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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Moderne in der Wissenschaft

Es läßt mir keine Ruhe, ich lege mein Aktenstück bei Seite und fange
an, die Einleitung zu lesen: Wie ich den Ring erhielt! Motto: Doch bei
dem Ringe soll er mein gedenken! Lohengrin. "Es war in den Morgenstunden
des siebzehnten Februar im Jahre 1892. Ich hatte mir in dem stillen kleinen
Eckraum der Marciana-Vibliothek, welcher für das Studium der Handschriften
bestimmt ist, die alte Chronik des Daniele Barbaro geben lassen und mich,
der geistvollen Erzählung mit Erregung folgend, in dem Miterleben vergangner
venezianischer Herrlichkeit verloren, als mich die Stimme des allen Besuchern
der Bibliothek mit mannichfach belehrendem Rat unermüdlich entgegenkommenden
Bibliothekars Grafen C. Soranzo in die Gegenwart zurückrief. "Sehen Sie,
was mir da eben gebracht wird! Ein bei einer Erdarbeit von Bauern gefundner
alter Ring, der mit fein ciselirten Ornamenten und einer Inschrift in gotischen
Lettern verziert ist! Letztere ist offenbar deutsch -- würden Sie imstande sein,
sie zu entziffern?" Ich nahm den Reif, und der erste Blick belehrte mich dar¬
über, daß er das Werk eines deutschen Goldschmiedes aus spätgotischer Zeit
etwa um 1500 sei, vielleicht eines jener Meister von Augsburg, aus deren
Werkstätten so viele schöne Arbeiten hervorgingen. Merkwürdig gut erhalten,
mit nur sehr geringen, fast unmerklichen Spuren davon, daß er kurze Zeit ge¬
tragen worden, zeigte mir der goldne Ring eine glatte Innenseite, an der ge¬
wölbten Oberfläche aber in edel einfacher Gravirung zwei mit einander ab¬
wechselnde, schräg laufende Bunter, deren eines mit einem welligen Streifen,
deren andres --"

Herr Gott, ist das ein Stiefel! rufe ich aus, indem ich unwillkürlich mit
den Beinen scharre, deren eines, deren andres! Und dieser kenntnisreiche "erste
Blick," der ihn belehrte, daß der Ring das Werk eines deutschen Goldschmiedes
"sei"! Und diese Stimme des u. s. w. n, s. w. u. s. w. Bibliothekars! Und
was sagte der Bibliothekar von der Inschrift des Ringes? Letztere ist offenbar
deutsch. O dieses letztere! Das liebe ich! Wie mag das wohl auf Italienisch
heißen?

Die Lust vergeht mir, ernstlich weiter zu lesen. Ich überfliege nur noch
die nächsten drei, vier Seiten. Großer Gott! Da steht ja schon wieder der
letztere: "Leo X., aus Besorgnis vor den Drohungen der Türken, neigt sich
den Venezianern zu. Die nächste Aufgabe für die letzteren ist die Bekämpfung
der Truppen des Kaisers." Und auf der nächsten Seite schon wieder: "Vor
mir liegt das via-rio at ?orävnous, in welchem -- o weh! auch noch in
welchem! -- die Einnahme der Stadt durch die Deutschen und die Vertrei¬
bung der letzteren von einem Augenzeugen geschildert wird," und unmittelbar
darauf schon wieder: "Die Deutschen also sind in der That in Pordenone ge¬
wesen, und es giebt Nachrichten über ihren Aufenthalt daselbst -- nun auch
noch daselbst! -- wie lauten die letzteren?" Auch einer, denke ich, der
rettungslos der Papiersprache verfallen ist; es welcher:, derselbe und letztere


Die Moderne in der Wissenschaft

Es läßt mir keine Ruhe, ich lege mein Aktenstück bei Seite und fange
an, die Einleitung zu lesen: Wie ich den Ring erhielt! Motto: Doch bei
dem Ringe soll er mein gedenken! Lohengrin. „Es war in den Morgenstunden
des siebzehnten Februar im Jahre 1892. Ich hatte mir in dem stillen kleinen
Eckraum der Marciana-Vibliothek, welcher für das Studium der Handschriften
bestimmt ist, die alte Chronik des Daniele Barbaro geben lassen und mich,
der geistvollen Erzählung mit Erregung folgend, in dem Miterleben vergangner
venezianischer Herrlichkeit verloren, als mich die Stimme des allen Besuchern
der Bibliothek mit mannichfach belehrendem Rat unermüdlich entgegenkommenden
Bibliothekars Grafen C. Soranzo in die Gegenwart zurückrief. »Sehen Sie,
was mir da eben gebracht wird! Ein bei einer Erdarbeit von Bauern gefundner
alter Ring, der mit fein ciselirten Ornamenten und einer Inschrift in gotischen
Lettern verziert ist! Letztere ist offenbar deutsch — würden Sie imstande sein,
sie zu entziffern?« Ich nahm den Reif, und der erste Blick belehrte mich dar¬
über, daß er das Werk eines deutschen Goldschmiedes aus spätgotischer Zeit
etwa um 1500 sei, vielleicht eines jener Meister von Augsburg, aus deren
Werkstätten so viele schöne Arbeiten hervorgingen. Merkwürdig gut erhalten,
mit nur sehr geringen, fast unmerklichen Spuren davon, daß er kurze Zeit ge¬
tragen worden, zeigte mir der goldne Ring eine glatte Innenseite, an der ge¬
wölbten Oberfläche aber in edel einfacher Gravirung zwei mit einander ab¬
wechselnde, schräg laufende Bunter, deren eines mit einem welligen Streifen,
deren andres —"

Herr Gott, ist das ein Stiefel! rufe ich aus, indem ich unwillkürlich mit
den Beinen scharre, deren eines, deren andres! Und dieser kenntnisreiche „erste
Blick," der ihn belehrte, daß der Ring das Werk eines deutschen Goldschmiedes
„sei"! Und diese Stimme des u. s. w. n, s. w. u. s. w. Bibliothekars! Und
was sagte der Bibliothekar von der Inschrift des Ringes? Letztere ist offenbar
deutsch. O dieses letztere! Das liebe ich! Wie mag das wohl auf Italienisch
heißen?

Die Lust vergeht mir, ernstlich weiter zu lesen. Ich überfliege nur noch
die nächsten drei, vier Seiten. Großer Gott! Da steht ja schon wieder der
letztere: „Leo X., aus Besorgnis vor den Drohungen der Türken, neigt sich
den Venezianern zu. Die nächste Aufgabe für die letzteren ist die Bekämpfung
der Truppen des Kaisers." Und auf der nächsten Seite schon wieder: „Vor
mir liegt das via-rio at ?orävnous, in welchem — o weh! auch noch in
welchem! — die Einnahme der Stadt durch die Deutschen und die Vertrei¬
bung der letzteren von einem Augenzeugen geschildert wird," und unmittelbar
darauf schon wieder: „Die Deutschen also sind in der That in Pordenone ge¬
wesen, und es giebt Nachrichten über ihren Aufenthalt daselbst — nun auch
noch daselbst! — wie lauten die letzteren?" Auch einer, denke ich, der
rettungslos der Papiersprache verfallen ist; es welcher:, derselbe und letztere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/24>, abgerufen am 22.07.2024.