nichtigkeit einer thatsächlichen
Bemerkung des Lord Salisbury, des damaligen ersten Ministers. Der Chairman
of Committees, der damals den Vorsitz führte (Mr. Conrtheh), rief dafür den
Sprecher zur Ordnung und bemerkte, es gehöre sich nicht (sei out ok oriisr)
für Mr. Lnbouchere, zu sagen, er glaube nicht an das von Lord Salisbury
als Thatsache erzählte Vorkommnis. Er forderte ihn auf, diesen Ausdruck
zurückzunehmen. Mr. Labouchere weigerte sich, und der Chairman schritt nun¬
mehr dazu, ihn zu „nennen" (in>.ins), wie die technische Bezeichnung lautet,
weil er die Autorität des Vorsitzende» mißachte. In Übereinstimmung mit
der übliche» Praxis wurde darauf der Ausschluß (8v.8pLnsic>n) Mr. Lnboucheres
vom Besuch des Hauses beantragt und durch Abstimmung beschlossen. Der
Vorgang setzte die damals in Opposition befindliche liberale Partei in große Auf¬
regung, und man beabsichtigte, ihn als eine Überschreitung der Rechte des Prä¬
sidenten weiter zu verfolgen. Bei näherer Untersuchung fand sich jedoch, daß sich
vor vielen, vielen Jahren ein ähnlicher Vorgang abgespielt hatte, und daß sich
allerdings aus jenem Präzedenzfall die Berechtigung zu dem vom Vorsitzende»
gewählten Vorgehe» ergab. Ans diesem Grunde entschloß sich die liberale
Partei unter Führung Mr. Gladstones, der größten Autorität in Sachen der
Geschäftsordnung und der Präzedenzfälle, die Angelegenheit fallen zu lassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/311>, abgerufen am 23.07.2024.