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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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vor der Autorität und vor der geschichtlichen Entwicklung, die er als der englischen
Denkweise gewissermaßen erblich innewohnend bezeichnet. Er erzählt, wie er
einst in einem Eisenbahnkoupee einige Studenten sich darüber streiten hörte,
wer das beste Latein spräche, die Engländer, die Schotten oder die Iren.
"Jeder hielt seine Meinung völlig unbekümmert um die andern aufrecht, sie
wurden immer hitziger, die Aussichten auf eine Lösung der Frage wurden
immer schwieriger, bis zuletzt einer vorschlug, meine Entscheidung anzurufen.
Obgleich ich ihnen erklärte, daß ich als Fremder nicht imstande wäre, den
Schiedsrichter zu spielen, drangen sie doch in mich, meine Meinung aus-
zusprechen. Was sie nun auch schließlich über meine Ansicht gedacht haben
mögen (natürlich entschied ich mich für das viel verlästerte irische Latein), so
waren sie doch mit meinem Ausspruch völlig zufriedengestellt und sahen offenbar
die Sache damit als abgethan an."

Es ist nicht allgemein bekannt, nicht einmal in England selbst, daß im
Oberhause oder dem Hause der Lords kein Präsident oder Sprecher in Fragen
der Geschäftsordnung eine Entscheidung zu treffen hat. Dem liegt der Ge¬
danke zu Grunde, daß die Versammlung aus Gentlemen zusammengesetzt sei,
die gar nicht fähig seien, sich ungebührlich zu betragen oder sonst gegen die
Ordnung zu verstoßen. Der Lvrdkanzler, der auf dem Wollsack sitzende Prä¬
sident des Oberhauses, wird mit 5000 Pfund Sterling oder 100000 Mark
jährlich nur dafür bezahlt, daß er dem Hause vor der Abstimmung die Fragen
vorlegt und sodann das Ergebnis der Abstimmung verkündet. Im Punkte
der Disziplin hat er keine leitende Stimme. Der Gedanke ist, wie gesagt, daß
die edeln Lords ganz außer stände seien, jemals out cet o> <!er zu geraten. Ent¬
steht die Frage, wer von zwei oder drei gleichzeitig ausgestandner Rednern
zuerst zu Worte kommen soll, und will keiner von ihnen nachgeben, so bedarf
es eines Antrags um das Haus, wer von den mehreren zuerst gehört werden
soll, und über einen solchen Antrag haben in den letzten drei oder vier Jahren
förmliche Abstimmungen stattgefunden. Sollte irgend ein Vorgang Maßregeln
zur Aufrechterhaltung der Ordnung nötig machen, so kann die Frage mir in
derselben Weise erledigt werden.

Im Unterhause oder im Hause der Gemeinen giebt es einige wenige fest¬
stehende Bestimmungen (stÄvämg- orävrs), doch sie regeln hauptsächlich gewisse
wesentliche Punkte der eigentlichen Geschäftsordnung. Erst in den letzten
Jahren hat man ewige zusätzliche Bestimmungen eingeführt, die sich mit der
Frage ordnungswidrigen Betragens der Mitglieder beschäftigen. Auch ihrer
sind aber nur wenige, sie sind knapp in der Fassung und bewegen sich in
so technischen Ausdrücken, daß sie für den gewöhnlichen Leser kaum verständ¬
lich sind.

Im Hause der Gemeinen ist der Sprecher seit unvordenklicher Zeit als
eine Person anerkannt, die über den Parteien steht. Zwar ist er bis zu seiner


vor der Autorität und vor der geschichtlichen Entwicklung, die er als der englischen
Denkweise gewissermaßen erblich innewohnend bezeichnet. Er erzählt, wie er
einst in einem Eisenbahnkoupee einige Studenten sich darüber streiten hörte,
wer das beste Latein spräche, die Engländer, die Schotten oder die Iren.
„Jeder hielt seine Meinung völlig unbekümmert um die andern aufrecht, sie
wurden immer hitziger, die Aussichten auf eine Lösung der Frage wurden
immer schwieriger, bis zuletzt einer vorschlug, meine Entscheidung anzurufen.
Obgleich ich ihnen erklärte, daß ich als Fremder nicht imstande wäre, den
Schiedsrichter zu spielen, drangen sie doch in mich, meine Meinung aus-
zusprechen. Was sie nun auch schließlich über meine Ansicht gedacht haben
mögen (natürlich entschied ich mich für das viel verlästerte irische Latein), so
waren sie doch mit meinem Ausspruch völlig zufriedengestellt und sahen offenbar
die Sache damit als abgethan an."

Es ist nicht allgemein bekannt, nicht einmal in England selbst, daß im
Oberhause oder dem Hause der Lords kein Präsident oder Sprecher in Fragen
der Geschäftsordnung eine Entscheidung zu treffen hat. Dem liegt der Ge¬
danke zu Grunde, daß die Versammlung aus Gentlemen zusammengesetzt sei,
die gar nicht fähig seien, sich ungebührlich zu betragen oder sonst gegen die
Ordnung zu verstoßen. Der Lvrdkanzler, der auf dem Wollsack sitzende Prä¬
sident des Oberhauses, wird mit 5000 Pfund Sterling oder 100000 Mark
jährlich nur dafür bezahlt, daß er dem Hause vor der Abstimmung die Fragen
vorlegt und sodann das Ergebnis der Abstimmung verkündet. Im Punkte
der Disziplin hat er keine leitende Stimme. Der Gedanke ist, wie gesagt, daß
die edeln Lords ganz außer stände seien, jemals out cet o> <!er zu geraten. Ent¬
steht die Frage, wer von zwei oder drei gleichzeitig ausgestandner Rednern
zuerst zu Worte kommen soll, und will keiner von ihnen nachgeben, so bedarf
es eines Antrags um das Haus, wer von den mehreren zuerst gehört werden
soll, und über einen solchen Antrag haben in den letzten drei oder vier Jahren
förmliche Abstimmungen stattgefunden. Sollte irgend ein Vorgang Maßregeln
zur Aufrechterhaltung der Ordnung nötig machen, so kann die Frage mir in
derselben Weise erledigt werden.

Im Unterhause oder im Hause der Gemeinen giebt es einige wenige fest¬
stehende Bestimmungen (stÄvämg- orävrs), doch sie regeln hauptsächlich gewisse
wesentliche Punkte der eigentlichen Geschäftsordnung. Erst in den letzten
Jahren hat man ewige zusätzliche Bestimmungen eingeführt, die sich mit der
Frage ordnungswidrigen Betragens der Mitglieder beschäftigen. Auch ihrer
sind aber nur wenige, sie sind knapp in der Fassung und bewegen sich in
so technischen Ausdrücken, daß sie für den gewöhnlichen Leser kaum verständ¬
lich sind.

Im Hause der Gemeinen ist der Sprecher seit unvordenklicher Zeit als
eine Person anerkannt, die über den Parteien steht. Zwar ist er bis zu seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/310>, abgerufen am 22.07.2024.