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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die rechtliche Stellung des Arztes

zwar mit der Wirkung abgelöst hatte, daß der Zustand des Kranken in der
That gebessert worden war. Professor Leyden in Berlin ist also im Irrtum,
wenn er in seiner Klinik vorträgt, wie der Chirurg Schmerz verursache, ja
den Kranken in Lebensgefahr versetze, so sei es der Medizin überhaupt ge¬
stattet, zur Herbeiführung eines "erziehlichen" Eindruckes Schmerz und Furcht
zu erregen; denn der zuletzt erwähnte Erfolg wird ausnahmslos ausfallen,
sobald die Zustimmung des Mißhandelten vorliegt, ohne die dem Arzt die Ge¬
fahr der Strafverfolgung droht, und die Ärzte, die, wie am 13. Mai 1892
von einem Fachmann bezeugt worden ist, noch jetzt das Glüheisen und den
elektrischen Pinsel anwenden, treiben ein bedenkliches Spiel und bleiben wohl
nur dadurch geschützt, daß diese Mittel hauptsächlich in geschlossenen Irren¬
anstalten herangezogen werden, wo die Befürchtung der Entdeckung und des
Beweises fern liegt.

Daß durch diese rein geschäftliche, auch den andern Stünden zu teil
werdende Auffassung der Beziehungen zwischen dem Arzt und dem Kranken der
medizinisch-wissenschaftlichen Überzeugung irgend welcher Zwang angethan würde,
kann auf keinen Fall eingeräumt werden, da dem Arzt stets der Ausweg bleibt,
von der Behandlung zurückzutreten; er hat sich mithin nicht beschwert zu sühlen,
wenn er bei der Erfüllung seines Dienstvertrags seine Rechtspflicht verletzt
und dann gleich dem Baumeister, der den Bauherrn über die Dauerhaftigkeit
einer Anlage absichtlich falsch berichtet, sie ohne sein Wissen vornimmt oder
sich einer neuen Erfindung bedient, die sich noch nicht hinlänglich bewährt hat,
nicht allein seiner Forderung auf die Gegenleistung verlustig geht, sondern
noch mit Schadenansprüchen oder gar strafrechtlich belangt wird. Denn der¬
artigen MißHelligkeiten wird er weniger ausgesetzt sein, wenn er dem Kranken,
selbst zu seinem spätern Nachteile, nach bestem Wissen und Gewissen mit
schrankenloser Offenheit begegnet und sich allenthalben seiner Einwilligung ver¬
sichert, als wenn das von vornherein tadelnswerte Mittel einer Unwahrheit
keine oder eine ungünstige Wirkung äußert und die vertragsmäßige Natur der
gegenseitigen Beziehungen unberücksichtigt bleibt. Die innere Medizin ist heute
ihrer Diagnosen keineswegs so sicher, und kein Arzt, sei es auch der langjährige
Hausarzt, mit der Persönlichkeit des Kranken in guten und bösen Tagen so
vertraut, daß ein günstiger Nusgang einer Behandlung, die auf psychologischen
Annahmen fußt, mit Sicherheit erwartet werden könnte. Daher verwahrt sich
der Arzt am sorgfältigsten, der die privatrechtliche Seite der Beziehung er¬
kennt und stets beachtet, die ihn mit dem Kranken verbindet. Vorzugsweise
trifft das angesichts der Wahrscheinlichkeit eines tötlichen Verlaufs zu, bei dem
der Verlust von Stunden den gesamten Verhältnissen des Kranken und seiner
Familie unwiderbringlichen Schaden zufügen kann, und der Arzt nie in der Lage
ist. die volle Tragweite einer xia kraus, zu der ihn vielleicht die zufällige Um¬
gebung des Kranken zu verleiten einen selbstsüchtigen Anlaß hat, zu überblicken.


Die rechtliche Stellung des Arztes

zwar mit der Wirkung abgelöst hatte, daß der Zustand des Kranken in der
That gebessert worden war. Professor Leyden in Berlin ist also im Irrtum,
wenn er in seiner Klinik vorträgt, wie der Chirurg Schmerz verursache, ja
den Kranken in Lebensgefahr versetze, so sei es der Medizin überhaupt ge¬
stattet, zur Herbeiführung eines „erziehlichen" Eindruckes Schmerz und Furcht
zu erregen; denn der zuletzt erwähnte Erfolg wird ausnahmslos ausfallen,
sobald die Zustimmung des Mißhandelten vorliegt, ohne die dem Arzt die Ge¬
fahr der Strafverfolgung droht, und die Ärzte, die, wie am 13. Mai 1892
von einem Fachmann bezeugt worden ist, noch jetzt das Glüheisen und den
elektrischen Pinsel anwenden, treiben ein bedenkliches Spiel und bleiben wohl
nur dadurch geschützt, daß diese Mittel hauptsächlich in geschlossenen Irren¬
anstalten herangezogen werden, wo die Befürchtung der Entdeckung und des
Beweises fern liegt.

Daß durch diese rein geschäftliche, auch den andern Stünden zu teil
werdende Auffassung der Beziehungen zwischen dem Arzt und dem Kranken der
medizinisch-wissenschaftlichen Überzeugung irgend welcher Zwang angethan würde,
kann auf keinen Fall eingeräumt werden, da dem Arzt stets der Ausweg bleibt,
von der Behandlung zurückzutreten; er hat sich mithin nicht beschwert zu sühlen,
wenn er bei der Erfüllung seines Dienstvertrags seine Rechtspflicht verletzt
und dann gleich dem Baumeister, der den Bauherrn über die Dauerhaftigkeit
einer Anlage absichtlich falsch berichtet, sie ohne sein Wissen vornimmt oder
sich einer neuen Erfindung bedient, die sich noch nicht hinlänglich bewährt hat,
nicht allein seiner Forderung auf die Gegenleistung verlustig geht, sondern
noch mit Schadenansprüchen oder gar strafrechtlich belangt wird. Denn der¬
artigen MißHelligkeiten wird er weniger ausgesetzt sein, wenn er dem Kranken,
selbst zu seinem spätern Nachteile, nach bestem Wissen und Gewissen mit
schrankenloser Offenheit begegnet und sich allenthalben seiner Einwilligung ver¬
sichert, als wenn das von vornherein tadelnswerte Mittel einer Unwahrheit
keine oder eine ungünstige Wirkung äußert und die vertragsmäßige Natur der
gegenseitigen Beziehungen unberücksichtigt bleibt. Die innere Medizin ist heute
ihrer Diagnosen keineswegs so sicher, und kein Arzt, sei es auch der langjährige
Hausarzt, mit der Persönlichkeit des Kranken in guten und bösen Tagen so
vertraut, daß ein günstiger Nusgang einer Behandlung, die auf psychologischen
Annahmen fußt, mit Sicherheit erwartet werden könnte. Daher verwahrt sich
der Arzt am sorgfältigsten, der die privatrechtliche Seite der Beziehung er¬
kennt und stets beachtet, die ihn mit dem Kranken verbindet. Vorzugsweise
trifft das angesichts der Wahrscheinlichkeit eines tötlichen Verlaufs zu, bei dem
der Verlust von Stunden den gesamten Verhältnissen des Kranken und seiner
Familie unwiderbringlichen Schaden zufügen kann, und der Arzt nie in der Lage
ist. die volle Tragweite einer xia kraus, zu der ihn vielleicht die zufällige Um¬
gebung des Kranken zu verleiten einen selbstsüchtigen Anlaß hat, zu überblicken.


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[0275] Die rechtliche Stellung des Arztes zwar mit der Wirkung abgelöst hatte, daß der Zustand des Kranken in der That gebessert worden war. Professor Leyden in Berlin ist also im Irrtum, wenn er in seiner Klinik vorträgt, wie der Chirurg Schmerz verursache, ja den Kranken in Lebensgefahr versetze, so sei es der Medizin überhaupt ge¬ stattet, zur Herbeiführung eines „erziehlichen" Eindruckes Schmerz und Furcht zu erregen; denn der zuletzt erwähnte Erfolg wird ausnahmslos ausfallen, sobald die Zustimmung des Mißhandelten vorliegt, ohne die dem Arzt die Ge¬ fahr der Strafverfolgung droht, und die Ärzte, die, wie am 13. Mai 1892 von einem Fachmann bezeugt worden ist, noch jetzt das Glüheisen und den elektrischen Pinsel anwenden, treiben ein bedenkliches Spiel und bleiben wohl nur dadurch geschützt, daß diese Mittel hauptsächlich in geschlossenen Irren¬ anstalten herangezogen werden, wo die Befürchtung der Entdeckung und des Beweises fern liegt. Daß durch diese rein geschäftliche, auch den andern Stünden zu teil werdende Auffassung der Beziehungen zwischen dem Arzt und dem Kranken der medizinisch-wissenschaftlichen Überzeugung irgend welcher Zwang angethan würde, kann auf keinen Fall eingeräumt werden, da dem Arzt stets der Ausweg bleibt, von der Behandlung zurückzutreten; er hat sich mithin nicht beschwert zu sühlen, wenn er bei der Erfüllung seines Dienstvertrags seine Rechtspflicht verletzt und dann gleich dem Baumeister, der den Bauherrn über die Dauerhaftigkeit einer Anlage absichtlich falsch berichtet, sie ohne sein Wissen vornimmt oder sich einer neuen Erfindung bedient, die sich noch nicht hinlänglich bewährt hat, nicht allein seiner Forderung auf die Gegenleistung verlustig geht, sondern noch mit Schadenansprüchen oder gar strafrechtlich belangt wird. Denn der¬ artigen MißHelligkeiten wird er weniger ausgesetzt sein, wenn er dem Kranken, selbst zu seinem spätern Nachteile, nach bestem Wissen und Gewissen mit schrankenloser Offenheit begegnet und sich allenthalben seiner Einwilligung ver¬ sichert, als wenn das von vornherein tadelnswerte Mittel einer Unwahrheit keine oder eine ungünstige Wirkung äußert und die vertragsmäßige Natur der gegenseitigen Beziehungen unberücksichtigt bleibt. Die innere Medizin ist heute ihrer Diagnosen keineswegs so sicher, und kein Arzt, sei es auch der langjährige Hausarzt, mit der Persönlichkeit des Kranken in guten und bösen Tagen so vertraut, daß ein günstiger Nusgang einer Behandlung, die auf psychologischen Annahmen fußt, mit Sicherheit erwartet werden könnte. Daher verwahrt sich der Arzt am sorgfältigsten, der die privatrechtliche Seite der Beziehung er¬ kennt und stets beachtet, die ihn mit dem Kranken verbindet. Vorzugsweise trifft das angesichts der Wahrscheinlichkeit eines tötlichen Verlaufs zu, bei dem der Verlust von Stunden den gesamten Verhältnissen des Kranken und seiner Familie unwiderbringlichen Schaden zufügen kann, und der Arzt nie in der Lage ist. die volle Tragweite einer xia kraus, zu der ihn vielleicht die zufällige Um¬ gebung des Kranken zu verleiten einen selbstsüchtigen Anlaß hat, zu überblicken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/275>, abgerufen am 28.09.2024.