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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Moderne in der Wissenschaft

bei ihm auf jeder Seite. Soll ich weiter lesen? oder soll ich das Buch
untern Tisch werfen, wie ichs mit allen Büchern mache, die in der Papier¬
sprache geschrieben sind?

Ich überwinde mich, kehre zum Anfang der Einleitung zurück und erfahre
da folgendes. Der Ring war am 8. Januar 1892 von einem Arbeiter in der
Nähe von Prata bei Pordenone beim Graben zwei Meter tief in der Erde
gefunden worden. Ein paar Bauern hatten ihn nach Venedig gebracht, um
dort einen Käufer dafür zu suchen. Nach kurzer Verhandlung kaufte der Ver¬
fasser den Ring, oder wie er selbst sagt: er "machte denselben (!) sich zu eigen,"
steckte ihn an den Finger, versenkte sich in seine Betrachtung und entzifferte die
Inschrift. "Ich las -- nein, ich hörte! (wenn er das doch bei seinem ganzen
Buche gethan hätte!) Aus der Ferne einer vierhundertjährigen Vergangenheit
erklang es hell und deutlich meinem Ohre: der süße Laut von den Lippen
einer Frau,, die dem Heißgeliebten die Wunder ihres Herzens anvertraut, ihr
Sein und Wesen ihm in seliger Hingebung, nicht unter fremdem Zwange, nein
aus dem Drange innerster Notwendigkeit darbringt: mit Willen dein eigen!
Und ergriffen wie jener, dem einst diese Stimme alles Glück der Erde verhieß,
lauschte ich schweigend ihrem Wiederhall in mir! So kehrte ich heim -- im
Banne eines Zaubers, der, Raum und Zeit verwirrend, in eine fremde Welt
mich entrückte. Dort, wo in dem dämmernden Lichte eines nie in den Tag
sich verwandelnden Morgens traumhafte Gestalten nahend und weichend in
unendlichem Wechsel den Reigen schlingen, dort weilte ich suchend und wartend
und lauschte, ob eine dem starken Worte wohl folgte: mit Willen dein eigen.
Nicht eine allein, in Scharen eilten sie herbei, in lieblichem Gedränge mich
umgebend -- doch wollte ich sie halten, entschwanden sie in mehliger Luft,
sich vor dem Blicke verbergend, bis ich ermattet vom Suchen und Finden und
Wiederverlieren zu schauen erlahmte. Kam mir der Ring als Bote nur von
wirren Träumen, unerfüllten Ahnungen, nie gesenkter Sehnsucht? Birgt er
eine andre Verheißung, einen heimlichen Auftrag? Wer sandte ihn mir --
Wie löse ich sein Rätsel?"

In den nächsten Tagen ist der Verfasser bemüht, in gedruckten und hand¬
schriftlichen Quellen den Kämpfen der Deutschen mit den Venezianern im
Anfange des sechzehnten Jahrhunderts nachzugehen. Vor allem vertieft er
sich in das Studium der umfänglichen Tagebücher, die Marino Sanuto, ein
Mitglied des großen Rats von Venedig, 37 Jahre lang geführt hat, und die
in der Markusbibliothek aufbewahrt werden, 56 Foliobände, mit unzähligen
Abschriften von Dokumenten aller Art. Und siehe da! nach wenigen Tagen ist es
ihm gelungen, nicht nur den ursprünglichen Besitzer des Ringes nachzuweisen,
sondern auch aus einer Fülle von Nachrichten, die er über das Leben, die
Thaten und die Schicksale dieses Mannes herbeigeschafft hat, ein Lebensbild
von ihm zu gestalten, das, obwohl es nichts als schlichte geschichtliche


Grenzboten I 1395 3
Die Moderne in der Wissenschaft

bei ihm auf jeder Seite. Soll ich weiter lesen? oder soll ich das Buch
untern Tisch werfen, wie ichs mit allen Büchern mache, die in der Papier¬
sprache geschrieben sind?

Ich überwinde mich, kehre zum Anfang der Einleitung zurück und erfahre
da folgendes. Der Ring war am 8. Januar 1892 von einem Arbeiter in der
Nähe von Prata bei Pordenone beim Graben zwei Meter tief in der Erde
gefunden worden. Ein paar Bauern hatten ihn nach Venedig gebracht, um
dort einen Käufer dafür zu suchen. Nach kurzer Verhandlung kaufte der Ver¬
fasser den Ring, oder wie er selbst sagt: er „machte denselben (!) sich zu eigen,"
steckte ihn an den Finger, versenkte sich in seine Betrachtung und entzifferte die
Inschrift. „Ich las — nein, ich hörte! (wenn er das doch bei seinem ganzen
Buche gethan hätte!) Aus der Ferne einer vierhundertjährigen Vergangenheit
erklang es hell und deutlich meinem Ohre: der süße Laut von den Lippen
einer Frau,, die dem Heißgeliebten die Wunder ihres Herzens anvertraut, ihr
Sein und Wesen ihm in seliger Hingebung, nicht unter fremdem Zwange, nein
aus dem Drange innerster Notwendigkeit darbringt: mit Willen dein eigen!
Und ergriffen wie jener, dem einst diese Stimme alles Glück der Erde verhieß,
lauschte ich schweigend ihrem Wiederhall in mir! So kehrte ich heim — im
Banne eines Zaubers, der, Raum und Zeit verwirrend, in eine fremde Welt
mich entrückte. Dort, wo in dem dämmernden Lichte eines nie in den Tag
sich verwandelnden Morgens traumhafte Gestalten nahend und weichend in
unendlichem Wechsel den Reigen schlingen, dort weilte ich suchend und wartend
und lauschte, ob eine dem starken Worte wohl folgte: mit Willen dein eigen.
Nicht eine allein, in Scharen eilten sie herbei, in lieblichem Gedränge mich
umgebend — doch wollte ich sie halten, entschwanden sie in mehliger Luft,
sich vor dem Blicke verbergend, bis ich ermattet vom Suchen und Finden und
Wiederverlieren zu schauen erlahmte. Kam mir der Ring als Bote nur von
wirren Träumen, unerfüllten Ahnungen, nie gesenkter Sehnsucht? Birgt er
eine andre Verheißung, einen heimlichen Auftrag? Wer sandte ihn mir —
Wie löse ich sein Rätsel?"

In den nächsten Tagen ist der Verfasser bemüht, in gedruckten und hand¬
schriftlichen Quellen den Kämpfen der Deutschen mit den Venezianern im
Anfange des sechzehnten Jahrhunderts nachzugehen. Vor allem vertieft er
sich in das Studium der umfänglichen Tagebücher, die Marino Sanuto, ein
Mitglied des großen Rats von Venedig, 37 Jahre lang geführt hat, und die
in der Markusbibliothek aufbewahrt werden, 56 Foliobände, mit unzähligen
Abschriften von Dokumenten aller Art. Und siehe da! nach wenigen Tagen ist es
ihm gelungen, nicht nur den ursprünglichen Besitzer des Ringes nachzuweisen,
sondern auch aus einer Fülle von Nachrichten, die er über das Leben, die
Thaten und die Schicksale dieses Mannes herbeigeschafft hat, ein Lebensbild
von ihm zu gestalten, das, obwohl es nichts als schlichte geschichtliche


Grenzboten I 1395 3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/25>, abgerufen am 22.07.2024.