Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Christentum und die soziale Frage

nur religiöse und eng damit verbundne sittliche Wahrheiten. Dagegen ist jedes
Gebiet irdischen Lebens und Wissens, abgesehen von jener religiösen oder sitt¬
lichen Beurteilung, selbständig in seiner Art; hier kann der Christ nur mit
denselben Mitteln arbeiten und urteilen wie jeder andre auch. So hat auch
das staatliche und wirtschaftliche Gebiet seine volle Selbständigkeit; der Christ
kann sich da nur durch wissenschaftliche Kunde, durch Erfahrung u. a. sein
Urteil bilden. Das Christentum enthält keine politischen oder wirtschaftlichen
Forderungen; jede steht ihm gleich nahe und gleich fern. Es hat also auch
keine unmittelbare Gewalt über das wirtschaftliche Leben.

Die Frage, wie sich das Christentum zu diesen oder jenen politischen und
sozialen Bewegungen, Planen, Parteien stelle, wird so gefaßt werden müssen :
Streiten jene Richtungen gegen die religiösen und sittlichen Forderungen des
Christentums? Dabei sind dann zwei Punkte zu beachten: Sind die Wege,
die die Partei u. s. w. geht, sittlich berechtigt? und: Ist das Ziel, das sie auf
wirtschaftlichem oder politischem Gebiet verfolgt, derart, daß es nicht gegen
die religiöse Forderung verstößt, Mittel zum höchsten Zweck zu sein?

"Prüfen wir hiernach eine viel erörterte Streitfrage, die Stellung des
Christentums zur Sozialdemokratie. Die Partei hat politische und wirtschaft¬
liche Ziele, die nach der Eigentümlichkeit dieser Gebiete behandelt werden
müssen; das Christentum fällt darüber unmittelbar kein Urteil. Kann ein
Christ uib.jenen Zielen einverstanden sein, so darf er Sozialdemokrat werden,
wenn diese Partei keine sittlich unberechtigten Mittel gebraucht. Die Entschei¬
dung darf nicht nach dem Auftreten einzelner Agitatoren und Blätter, sondern
sie muß nach dem gefällt werden, was die Partei als Partei thut und gut¬
heißt. Dann, bleibt von den vielen Vorwürfen nur eins übrig. Will die
Sozialdemokratie einen gewaltsamen Umsturz, eine Revolution durch rechts¬
widrige Mittel? Zur Beantwortung giebt uns das Christentum keinen be¬
sondern Anhalt; dazu muß das vorhcmdne Material sachlich geprüft werden.
Der Christ kann hier nicht anders urteilen als andre Menschen auch. Das
Christentum wird also das Ergebnis der sachlichen Prüfung abwarten nud
darnach entscheiden. Nun muß aber auch der wildeste Gegner der Sozial-
demokraten, wenn er unvoreingenommen die Stimmen prüft, zugeben, daß diese
Frage auch unter ruhigen, ernsten Männern noch strittig ist. Jeder Christ
muß hier nach seiner politischen Überzeugung entscheiden; wer die sozialdemo¬
kratische Partei von Gelüsten gewaltsamen Umsturzes freispricht -- wie der
Schreiber dieser Zeilen --, der wird sagen: Ich sehe hier keinen Grund, weshalb
ich nicht Svzialvemokrat sein könnte; wer andrer Meinung ist, der muß sagen:
Ich kann aus diesem Grunde nicht Sozialdemokrat werden. Beide werden
sich aber in dem Urteil vereinigen: Ein Christ kann Sozialdemokrat werden,
wen" er überzeugt ist, daß die Partei keine Revolution will. So mag ein
Christ zu verschiednen Zeiten ganz verschieden urteilen. Pastor Schall z. B.


Das Christentum und die soziale Frage

nur religiöse und eng damit verbundne sittliche Wahrheiten. Dagegen ist jedes
Gebiet irdischen Lebens und Wissens, abgesehen von jener religiösen oder sitt¬
lichen Beurteilung, selbständig in seiner Art; hier kann der Christ nur mit
denselben Mitteln arbeiten und urteilen wie jeder andre auch. So hat auch
das staatliche und wirtschaftliche Gebiet seine volle Selbständigkeit; der Christ
kann sich da nur durch wissenschaftliche Kunde, durch Erfahrung u. a. sein
Urteil bilden. Das Christentum enthält keine politischen oder wirtschaftlichen
Forderungen; jede steht ihm gleich nahe und gleich fern. Es hat also auch
keine unmittelbare Gewalt über das wirtschaftliche Leben.

Die Frage, wie sich das Christentum zu diesen oder jenen politischen und
sozialen Bewegungen, Planen, Parteien stelle, wird so gefaßt werden müssen :
Streiten jene Richtungen gegen die religiösen und sittlichen Forderungen des
Christentums? Dabei sind dann zwei Punkte zu beachten: Sind die Wege,
die die Partei u. s. w. geht, sittlich berechtigt? und: Ist das Ziel, das sie auf
wirtschaftlichem oder politischem Gebiet verfolgt, derart, daß es nicht gegen
die religiöse Forderung verstößt, Mittel zum höchsten Zweck zu sein?

«Prüfen wir hiernach eine viel erörterte Streitfrage, die Stellung des
Christentums zur Sozialdemokratie. Die Partei hat politische und wirtschaft¬
liche Ziele, die nach der Eigentümlichkeit dieser Gebiete behandelt werden
müssen; das Christentum fällt darüber unmittelbar kein Urteil. Kann ein
Christ uib.jenen Zielen einverstanden sein, so darf er Sozialdemokrat werden,
wenn diese Partei keine sittlich unberechtigten Mittel gebraucht. Die Entschei¬
dung darf nicht nach dem Auftreten einzelner Agitatoren und Blätter, sondern
sie muß nach dem gefällt werden, was die Partei als Partei thut und gut¬
heißt. Dann, bleibt von den vielen Vorwürfen nur eins übrig. Will die
Sozialdemokratie einen gewaltsamen Umsturz, eine Revolution durch rechts¬
widrige Mittel? Zur Beantwortung giebt uns das Christentum keinen be¬
sondern Anhalt; dazu muß das vorhcmdne Material sachlich geprüft werden.
Der Christ kann hier nicht anders urteilen als andre Menschen auch. Das
Christentum wird also das Ergebnis der sachlichen Prüfung abwarten nud
darnach entscheiden. Nun muß aber auch der wildeste Gegner der Sozial-
demokraten, wenn er unvoreingenommen die Stimmen prüft, zugeben, daß diese
Frage auch unter ruhigen, ernsten Männern noch strittig ist. Jeder Christ
muß hier nach seiner politischen Überzeugung entscheiden; wer die sozialdemo¬
kratische Partei von Gelüsten gewaltsamen Umsturzes freispricht — wie der
Schreiber dieser Zeilen —, der wird sagen: Ich sehe hier keinen Grund, weshalb
ich nicht Svzialvemokrat sein könnte; wer andrer Meinung ist, der muß sagen:
Ich kann aus diesem Grunde nicht Sozialdemokrat werden. Beide werden
sich aber in dem Urteil vereinigen: Ein Christ kann Sozialdemokrat werden,
wen» er überzeugt ist, daß die Partei keine Revolution will. So mag ein
Christ zu verschiednen Zeiten ganz verschieden urteilen. Pastor Schall z. B.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0252" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219254"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Christentum und die soziale Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_730" prev="#ID_729"> nur religiöse und eng damit verbundne sittliche Wahrheiten. Dagegen ist jedes<lb/>
Gebiet irdischen Lebens und Wissens, abgesehen von jener religiösen oder sitt¬<lb/>
lichen Beurteilung, selbständig in seiner Art; hier kann der Christ nur mit<lb/>
denselben Mitteln arbeiten und urteilen wie jeder andre auch. So hat auch<lb/>
das staatliche und wirtschaftliche Gebiet seine volle Selbständigkeit; der Christ<lb/>
kann sich da nur durch wissenschaftliche Kunde, durch Erfahrung u. a. sein<lb/>
Urteil bilden. Das Christentum enthält keine politischen oder wirtschaftlichen<lb/>
Forderungen; jede steht ihm gleich nahe und gleich fern. Es hat also auch<lb/>
keine unmittelbare Gewalt über das wirtschaftliche Leben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_731"> Die Frage, wie sich das Christentum zu diesen oder jenen politischen und<lb/>
sozialen Bewegungen, Planen, Parteien stelle, wird so gefaßt werden müssen :<lb/>
Streiten jene Richtungen gegen die religiösen und sittlichen Forderungen des<lb/>
Christentums? Dabei sind dann zwei Punkte zu beachten: Sind die Wege,<lb/>
die die Partei u. s. w. geht, sittlich berechtigt? und: Ist das Ziel, das sie auf<lb/>
wirtschaftlichem oder politischem Gebiet verfolgt, derart, daß es nicht gegen<lb/>
die religiöse Forderung verstößt, Mittel zum höchsten Zweck zu sein?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_732" next="#ID_733"> «Prüfen wir hiernach eine viel erörterte Streitfrage, die Stellung des<lb/>
Christentums zur Sozialdemokratie. Die Partei hat politische und wirtschaft¬<lb/>
liche Ziele, die nach der Eigentümlichkeit dieser Gebiete behandelt werden<lb/>
müssen; das Christentum fällt darüber unmittelbar kein Urteil. Kann ein<lb/>
Christ uib.jenen Zielen einverstanden sein, so darf er Sozialdemokrat werden,<lb/>
wenn diese Partei keine sittlich unberechtigten Mittel gebraucht. Die Entschei¬<lb/>
dung darf nicht nach dem Auftreten einzelner Agitatoren und Blätter, sondern<lb/>
sie muß nach dem gefällt werden, was die Partei als Partei thut und gut¬<lb/>
heißt. Dann, bleibt von den vielen Vorwürfen nur eins übrig. Will die<lb/>
Sozialdemokratie einen gewaltsamen Umsturz, eine Revolution durch rechts¬<lb/>
widrige Mittel? Zur Beantwortung giebt uns das Christentum keinen be¬<lb/>
sondern Anhalt; dazu muß das vorhcmdne Material sachlich geprüft werden.<lb/>
Der Christ kann hier nicht anders urteilen als andre Menschen auch. Das<lb/>
Christentum wird also das Ergebnis der sachlichen Prüfung abwarten nud<lb/>
darnach entscheiden. Nun muß aber auch der wildeste Gegner der Sozial-<lb/>
demokraten, wenn er unvoreingenommen die Stimmen prüft, zugeben, daß diese<lb/>
Frage auch unter ruhigen, ernsten Männern noch strittig ist. Jeder Christ<lb/>
muß hier nach seiner politischen Überzeugung entscheiden; wer die sozialdemo¬<lb/>
kratische Partei von Gelüsten gewaltsamen Umsturzes freispricht &#x2014; wie der<lb/>
Schreiber dieser Zeilen &#x2014;, der wird sagen: Ich sehe hier keinen Grund, weshalb<lb/>
ich nicht Svzialvemokrat sein könnte; wer andrer Meinung ist, der muß sagen:<lb/>
Ich kann aus diesem Grunde nicht Sozialdemokrat werden. Beide werden<lb/>
sich aber in dem Urteil vereinigen: Ein Christ kann Sozialdemokrat werden,<lb/>
wen» er überzeugt ist, daß die Partei keine Revolution will. So mag ein<lb/>
Christ zu verschiednen Zeiten ganz verschieden urteilen.  Pastor Schall z. B.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0252] Das Christentum und die soziale Frage nur religiöse und eng damit verbundne sittliche Wahrheiten. Dagegen ist jedes Gebiet irdischen Lebens und Wissens, abgesehen von jener religiösen oder sitt¬ lichen Beurteilung, selbständig in seiner Art; hier kann der Christ nur mit denselben Mitteln arbeiten und urteilen wie jeder andre auch. So hat auch das staatliche und wirtschaftliche Gebiet seine volle Selbständigkeit; der Christ kann sich da nur durch wissenschaftliche Kunde, durch Erfahrung u. a. sein Urteil bilden. Das Christentum enthält keine politischen oder wirtschaftlichen Forderungen; jede steht ihm gleich nahe und gleich fern. Es hat also auch keine unmittelbare Gewalt über das wirtschaftliche Leben. Die Frage, wie sich das Christentum zu diesen oder jenen politischen und sozialen Bewegungen, Planen, Parteien stelle, wird so gefaßt werden müssen : Streiten jene Richtungen gegen die religiösen und sittlichen Forderungen des Christentums? Dabei sind dann zwei Punkte zu beachten: Sind die Wege, die die Partei u. s. w. geht, sittlich berechtigt? und: Ist das Ziel, das sie auf wirtschaftlichem oder politischem Gebiet verfolgt, derart, daß es nicht gegen die religiöse Forderung verstößt, Mittel zum höchsten Zweck zu sein? «Prüfen wir hiernach eine viel erörterte Streitfrage, die Stellung des Christentums zur Sozialdemokratie. Die Partei hat politische und wirtschaft¬ liche Ziele, die nach der Eigentümlichkeit dieser Gebiete behandelt werden müssen; das Christentum fällt darüber unmittelbar kein Urteil. Kann ein Christ uib.jenen Zielen einverstanden sein, so darf er Sozialdemokrat werden, wenn diese Partei keine sittlich unberechtigten Mittel gebraucht. Die Entschei¬ dung darf nicht nach dem Auftreten einzelner Agitatoren und Blätter, sondern sie muß nach dem gefällt werden, was die Partei als Partei thut und gut¬ heißt. Dann, bleibt von den vielen Vorwürfen nur eins übrig. Will die Sozialdemokratie einen gewaltsamen Umsturz, eine Revolution durch rechts¬ widrige Mittel? Zur Beantwortung giebt uns das Christentum keinen be¬ sondern Anhalt; dazu muß das vorhcmdne Material sachlich geprüft werden. Der Christ kann hier nicht anders urteilen als andre Menschen auch. Das Christentum wird also das Ergebnis der sachlichen Prüfung abwarten nud darnach entscheiden. Nun muß aber auch der wildeste Gegner der Sozial- demokraten, wenn er unvoreingenommen die Stimmen prüft, zugeben, daß diese Frage auch unter ruhigen, ernsten Männern noch strittig ist. Jeder Christ muß hier nach seiner politischen Überzeugung entscheiden; wer die sozialdemo¬ kratische Partei von Gelüsten gewaltsamen Umsturzes freispricht — wie der Schreiber dieser Zeilen —, der wird sagen: Ich sehe hier keinen Grund, weshalb ich nicht Svzialvemokrat sein könnte; wer andrer Meinung ist, der muß sagen: Ich kann aus diesem Grunde nicht Sozialdemokrat werden. Beide werden sich aber in dem Urteil vereinigen: Ein Christ kann Sozialdemokrat werden, wen» er überzeugt ist, daß die Partei keine Revolution will. So mag ein Christ zu verschiednen Zeiten ganz verschieden urteilen. Pastor Schall z. B.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/252
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/252>, abgerufen am 25.08.2024.