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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Würdigung der gegenwärtigen Unnstbestrebungen

nardo, Dürer, Tizian, die Natur nur "durch die Brille gesehen" hätten, daß
die Kunst nur reine, volle Natur geben müsse, denn das sei ihre wahre Auf¬
gabe. Man kann das alles leicht begreifen, wenn man die übermächtige Ge¬
walt einer Zeitströmung gehörig würdigt.

Unter den Jungen giebt es ohne alle Frage bedeutende Talente, und die
meisten dieser Talente beherrschen die Mittel der Kunst, den Vortrag, die
Technik in vollendeter Weise, wenn auch nicht selten mit einer gewissen Ein¬
seitigkeit. Im Bildnis und in der Landschaft wird von vielen ganz Meister¬
haftes geleistet, ja die Landschaftsmalerei steht jetzt höher als je zuvor. Auch
in der Gattungsmalerei wird manches Hübsche hervorgebracht. Aber wird da¬
durch das viele Dürftige und Verkehrte, das neben und mit jenen hervor¬
ragender" Leistungen aufzutreten Pflegt, geadelt? Wird der Mangel an Geist,
Erfindung, dichterischer Kraft, der sich mit Ausnahme der Werke weniger
Künstler wie etwa Böcklins -- obwohl auch bei ihm mancherlei Krankhaftes
vorkommt -- so empfindlich geltend macht, dadurch ausgeglichen? Entspringt
daraus auch nur der Schimmer eines vernünftigen Rechts, die Werke der Vor¬
gänger von Kraus und Gesellschap aufwärts bis zu Carstens keck zu verwerfen
und zu verdammen? Die Jungen bejahen diese Fragen. Denn die "alten
Herren haben alle durch die Brille gesehen," sie verstanden von der Natur
nichts, konnten nicht malen und konnten überhaupt nichts, denn der Maler
muß malen können, und Kunst kommt von können. Weg also mit ihnen und
ihren Arbeiten, die besser nicht entstanden wären! Man muß die Kunst von
ihnen entseuchen und sie zur "reinen Kunst" erheben.

Diese jetzt viel verbreitete Meinung ist ohne alle Frage eine sehr starke
Einseitigkeit, man könnte fast sagen Beschränktheit und in gewissen Fällen Ver¬
blendung. Zwar ist Einseitigkeit meist auch dem Genius eigen, der zum Höchsten
strebt, aber so sehr ihn auch etwas, ihm nicht klar Bewußtes geheimnisvoll
und mächtig treibt, so sieht er doch frei, hell und sicher um sich und vor sich.
Jene Einseitigkeit aber, die, in Täuschung und Irrtum, vor Großem und
Achtbaren Auge und Sinn verschließt, grenzt an Beschränktheit oder an Ver¬
blendung. Ich wenigstens halte es sür eine große Beschränktheit oder Ver¬
blendung, wenn man glaubt und behauptet, die Kunst bestehe lediglich im Vor¬
trage, in der Mache, in der reinen Naturnachahmung nur für das Auge,
Inhalt oder Gegenstand sei gleichgiltig, man habe beim Anblick eines Kunst¬
werkes nicht zu verlangen, daß man sich "dabei auch etwas denken" könne,
die Wiedergabe eines "Kehrichthaufens" könne das höchste, vollendetste Kunst¬
werk sein. Diese Ansichten widersprechen schnurstracks allem, was man bis in
die neuesten Zeiten vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst gedacht hat.
Bisher war man der Meinung, daß die Kunst darin bestehe, etwas Geistiges,
namentlich dichterische Vorstellungen aus der Phantasie heraus frei schaffend
in sinnlicher, anschaulicher Gestalt zu verkörpern. Das ist eine uralte Mei-


Grenzboten I 1895 23
Zur Würdigung der gegenwärtigen Unnstbestrebungen

nardo, Dürer, Tizian, die Natur nur „durch die Brille gesehen" hätten, daß
die Kunst nur reine, volle Natur geben müsse, denn das sei ihre wahre Auf¬
gabe. Man kann das alles leicht begreifen, wenn man die übermächtige Ge¬
walt einer Zeitströmung gehörig würdigt.

Unter den Jungen giebt es ohne alle Frage bedeutende Talente, und die
meisten dieser Talente beherrschen die Mittel der Kunst, den Vortrag, die
Technik in vollendeter Weise, wenn auch nicht selten mit einer gewissen Ein¬
seitigkeit. Im Bildnis und in der Landschaft wird von vielen ganz Meister¬
haftes geleistet, ja die Landschaftsmalerei steht jetzt höher als je zuvor. Auch
in der Gattungsmalerei wird manches Hübsche hervorgebracht. Aber wird da¬
durch das viele Dürftige und Verkehrte, das neben und mit jenen hervor¬
ragender« Leistungen aufzutreten Pflegt, geadelt? Wird der Mangel an Geist,
Erfindung, dichterischer Kraft, der sich mit Ausnahme der Werke weniger
Künstler wie etwa Böcklins — obwohl auch bei ihm mancherlei Krankhaftes
vorkommt — so empfindlich geltend macht, dadurch ausgeglichen? Entspringt
daraus auch nur der Schimmer eines vernünftigen Rechts, die Werke der Vor¬
gänger von Kraus und Gesellschap aufwärts bis zu Carstens keck zu verwerfen
und zu verdammen? Die Jungen bejahen diese Fragen. Denn die „alten
Herren haben alle durch die Brille gesehen," sie verstanden von der Natur
nichts, konnten nicht malen und konnten überhaupt nichts, denn der Maler
muß malen können, und Kunst kommt von können. Weg also mit ihnen und
ihren Arbeiten, die besser nicht entstanden wären! Man muß die Kunst von
ihnen entseuchen und sie zur „reinen Kunst" erheben.

Diese jetzt viel verbreitete Meinung ist ohne alle Frage eine sehr starke
Einseitigkeit, man könnte fast sagen Beschränktheit und in gewissen Fällen Ver¬
blendung. Zwar ist Einseitigkeit meist auch dem Genius eigen, der zum Höchsten
strebt, aber so sehr ihn auch etwas, ihm nicht klar Bewußtes geheimnisvoll
und mächtig treibt, so sieht er doch frei, hell und sicher um sich und vor sich.
Jene Einseitigkeit aber, die, in Täuschung und Irrtum, vor Großem und
Achtbaren Auge und Sinn verschließt, grenzt an Beschränktheit oder an Ver¬
blendung. Ich wenigstens halte es sür eine große Beschränktheit oder Ver¬
blendung, wenn man glaubt und behauptet, die Kunst bestehe lediglich im Vor¬
trage, in der Mache, in der reinen Naturnachahmung nur für das Auge,
Inhalt oder Gegenstand sei gleichgiltig, man habe beim Anblick eines Kunst¬
werkes nicht zu verlangen, daß man sich „dabei auch etwas denken" könne,
die Wiedergabe eines „Kehrichthaufens" könne das höchste, vollendetste Kunst¬
werk sein. Diese Ansichten widersprechen schnurstracks allem, was man bis in
die neuesten Zeiten vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst gedacht hat.
Bisher war man der Meinung, daß die Kunst darin bestehe, etwas Geistiges,
namentlich dichterische Vorstellungen aus der Phantasie heraus frei schaffend
in sinnlicher, anschaulicher Gestalt zu verkörpern. Das ist eine uralte Mei-


Grenzboten I 1895 23
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[0185] Zur Würdigung der gegenwärtigen Unnstbestrebungen nardo, Dürer, Tizian, die Natur nur „durch die Brille gesehen" hätten, daß die Kunst nur reine, volle Natur geben müsse, denn das sei ihre wahre Auf¬ gabe. Man kann das alles leicht begreifen, wenn man die übermächtige Ge¬ walt einer Zeitströmung gehörig würdigt. Unter den Jungen giebt es ohne alle Frage bedeutende Talente, und die meisten dieser Talente beherrschen die Mittel der Kunst, den Vortrag, die Technik in vollendeter Weise, wenn auch nicht selten mit einer gewissen Ein¬ seitigkeit. Im Bildnis und in der Landschaft wird von vielen ganz Meister¬ haftes geleistet, ja die Landschaftsmalerei steht jetzt höher als je zuvor. Auch in der Gattungsmalerei wird manches Hübsche hervorgebracht. Aber wird da¬ durch das viele Dürftige und Verkehrte, das neben und mit jenen hervor¬ ragender« Leistungen aufzutreten Pflegt, geadelt? Wird der Mangel an Geist, Erfindung, dichterischer Kraft, der sich mit Ausnahme der Werke weniger Künstler wie etwa Böcklins — obwohl auch bei ihm mancherlei Krankhaftes vorkommt — so empfindlich geltend macht, dadurch ausgeglichen? Entspringt daraus auch nur der Schimmer eines vernünftigen Rechts, die Werke der Vor¬ gänger von Kraus und Gesellschap aufwärts bis zu Carstens keck zu verwerfen und zu verdammen? Die Jungen bejahen diese Fragen. Denn die „alten Herren haben alle durch die Brille gesehen," sie verstanden von der Natur nichts, konnten nicht malen und konnten überhaupt nichts, denn der Maler muß malen können, und Kunst kommt von können. Weg also mit ihnen und ihren Arbeiten, die besser nicht entstanden wären! Man muß die Kunst von ihnen entseuchen und sie zur „reinen Kunst" erheben. Diese jetzt viel verbreitete Meinung ist ohne alle Frage eine sehr starke Einseitigkeit, man könnte fast sagen Beschränktheit und in gewissen Fällen Ver¬ blendung. Zwar ist Einseitigkeit meist auch dem Genius eigen, der zum Höchsten strebt, aber so sehr ihn auch etwas, ihm nicht klar Bewußtes geheimnisvoll und mächtig treibt, so sieht er doch frei, hell und sicher um sich und vor sich. Jene Einseitigkeit aber, die, in Täuschung und Irrtum, vor Großem und Achtbaren Auge und Sinn verschließt, grenzt an Beschränktheit oder an Ver¬ blendung. Ich wenigstens halte es sür eine große Beschränktheit oder Ver¬ blendung, wenn man glaubt und behauptet, die Kunst bestehe lediglich im Vor¬ trage, in der Mache, in der reinen Naturnachahmung nur für das Auge, Inhalt oder Gegenstand sei gleichgiltig, man habe beim Anblick eines Kunst¬ werkes nicht zu verlangen, daß man sich „dabei auch etwas denken" könne, die Wiedergabe eines „Kehrichthaufens" könne das höchste, vollendetste Kunst¬ werk sein. Diese Ansichten widersprechen schnurstracks allem, was man bis in die neuesten Zeiten vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst gedacht hat. Bisher war man der Meinung, daß die Kunst darin bestehe, etwas Geistiges, namentlich dichterische Vorstellungen aus der Phantasie heraus frei schaffend in sinnlicher, anschaulicher Gestalt zu verkörpern. Das ist eine uralte Mei- Grenzboten I 1895 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/185>, abgerufen am 28.09.2024.