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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das "Lhrisientum und die soziale Frage

Monarchie ausgebildet hat, schließt auch die Möglichkeit einer Änderung durch
das Zusammenwirken der Beteiligten ein. Jeder Staatsbürger, der eine Ab¬
änderung oder Umänderung der bestehenden Ordnung für notwendig hält, hat
deshalb die Pflicht, die von der Verfassung gewährten Mittel zu benutzen,
um jene Änderung durchzusetzen. Diese Pflicht hat der Christ geradeso gut,
wie jeder andre Staatsbürger, weil er als Teil der Obrigkeit mit verant¬
wortlich ist. Sei jene Änderung so radikal, wie sie wolle, das Christentum
hindert ihn nicht, dasür einzutreten, wenn er nur dabei keine unsittlichen, un¬
gesetzlichen Wege einschlägt. Hat ein Christ die Überzeugung, daß eine mehr
demokratische Verfassung oder eine Republik unsre verwickelten Verhältnisse
ordnen könne, so mag er ruhig dafür eintreten. Hält er eine Reaktion oder
eine gründliche Umwälzung unsrer Wirtschaftsordnung für wünschenswert, das
Christentum verbietet ihm nicht, dafür zu wirken. Darum sollte ein Christ
nicht in gehöriger Form die Staatsordnung oder die wirtschaftlichen Grund¬
lagen unsrer Gesellschaft angreifen dürfen? Darüber, ob er es thun soll, ent¬
scheidet nicht sein Christentum, sondern seine geschichtliche und seine politische
Bildung; das Christentum hält ihn nur von einem rechtswidrigen, gewalt¬
samen Umsturz ab. Will den die Sozialdemokratie nicht, so kann ihr ein
Christ ruhig angehören.

Doch ein Punkt ist bisher bei der Betrachtung der formellen Seite über¬
gangen, während auf ihn vielfach großes Gewicht gelegt wird: die Irreligiosität
und der Atheismus der Sozialdemokraten. Vor allem steht davon nichts in
ihrem Parteiprogramm, und die atheistischen Führer dulden doch Christen
unter sich. Der Satz "Religion ist Privatsache" enthält, abgesehen von seiner
verunglückten Form, den ganz richtigen Gedanken, daß die Religion nicht
Staatssache sein soll. Das kann sie ja auch gar nicht. Wir brauchen nur
wieder an Sohm zu erinnern. Zwang und Gesetze widersprechen dem Wesen
des Christentums. Daß der sozialdemokratischen Partei so viele offne Atheisten
angehören, kann doch kein Hindernis sein, mit ihnen wirtschaftliche Forderungen
zu vertreten, wenn diese dem Christentum nicht zuwider sind. Sonst dürfte
ein Christ schwerlich eine Partei finden, der er sich anschließen könnte, denn
jede schlägt in ihrem Gebcchren oft dem Christentum ins Gesicht; wenn sie
das nur nicht von ihren Gliedern verlangt, was viele in ihr und für sie thun.
Daß jemand offen als Atheist auftritt und wirkt, ist eine viel geringere Gefahr
für das Christentum, als daß so viele im öffentlichen Leben das Christentum
aus Zweckmäßigkeitsgründen ohne Überzeugung im Munde führen. Wenn es
fast Mode scheint, daß Staatsbeamte in ihren Reden Christentum zur Schau
tragen, wenn man nicht ganz mit Unrecht von einem "offiziellen preußischen
Christentum" redet, so ist das eine schwere Gefahr, der gegenüber Mate¬
rialismus und Atheismus sozialdemokratischer Führer recht unschädlich er¬
scheinen. --


Das «Lhrisientum und die soziale Frage

Monarchie ausgebildet hat, schließt auch die Möglichkeit einer Änderung durch
das Zusammenwirken der Beteiligten ein. Jeder Staatsbürger, der eine Ab¬
änderung oder Umänderung der bestehenden Ordnung für notwendig hält, hat
deshalb die Pflicht, die von der Verfassung gewährten Mittel zu benutzen,
um jene Änderung durchzusetzen. Diese Pflicht hat der Christ geradeso gut,
wie jeder andre Staatsbürger, weil er als Teil der Obrigkeit mit verant¬
wortlich ist. Sei jene Änderung so radikal, wie sie wolle, das Christentum
hindert ihn nicht, dasür einzutreten, wenn er nur dabei keine unsittlichen, un¬
gesetzlichen Wege einschlägt. Hat ein Christ die Überzeugung, daß eine mehr
demokratische Verfassung oder eine Republik unsre verwickelten Verhältnisse
ordnen könne, so mag er ruhig dafür eintreten. Hält er eine Reaktion oder
eine gründliche Umwälzung unsrer Wirtschaftsordnung für wünschenswert, das
Christentum verbietet ihm nicht, dafür zu wirken. Darum sollte ein Christ
nicht in gehöriger Form die Staatsordnung oder die wirtschaftlichen Grund¬
lagen unsrer Gesellschaft angreifen dürfen? Darüber, ob er es thun soll, ent¬
scheidet nicht sein Christentum, sondern seine geschichtliche und seine politische
Bildung; das Christentum hält ihn nur von einem rechtswidrigen, gewalt¬
samen Umsturz ab. Will den die Sozialdemokratie nicht, so kann ihr ein
Christ ruhig angehören.

Doch ein Punkt ist bisher bei der Betrachtung der formellen Seite über¬
gangen, während auf ihn vielfach großes Gewicht gelegt wird: die Irreligiosität
und der Atheismus der Sozialdemokraten. Vor allem steht davon nichts in
ihrem Parteiprogramm, und die atheistischen Führer dulden doch Christen
unter sich. Der Satz „Religion ist Privatsache" enthält, abgesehen von seiner
verunglückten Form, den ganz richtigen Gedanken, daß die Religion nicht
Staatssache sein soll. Das kann sie ja auch gar nicht. Wir brauchen nur
wieder an Sohm zu erinnern. Zwang und Gesetze widersprechen dem Wesen
des Christentums. Daß der sozialdemokratischen Partei so viele offne Atheisten
angehören, kann doch kein Hindernis sein, mit ihnen wirtschaftliche Forderungen
zu vertreten, wenn diese dem Christentum nicht zuwider sind. Sonst dürfte
ein Christ schwerlich eine Partei finden, der er sich anschließen könnte, denn
jede schlägt in ihrem Gebcchren oft dem Christentum ins Gesicht; wenn sie
das nur nicht von ihren Gliedern verlangt, was viele in ihr und für sie thun.
Daß jemand offen als Atheist auftritt und wirkt, ist eine viel geringere Gefahr
für das Christentum, als daß so viele im öffentlichen Leben das Christentum
aus Zweckmäßigkeitsgründen ohne Überzeugung im Munde führen. Wenn es
fast Mode scheint, daß Staatsbeamte in ihren Reden Christentum zur Schau
tragen, wenn man nicht ganz mit Unrecht von einem „offiziellen preußischen
Christentum" redet, so ist das eine schwere Gefahr, der gegenüber Mate¬
rialismus und Atheismus sozialdemokratischer Führer recht unschädlich er¬
scheinen. —


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[0254] Das «Lhrisientum und die soziale Frage Monarchie ausgebildet hat, schließt auch die Möglichkeit einer Änderung durch das Zusammenwirken der Beteiligten ein. Jeder Staatsbürger, der eine Ab¬ änderung oder Umänderung der bestehenden Ordnung für notwendig hält, hat deshalb die Pflicht, die von der Verfassung gewährten Mittel zu benutzen, um jene Änderung durchzusetzen. Diese Pflicht hat der Christ geradeso gut, wie jeder andre Staatsbürger, weil er als Teil der Obrigkeit mit verant¬ wortlich ist. Sei jene Änderung so radikal, wie sie wolle, das Christentum hindert ihn nicht, dasür einzutreten, wenn er nur dabei keine unsittlichen, un¬ gesetzlichen Wege einschlägt. Hat ein Christ die Überzeugung, daß eine mehr demokratische Verfassung oder eine Republik unsre verwickelten Verhältnisse ordnen könne, so mag er ruhig dafür eintreten. Hält er eine Reaktion oder eine gründliche Umwälzung unsrer Wirtschaftsordnung für wünschenswert, das Christentum verbietet ihm nicht, dafür zu wirken. Darum sollte ein Christ nicht in gehöriger Form die Staatsordnung oder die wirtschaftlichen Grund¬ lagen unsrer Gesellschaft angreifen dürfen? Darüber, ob er es thun soll, ent¬ scheidet nicht sein Christentum, sondern seine geschichtliche und seine politische Bildung; das Christentum hält ihn nur von einem rechtswidrigen, gewalt¬ samen Umsturz ab. Will den die Sozialdemokratie nicht, so kann ihr ein Christ ruhig angehören. Doch ein Punkt ist bisher bei der Betrachtung der formellen Seite über¬ gangen, während auf ihn vielfach großes Gewicht gelegt wird: die Irreligiosität und der Atheismus der Sozialdemokraten. Vor allem steht davon nichts in ihrem Parteiprogramm, und die atheistischen Führer dulden doch Christen unter sich. Der Satz „Religion ist Privatsache" enthält, abgesehen von seiner verunglückten Form, den ganz richtigen Gedanken, daß die Religion nicht Staatssache sein soll. Das kann sie ja auch gar nicht. Wir brauchen nur wieder an Sohm zu erinnern. Zwang und Gesetze widersprechen dem Wesen des Christentums. Daß der sozialdemokratischen Partei so viele offne Atheisten angehören, kann doch kein Hindernis sein, mit ihnen wirtschaftliche Forderungen zu vertreten, wenn diese dem Christentum nicht zuwider sind. Sonst dürfte ein Christ schwerlich eine Partei finden, der er sich anschließen könnte, denn jede schlägt in ihrem Gebcchren oft dem Christentum ins Gesicht; wenn sie das nur nicht von ihren Gliedern verlangt, was viele in ihr und für sie thun. Daß jemand offen als Atheist auftritt und wirkt, ist eine viel geringere Gefahr für das Christentum, als daß so viele im öffentlichen Leben das Christentum aus Zweckmäßigkeitsgründen ohne Überzeugung im Munde führen. Wenn es fast Mode scheint, daß Staatsbeamte in ihren Reden Christentum zur Schau tragen, wenn man nicht ganz mit Unrecht von einem „offiziellen preußischen Christentum" redet, so ist das eine schwere Gefahr, der gegenüber Mate¬ rialismus und Atheismus sozialdemokratischer Führer recht unschädlich er¬ scheinen. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/254>, abgerufen am 23.07.2024.