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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die rechtliche Stellung des Arztes

ohne die ihm nach Gesetz und Recht, Treue und Glauben obliegende Gegen¬
leistung zu gewähren. Es kann sogar fraglich sein, ob der Arzt nicht ver¬
bunden ist, von der einfachen Thatsache, daß die gewählte Behandlungsart
von hervorragenden Vertretern der Medizin verworfen wird, Mitteilung zu
macheu; denn es kann dem Kranken offenbar nicht gleichgiltig sein, ob er zum
Versuchsgegenstand einer noch mehr oder weniger unerprobten Lehre dienen
soll und ihm stillschweigend die Aufgabe zugedacht ist, später statistisch für oder
wider die Neuerung verwertet zu werden. Jedenfalls ist es ebenso unzulässig,
daß der Arzt bei einem bloß eingebildeten Übel mit dem Zusatz u. a. k. v.*)
einfachen Milchzucker verschreibt, als daß er unheilbaren Kranken Verordnungen
und Besuche widmet, da er hier wie dort eine Unwahrheit vorspiegelt und
dabei doch den Zweck mit verfolgt, ein Entgelt zu beziehen, das ihm kaum zu¬
fließen würde, wenn dem andern die volle Wahrheit bekannt wäre.

Es ist ein altes Herkommen, daß es die Ärzte lieben, ihre Thätigkeit mit
dem Schimmer des Geheimnisvoller zu umgeben, ähnlich den Medizinmännern
der Indianer, die zugleich Zauberer sind. Schon Platon, der sonst die Lüge
verabscheute, soll sie den Ärzten erlaubt haben, die Ärzte selbst pflegen die hier
besprochnen Gewohnheiten aus therapeutischen Gründen zu rechtfertigen, und
ein bekannter Psychiater hat sogar eine Lehre von "Humanitätslügen" auf¬
gestellt, zu denen der Arzt und vorzugsweise der Jrrenarzt nach Befinden dem
Kranken selbst und allen Beteiligten gegenüber moralisch verpflichtet sein soll.
Wenn jedoch Dr. irisä. Baer in seinem Werke über den Verbrecher (Leipzig,
1893) sagt: "Die Lüge ist eine an sich unsittliche Handlung, und wer diese
nicht von sich weist, kann den Namen eines sittlichen Menschen nicht bean¬
spruchen," so ist nicht abzusehen, weshalb gerade für das Verhältnis zwischen
der Medizin und der gebildeten Menschheit im allgemeinen und dem Arzt und
seinem Kranken im besondern die Regel eintreten soll, daß eine bewußte Un¬
wahrheit nur durch ihre Verbindung mit böser Absicht verwerflich wird, also
der Zweck das Mittel heiligt. Daher gedenkt auch der französische Arzt
Brouardel (I^s sevrst mocki<zg,1, Paris, 1887) gar nicht der Möglichkeit, be¬
fugten oder unbefugten Forschungen nach dem Befinden der von ihm Unter¬
suchten durch wahrheitswidrige Angaben auszuweichen.

Ebenso wenig wie man dem Arzte eine eigentümliche Berufssittlichkeit zu¬
gestehen kann, kann man vom mehr medizinischen Standpunkt aus zu einer
andern Beurteilung kommen. Erst vor wenigen Monaten hat das Reichs¬
gericht in einem Erkenntnis den Grundsatz hervorgehoben, daß es ganz un¬
erheblich sei, ob eine Handlung medizinisch gerechtfertigt oder menschlich ent¬
schuldbar sei, und zu Ungunsten des der Körperverletzung angeklagten Arztes
entschieden, der den Fuß eines Kindes gegen den Einspruch des Vaters und



-) Damit es so aussieht, als geschähe etwas.
Die rechtliche Stellung des Arztes

ohne die ihm nach Gesetz und Recht, Treue und Glauben obliegende Gegen¬
leistung zu gewähren. Es kann sogar fraglich sein, ob der Arzt nicht ver¬
bunden ist, von der einfachen Thatsache, daß die gewählte Behandlungsart
von hervorragenden Vertretern der Medizin verworfen wird, Mitteilung zu
macheu; denn es kann dem Kranken offenbar nicht gleichgiltig sein, ob er zum
Versuchsgegenstand einer noch mehr oder weniger unerprobten Lehre dienen
soll und ihm stillschweigend die Aufgabe zugedacht ist, später statistisch für oder
wider die Neuerung verwertet zu werden. Jedenfalls ist es ebenso unzulässig,
daß der Arzt bei einem bloß eingebildeten Übel mit dem Zusatz u. a. k. v.*)
einfachen Milchzucker verschreibt, als daß er unheilbaren Kranken Verordnungen
und Besuche widmet, da er hier wie dort eine Unwahrheit vorspiegelt und
dabei doch den Zweck mit verfolgt, ein Entgelt zu beziehen, das ihm kaum zu¬
fließen würde, wenn dem andern die volle Wahrheit bekannt wäre.

Es ist ein altes Herkommen, daß es die Ärzte lieben, ihre Thätigkeit mit
dem Schimmer des Geheimnisvoller zu umgeben, ähnlich den Medizinmännern
der Indianer, die zugleich Zauberer sind. Schon Platon, der sonst die Lüge
verabscheute, soll sie den Ärzten erlaubt haben, die Ärzte selbst pflegen die hier
besprochnen Gewohnheiten aus therapeutischen Gründen zu rechtfertigen, und
ein bekannter Psychiater hat sogar eine Lehre von „Humanitätslügen" auf¬
gestellt, zu denen der Arzt und vorzugsweise der Jrrenarzt nach Befinden dem
Kranken selbst und allen Beteiligten gegenüber moralisch verpflichtet sein soll.
Wenn jedoch Dr. irisä. Baer in seinem Werke über den Verbrecher (Leipzig,
1893) sagt: „Die Lüge ist eine an sich unsittliche Handlung, und wer diese
nicht von sich weist, kann den Namen eines sittlichen Menschen nicht bean¬
spruchen," so ist nicht abzusehen, weshalb gerade für das Verhältnis zwischen
der Medizin und der gebildeten Menschheit im allgemeinen und dem Arzt und
seinem Kranken im besondern die Regel eintreten soll, daß eine bewußte Un¬
wahrheit nur durch ihre Verbindung mit böser Absicht verwerflich wird, also
der Zweck das Mittel heiligt. Daher gedenkt auch der französische Arzt
Brouardel (I^s sevrst mocki<zg,1, Paris, 1887) gar nicht der Möglichkeit, be¬
fugten oder unbefugten Forschungen nach dem Befinden der von ihm Unter¬
suchten durch wahrheitswidrige Angaben auszuweichen.

Ebenso wenig wie man dem Arzte eine eigentümliche Berufssittlichkeit zu¬
gestehen kann, kann man vom mehr medizinischen Standpunkt aus zu einer
andern Beurteilung kommen. Erst vor wenigen Monaten hat das Reichs¬
gericht in einem Erkenntnis den Grundsatz hervorgehoben, daß es ganz un¬
erheblich sei, ob eine Handlung medizinisch gerechtfertigt oder menschlich ent¬
schuldbar sei, und zu Ungunsten des der Körperverletzung angeklagten Arztes
entschieden, der den Fuß eines Kindes gegen den Einspruch des Vaters und



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[0274] Die rechtliche Stellung des Arztes ohne die ihm nach Gesetz und Recht, Treue und Glauben obliegende Gegen¬ leistung zu gewähren. Es kann sogar fraglich sein, ob der Arzt nicht ver¬ bunden ist, von der einfachen Thatsache, daß die gewählte Behandlungsart von hervorragenden Vertretern der Medizin verworfen wird, Mitteilung zu macheu; denn es kann dem Kranken offenbar nicht gleichgiltig sein, ob er zum Versuchsgegenstand einer noch mehr oder weniger unerprobten Lehre dienen soll und ihm stillschweigend die Aufgabe zugedacht ist, später statistisch für oder wider die Neuerung verwertet zu werden. Jedenfalls ist es ebenso unzulässig, daß der Arzt bei einem bloß eingebildeten Übel mit dem Zusatz u. a. k. v.*) einfachen Milchzucker verschreibt, als daß er unheilbaren Kranken Verordnungen und Besuche widmet, da er hier wie dort eine Unwahrheit vorspiegelt und dabei doch den Zweck mit verfolgt, ein Entgelt zu beziehen, das ihm kaum zu¬ fließen würde, wenn dem andern die volle Wahrheit bekannt wäre. Es ist ein altes Herkommen, daß es die Ärzte lieben, ihre Thätigkeit mit dem Schimmer des Geheimnisvoller zu umgeben, ähnlich den Medizinmännern der Indianer, die zugleich Zauberer sind. Schon Platon, der sonst die Lüge verabscheute, soll sie den Ärzten erlaubt haben, die Ärzte selbst pflegen die hier besprochnen Gewohnheiten aus therapeutischen Gründen zu rechtfertigen, und ein bekannter Psychiater hat sogar eine Lehre von „Humanitätslügen" auf¬ gestellt, zu denen der Arzt und vorzugsweise der Jrrenarzt nach Befinden dem Kranken selbst und allen Beteiligten gegenüber moralisch verpflichtet sein soll. Wenn jedoch Dr. irisä. Baer in seinem Werke über den Verbrecher (Leipzig, 1893) sagt: „Die Lüge ist eine an sich unsittliche Handlung, und wer diese nicht von sich weist, kann den Namen eines sittlichen Menschen nicht bean¬ spruchen," so ist nicht abzusehen, weshalb gerade für das Verhältnis zwischen der Medizin und der gebildeten Menschheit im allgemeinen und dem Arzt und seinem Kranken im besondern die Regel eintreten soll, daß eine bewußte Un¬ wahrheit nur durch ihre Verbindung mit böser Absicht verwerflich wird, also der Zweck das Mittel heiligt. Daher gedenkt auch der französische Arzt Brouardel (I^s sevrst mocki<zg,1, Paris, 1887) gar nicht der Möglichkeit, be¬ fugten oder unbefugten Forschungen nach dem Befinden der von ihm Unter¬ suchten durch wahrheitswidrige Angaben auszuweichen. Ebenso wenig wie man dem Arzte eine eigentümliche Berufssittlichkeit zu¬ gestehen kann, kann man vom mehr medizinischen Standpunkt aus zu einer andern Beurteilung kommen. Erst vor wenigen Monaten hat das Reichs¬ gericht in einem Erkenntnis den Grundsatz hervorgehoben, daß es ganz un¬ erheblich sei, ob eine Handlung medizinisch gerechtfertigt oder menschlich ent¬ schuldbar sei, und zu Ungunsten des der Körperverletzung angeklagten Arztes entschieden, der den Fuß eines Kindes gegen den Einspruch des Vaters und -) Damit es so aussieht, als geschähe etwas.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/274>, abgerufen am 26.06.2024.