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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Christentum und die soziale Frage

denkt in seinem größern Werke 1893 in diesem Punkte ganz anders als in
seinen Hamburger Reden 1894. Seine Stellung als Christ zur Sozialdemo¬
kratie mußte sich ändern mit seinem veränderten politischen Urteil. Ein solcher
Wechsel ist vollkommen gerechtfertigt, ohne daß ihn ein Christ, der politisch
anders denkt, mitmachen müßte.

Zu demselben Ergebnis kommt man, wenn man von einem Worte des
Apostels Paulus ausgeht, das gern in dieser Frage gebraucht wird: "Jeder¬
mann sei Unterthan der Obrigkeit." In den Kreisen, die die handliche Formel:
"Thron und Altar" geschaffen haben, setzt man einfach Obrigkeit gleich Monarch
und verurteilt dann die Sozialdemokratie als Gegnerin der Monarchie, wie
man mit demselben Beweisgründe alle Liberalen verdammt hat und offen oder
im geheimen noch jetzt verdammt. Allein da das Christentum keine politische
Weisheitslehre ist, da es über Wert oder Unwert von Monarchie und Re¬
publik nichts aussagt, so werden wir den Begriff "Obrigkeit" nicht so leichthin
bestimmen dürfen.

Was "Obrigkeit" sei, kann nicht zu allen Zeiten gleich beantwortet werden.
Als Paulus jenes Wort schrieb, war es der schrankenlose Absolutismus, des
römischen Cäsarentums; nach langen geschichtlichen Wandlungen ist es fast in
ganz Deutschland die konstitutionelle Monarchie. Mag man diese nun näher
bestimmen, wie man will, jedenfalls hat in ihr jeder Staatsbürger durch Pre߬
freiheit und allgemeines Stimmrecht unmittelbar oder mittelbar Avteil an der
Regierung, und dadurch gehört er selbst mit zur Obrigkeit, sei es für sich
allein, wie der Herrscher, oder mit andern zusammen, wie die Masse des Volks.
Die Mahnung: "Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit" fordert daran nicht
nur Treue gegen den Herrscher, sondern ebenso sehr gegen d.le Verfassung,
gegen das Band, wodurch alle einzelnen Teile des verwickelten Ganzen zur
"Obrigkeit" vereinigt werden. Wenn sich ein Teil der als "Obrigkeit" ver-
bundnen Mächte über die verfassungsmäßigen Schranken hinwegsetzt, so muß
der Christ auf die Seite des Teils treten, der auf dem Boden der Verfassung
bleibt. Daher kann jene Mahnung des Paulus jetzt ihre Spitze auch einmal
nach einer andern Richtung kehren, als man gewöhnlich meint. Einer Ver¬
letzung der Verfassung, sei es durch einen Staatsstreich von oben, mit dem
viele jetzt liebäugeln, sei es durch Aufruhr von unten, beiden, soll der Christ
entschieden widerstehen, indem er der verfassungsmäßigen Obrigkeit nach oben
wie nach unten Treue hält. Das Christentum verurteilt unter unsern Ver¬
hältnissen absolutistische Vestrebungeu wie Umsturzplüue, weil beide rechts¬
widrig und unsittlich sind. Auch der Herrscher gehört mir innerhalb des
Rahmens der Verfassung zur Obrigkeit; setzt er sich über die gesetzlichen
Schranken hinweg, so ist er ebenso wenig Obrigkeit wie ein aufrührerischer
Reichstag.

Diese Form der Obrigkeit, wie sie sich geschichtlich in der konstitutionellen


Das Christentum und die soziale Frage

denkt in seinem größern Werke 1893 in diesem Punkte ganz anders als in
seinen Hamburger Reden 1894. Seine Stellung als Christ zur Sozialdemo¬
kratie mußte sich ändern mit seinem veränderten politischen Urteil. Ein solcher
Wechsel ist vollkommen gerechtfertigt, ohne daß ihn ein Christ, der politisch
anders denkt, mitmachen müßte.

Zu demselben Ergebnis kommt man, wenn man von einem Worte des
Apostels Paulus ausgeht, das gern in dieser Frage gebraucht wird: „Jeder¬
mann sei Unterthan der Obrigkeit." In den Kreisen, die die handliche Formel:
„Thron und Altar" geschaffen haben, setzt man einfach Obrigkeit gleich Monarch
und verurteilt dann die Sozialdemokratie als Gegnerin der Monarchie, wie
man mit demselben Beweisgründe alle Liberalen verdammt hat und offen oder
im geheimen noch jetzt verdammt. Allein da das Christentum keine politische
Weisheitslehre ist, da es über Wert oder Unwert von Monarchie und Re¬
publik nichts aussagt, so werden wir den Begriff „Obrigkeit" nicht so leichthin
bestimmen dürfen.

Was „Obrigkeit" sei, kann nicht zu allen Zeiten gleich beantwortet werden.
Als Paulus jenes Wort schrieb, war es der schrankenlose Absolutismus, des
römischen Cäsarentums; nach langen geschichtlichen Wandlungen ist es fast in
ganz Deutschland die konstitutionelle Monarchie. Mag man diese nun näher
bestimmen, wie man will, jedenfalls hat in ihr jeder Staatsbürger durch Pre߬
freiheit und allgemeines Stimmrecht unmittelbar oder mittelbar Avteil an der
Regierung, und dadurch gehört er selbst mit zur Obrigkeit, sei es für sich
allein, wie der Herrscher, oder mit andern zusammen, wie die Masse des Volks.
Die Mahnung: „Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit" fordert daran nicht
nur Treue gegen den Herrscher, sondern ebenso sehr gegen d.le Verfassung,
gegen das Band, wodurch alle einzelnen Teile des verwickelten Ganzen zur
„Obrigkeit" vereinigt werden. Wenn sich ein Teil der als „Obrigkeit" ver-
bundnen Mächte über die verfassungsmäßigen Schranken hinwegsetzt, so muß
der Christ auf die Seite des Teils treten, der auf dem Boden der Verfassung
bleibt. Daher kann jene Mahnung des Paulus jetzt ihre Spitze auch einmal
nach einer andern Richtung kehren, als man gewöhnlich meint. Einer Ver¬
letzung der Verfassung, sei es durch einen Staatsstreich von oben, mit dem
viele jetzt liebäugeln, sei es durch Aufruhr von unten, beiden, soll der Christ
entschieden widerstehen, indem er der verfassungsmäßigen Obrigkeit nach oben
wie nach unten Treue hält. Das Christentum verurteilt unter unsern Ver¬
hältnissen absolutistische Vestrebungeu wie Umsturzplüue, weil beide rechts¬
widrig und unsittlich sind. Auch der Herrscher gehört mir innerhalb des
Rahmens der Verfassung zur Obrigkeit; setzt er sich über die gesetzlichen
Schranken hinweg, so ist er ebenso wenig Obrigkeit wie ein aufrührerischer
Reichstag.

Diese Form der Obrigkeit, wie sie sich geschichtlich in der konstitutionellen


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[0253] Das Christentum und die soziale Frage denkt in seinem größern Werke 1893 in diesem Punkte ganz anders als in seinen Hamburger Reden 1894. Seine Stellung als Christ zur Sozialdemo¬ kratie mußte sich ändern mit seinem veränderten politischen Urteil. Ein solcher Wechsel ist vollkommen gerechtfertigt, ohne daß ihn ein Christ, der politisch anders denkt, mitmachen müßte. Zu demselben Ergebnis kommt man, wenn man von einem Worte des Apostels Paulus ausgeht, das gern in dieser Frage gebraucht wird: „Jeder¬ mann sei Unterthan der Obrigkeit." In den Kreisen, die die handliche Formel: „Thron und Altar" geschaffen haben, setzt man einfach Obrigkeit gleich Monarch und verurteilt dann die Sozialdemokratie als Gegnerin der Monarchie, wie man mit demselben Beweisgründe alle Liberalen verdammt hat und offen oder im geheimen noch jetzt verdammt. Allein da das Christentum keine politische Weisheitslehre ist, da es über Wert oder Unwert von Monarchie und Re¬ publik nichts aussagt, so werden wir den Begriff „Obrigkeit" nicht so leichthin bestimmen dürfen. Was „Obrigkeit" sei, kann nicht zu allen Zeiten gleich beantwortet werden. Als Paulus jenes Wort schrieb, war es der schrankenlose Absolutismus, des römischen Cäsarentums; nach langen geschichtlichen Wandlungen ist es fast in ganz Deutschland die konstitutionelle Monarchie. Mag man diese nun näher bestimmen, wie man will, jedenfalls hat in ihr jeder Staatsbürger durch Pre߬ freiheit und allgemeines Stimmrecht unmittelbar oder mittelbar Avteil an der Regierung, und dadurch gehört er selbst mit zur Obrigkeit, sei es für sich allein, wie der Herrscher, oder mit andern zusammen, wie die Masse des Volks. Die Mahnung: „Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit" fordert daran nicht nur Treue gegen den Herrscher, sondern ebenso sehr gegen d.le Verfassung, gegen das Band, wodurch alle einzelnen Teile des verwickelten Ganzen zur „Obrigkeit" vereinigt werden. Wenn sich ein Teil der als „Obrigkeit" ver- bundnen Mächte über die verfassungsmäßigen Schranken hinwegsetzt, so muß der Christ auf die Seite des Teils treten, der auf dem Boden der Verfassung bleibt. Daher kann jene Mahnung des Paulus jetzt ihre Spitze auch einmal nach einer andern Richtung kehren, als man gewöhnlich meint. Einer Ver¬ letzung der Verfassung, sei es durch einen Staatsstreich von oben, mit dem viele jetzt liebäugeln, sei es durch Aufruhr von unten, beiden, soll der Christ entschieden widerstehen, indem er der verfassungsmäßigen Obrigkeit nach oben wie nach unten Treue hält. Das Christentum verurteilt unter unsern Ver¬ hältnissen absolutistische Vestrebungeu wie Umsturzplüue, weil beide rechts¬ widrig und unsittlich sind. Auch der Herrscher gehört mir innerhalb des Rahmens der Verfassung zur Obrigkeit; setzt er sich über die gesetzlichen Schranken hinweg, so ist er ebenso wenig Obrigkeit wie ein aufrührerischer Reichstag. Diese Form der Obrigkeit, wie sie sich geschichtlich in der konstitutionellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/253>, abgerufen am 25.08.2024.