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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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beiden größer" Erzählungen des Bandes "Führe uns nicht in Versuchung"
und "Bauernrache." Aber auch einige der kleinern Geschichten, z.V. "Land¬
schafter und Tiermaler," sind hübsch und verbürgen, daß der Verfasser an der
Mannichfaltigkeit des Lebens noch Freude hat.

Eine Novellistin, der wir zum erstenmal begegnen, die aber gleich
bei dieser ersten Begegnung einen liefern Eindruck macht, begrüßen wir in der
Sammlung Land voraus und andre Geschichten von Lilli du Bois-
Reymond (Berlin, Wilhelm Hertz, 1894). Hier ist es nicht sowohl eine
besonders starke Phantasie und Gestaltungskraft, als vielmehr eine gewisse
Feinheit der Lebensbeobachtnng und die Durchdringung der Beobachtung mit
tieferem Gemütsautcil, was glücklich wirkt. Die Verfasserin hat das echt
weibliche Gefühl für die meist ganz unbeachteten, in der That aber schwer¬
wiegenden Augenblicke des Lebens, wo stumme Entscheidungen getroffen werden.
Novellen wie "Ein Fidibus," "Daphne" und "Auf der Bodenkammer" sind
nach dieser Richtung hin Meisterstücke. Andre wie "Seine Mutter" und
"Land voraus!" gehören recht eigentlich der Großstadt an, nicht weil sie das
Leben der Großstadt spiegeln, sondern Ausnahmeexistenzen und Ausuahme-
schicksale schildern, die nur aus dein Boden einer Großstadt hervorwcichscn.
Und doch hat die Verfasserin Geistesfreiheit genug, i" der Geschichte "Ach,
wie ist die Stadt so wenig!" all diese Großstadtherrlichkeit leise zu ironisiren.
Auch die Form dieser Novellen zeichnet sich rühmlich vor der üblichen Salopperie
und der Skizzenbravour der jüngsten Novellistik ans. Ein Teil dieser No¬
vellen gleicht zwar mehr Skizzen als vollausgestalteten Bildern, aber Lilli
du Bois-Reymond darf das Lob in Anspruch nehmen, zu den künstlerischen
Naturen zu gehören, die selbst in der Skizze auf Sauberkeit und Klarheit halten.

Eine Gruppe von drei verschiednen Sammlungen vereinigt Novellen und
Märchen und gehört Dichtern an, bei denen die Phantasie und die originelle
Laune, die geistvolle Beweglichkeit den zeitgemäßen Drang besiegen, ein Stück
abstoßender und selten vorkommender Wirklichkeit für Natur und Leben aus¬
zugeben. Das blaue Buch, Märchen und Skizze" von Adnlbert Mein-
hardt (Berlin, Gebrüder Paetel) enthält eine Anzahl vortrefflicher Erfindungen,
nnter denen freilich die novellistischen, wie "Vorfrühling" und "Eine Studie,"
die Mürcheu, das "Litterarische Märchen" um Schluß nicht ausgenommen,
an Frische und schlichter Wirkung übertreffen. Der Spott in dem letzt¬
genannten Märchen, daß der Poeteuengel die Gaben, die er in der Neujnhrs-
uacht den Dichtern der verschiednen Völker bringen soll, in den Kot und
Schmutz geworfen hat und sie seitdem mit ihrem "Erdgeruch" austeilt, ist
ganz zutreffend, und noch zutreffender der Hohn, daß dieser Engel in das
Reich der Mitte, wo sie sich nach des Erzengels Michael Namen benennen,
nichts neues, keinen einzigen Himmelsfunken mehr gebracht hat. "In all
dieser Zeit mußten sie sich mit dem Abfall behelfen, von der Nachahmung


beiden größer» Erzählungen des Bandes „Führe uns nicht in Versuchung"
und „Bauernrache." Aber auch einige der kleinern Geschichten, z.V. „Land¬
schafter und Tiermaler," sind hübsch und verbürgen, daß der Verfasser an der
Mannichfaltigkeit des Lebens noch Freude hat.

Eine Novellistin, der wir zum erstenmal begegnen, die aber gleich
bei dieser ersten Begegnung einen liefern Eindruck macht, begrüßen wir in der
Sammlung Land voraus und andre Geschichten von Lilli du Bois-
Reymond (Berlin, Wilhelm Hertz, 1894). Hier ist es nicht sowohl eine
besonders starke Phantasie und Gestaltungskraft, als vielmehr eine gewisse
Feinheit der Lebensbeobachtnng und die Durchdringung der Beobachtung mit
tieferem Gemütsautcil, was glücklich wirkt. Die Verfasserin hat das echt
weibliche Gefühl für die meist ganz unbeachteten, in der That aber schwer¬
wiegenden Augenblicke des Lebens, wo stumme Entscheidungen getroffen werden.
Novellen wie „Ein Fidibus," „Daphne" und „Auf der Bodenkammer" sind
nach dieser Richtung hin Meisterstücke. Andre wie „Seine Mutter" und
„Land voraus!" gehören recht eigentlich der Großstadt an, nicht weil sie das
Leben der Großstadt spiegeln, sondern Ausnahmeexistenzen und Ausuahme-
schicksale schildern, die nur aus dein Boden einer Großstadt hervorwcichscn.
Und doch hat die Verfasserin Geistesfreiheit genug, i» der Geschichte „Ach,
wie ist die Stadt so wenig!" all diese Großstadtherrlichkeit leise zu ironisiren.
Auch die Form dieser Novellen zeichnet sich rühmlich vor der üblichen Salopperie
und der Skizzenbravour der jüngsten Novellistik ans. Ein Teil dieser No¬
vellen gleicht zwar mehr Skizzen als vollausgestalteten Bildern, aber Lilli
du Bois-Reymond darf das Lob in Anspruch nehmen, zu den künstlerischen
Naturen zu gehören, die selbst in der Skizze auf Sauberkeit und Klarheit halten.

Eine Gruppe von drei verschiednen Sammlungen vereinigt Novellen und
Märchen und gehört Dichtern an, bei denen die Phantasie und die originelle
Laune, die geistvolle Beweglichkeit den zeitgemäßen Drang besiegen, ein Stück
abstoßender und selten vorkommender Wirklichkeit für Natur und Leben aus¬
zugeben. Das blaue Buch, Märchen und Skizze» von Adnlbert Mein-
hardt (Berlin, Gebrüder Paetel) enthält eine Anzahl vortrefflicher Erfindungen,
nnter denen freilich die novellistischen, wie „Vorfrühling" und „Eine Studie,"
die Mürcheu, das „Litterarische Märchen" um Schluß nicht ausgenommen,
an Frische und schlichter Wirkung übertreffen. Der Spott in dem letzt¬
genannten Märchen, daß der Poeteuengel die Gaben, die er in der Neujnhrs-
uacht den Dichtern der verschiednen Völker bringen soll, in den Kot und
Schmutz geworfen hat und sie seitdem mit ihrem „Erdgeruch" austeilt, ist
ganz zutreffend, und noch zutreffender der Hohn, daß dieser Engel in das
Reich der Mitte, wo sie sich nach des Erzengels Michael Namen benennen,
nichts neues, keinen einzigen Himmelsfunken mehr gebracht hat. „In all
dieser Zeit mußten sie sich mit dem Abfall behelfen, von der Nachahmung


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[0226] beiden größer» Erzählungen des Bandes „Führe uns nicht in Versuchung" und „Bauernrache." Aber auch einige der kleinern Geschichten, z.V. „Land¬ schafter und Tiermaler," sind hübsch und verbürgen, daß der Verfasser an der Mannichfaltigkeit des Lebens noch Freude hat. Eine Novellistin, der wir zum erstenmal begegnen, die aber gleich bei dieser ersten Begegnung einen liefern Eindruck macht, begrüßen wir in der Sammlung Land voraus und andre Geschichten von Lilli du Bois- Reymond (Berlin, Wilhelm Hertz, 1894). Hier ist es nicht sowohl eine besonders starke Phantasie und Gestaltungskraft, als vielmehr eine gewisse Feinheit der Lebensbeobachtnng und die Durchdringung der Beobachtung mit tieferem Gemütsautcil, was glücklich wirkt. Die Verfasserin hat das echt weibliche Gefühl für die meist ganz unbeachteten, in der That aber schwer¬ wiegenden Augenblicke des Lebens, wo stumme Entscheidungen getroffen werden. Novellen wie „Ein Fidibus," „Daphne" und „Auf der Bodenkammer" sind nach dieser Richtung hin Meisterstücke. Andre wie „Seine Mutter" und „Land voraus!" gehören recht eigentlich der Großstadt an, nicht weil sie das Leben der Großstadt spiegeln, sondern Ausnahmeexistenzen und Ausuahme- schicksale schildern, die nur aus dein Boden einer Großstadt hervorwcichscn. Und doch hat die Verfasserin Geistesfreiheit genug, i» der Geschichte „Ach, wie ist die Stadt so wenig!" all diese Großstadtherrlichkeit leise zu ironisiren. Auch die Form dieser Novellen zeichnet sich rühmlich vor der üblichen Salopperie und der Skizzenbravour der jüngsten Novellistik ans. Ein Teil dieser No¬ vellen gleicht zwar mehr Skizzen als vollausgestalteten Bildern, aber Lilli du Bois-Reymond darf das Lob in Anspruch nehmen, zu den künstlerischen Naturen zu gehören, die selbst in der Skizze auf Sauberkeit und Klarheit halten. Eine Gruppe von drei verschiednen Sammlungen vereinigt Novellen und Märchen und gehört Dichtern an, bei denen die Phantasie und die originelle Laune, die geistvolle Beweglichkeit den zeitgemäßen Drang besiegen, ein Stück abstoßender und selten vorkommender Wirklichkeit für Natur und Leben aus¬ zugeben. Das blaue Buch, Märchen und Skizze» von Adnlbert Mein- hardt (Berlin, Gebrüder Paetel) enthält eine Anzahl vortrefflicher Erfindungen, nnter denen freilich die novellistischen, wie „Vorfrühling" und „Eine Studie," die Mürcheu, das „Litterarische Märchen" um Schluß nicht ausgenommen, an Frische und schlichter Wirkung übertreffen. Der Spott in dem letzt¬ genannten Märchen, daß der Poeteuengel die Gaben, die er in der Neujnhrs- uacht den Dichtern der verschiednen Völker bringen soll, in den Kot und Schmutz geworfen hat und sie seitdem mit ihrem „Erdgeruch" austeilt, ist ganz zutreffend, und noch zutreffender der Hohn, daß dieser Engel in das Reich der Mitte, wo sie sich nach des Erzengels Michael Namen benennen, nichts neues, keinen einzigen Himmelsfunken mehr gebracht hat. „In all dieser Zeit mußten sie sich mit dem Abfall behelfen, von der Nachahmung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/226>, abgerufen am 23.07.2024.