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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Würdigung der gegenwärtige" Runstbestrebungen

derungen werden kurzer Hand beiseite geschoben, sobald es sich um Erzielung
von etwas absonderlichen handelt. Selbst sogenannte reine Naturkopien sind
sehr häufig nicht naturwahr, ähnlich wie manche neumodische Schallspiele, die
aus dem Leben gegriffen sein sollen und von sinnlosen Unmöglichkeiten strotzen.
Irgend ein verschrobner Gedanke in Bezug auf Stellung, Haltung, Beleuch¬
tung, Farbe u. s. w. ist häufig auch noch der sogenannten Naturkopie bei¬
gemischt, damit das Kunstwerk nur ja recht auffallend sei. Da fällt denn die
Naturkopie recht unwahr und naturwidrig aus! Aber was fragt der Urheber
hiernach, wenn nur seine Leistung Aufsehen erregt, gleichviel ob beifälliges
oder mißfälliges.

Unter diesen Umstünden ist es begreiflich, daß, sobald man etwas auf die
Besucher der Ausstellungen achtet, man neben den verschiedensten Äußerungen
des Beifalls und der Bewunderung sehr häusig Ausrufe wie "Gräßlich! Ent¬
setzlich! Schauderhaft! Verrückt! Wahnsinnig!"^ und andres mehr hört, ein
Beweis, daß doch anch noch andre Anschauungen von der Kunst lebendig sind,
als die von den Jungen und Jüngsten vertretenen. Wenn man also auch
diesen das Recht des Daseins mit Weitherzigkeit gern zugesteht, so sollte man
doch nicht vergessen, daß sich die Kunst in den Arbeiten dieser Herren nicht
erschöpft und schließt. Sie sind nur die neueste Mode, aber die Moden wechseln
schnell, und die neuesten und Jüngsten werden bald genug die Alten sein.
Aber an so etwas denken sie nicht, und zwar, wie leicht einzusehen, besonders
aus zwei Gründen.

Man nennt die Mode eine Tyrannin, und sie ist es auch. Auch die
heutige Mode in der Kunst ist tyrannisch; sie will nichts andres neben sich
gelten lassen. Was vordem war, also die Werke der sogenannten Alten samt
denen ihrer Vorgänger und Vorvorgänger, ist veraltet, abgelebt; man werfe
das alte Zeug beiseite, damit das lebendige Junge Raum gewinne! Und
dann, dieses Junge von heute ist ja auch so herrlich und groß, weil man
es selbst oder weil es Freunde hervorgebracht haben. Man berauscht sich,
himmelt und macht sich in Zeitungen, Drnckheften und Büchern Luft mit
Paulen und Posaunen. Durch diese Reden und Schriften werden viele irre¬
geführt, Künstler wie Kunstfreunde, und selbst einzelne Kunstforscher lenken zu
diesen verblendeten Einseitigkeit"" und großen Unzulänglichkeiten ein, indem sie
sich sogar einreden lassen, daß auch die großen Meister früherer Zeiten, Leo-



") Als ich durch die vorjährige Sezessionistenausstellung in München ging, traf ich
mehreremal vor Bildern mit einem strammen alten Herrn zusammen -- es schien ein Offizier
zu fein ---, der mich dann immer anblickte und mißbilligend den Kopf schüttelte. Er merkte
wohl, daß ich diese wunderlichen Erzeugnisse des jüngsten farbenklecksenden Deutschlands mit
demselben Unbehagen betrachtete wie er. Worte wechselten wir nicht. Als wir uns aber am
Ausgange wieder begegneten, flüsterte er mir das Ergebnis seiner Beobachtungen mit einem
I. G. Worte zu: Lausbuben!
Zur Würdigung der gegenwärtige» Runstbestrebungen

derungen werden kurzer Hand beiseite geschoben, sobald es sich um Erzielung
von etwas absonderlichen handelt. Selbst sogenannte reine Naturkopien sind
sehr häufig nicht naturwahr, ähnlich wie manche neumodische Schallspiele, die
aus dem Leben gegriffen sein sollen und von sinnlosen Unmöglichkeiten strotzen.
Irgend ein verschrobner Gedanke in Bezug auf Stellung, Haltung, Beleuch¬
tung, Farbe u. s. w. ist häufig auch noch der sogenannten Naturkopie bei¬
gemischt, damit das Kunstwerk nur ja recht auffallend sei. Da fällt denn die
Naturkopie recht unwahr und naturwidrig aus! Aber was fragt der Urheber
hiernach, wenn nur seine Leistung Aufsehen erregt, gleichviel ob beifälliges
oder mißfälliges.

Unter diesen Umstünden ist es begreiflich, daß, sobald man etwas auf die
Besucher der Ausstellungen achtet, man neben den verschiedensten Äußerungen
des Beifalls und der Bewunderung sehr häusig Ausrufe wie „Gräßlich! Ent¬
setzlich! Schauderhaft! Verrückt! Wahnsinnig!"^ und andres mehr hört, ein
Beweis, daß doch anch noch andre Anschauungen von der Kunst lebendig sind,
als die von den Jungen und Jüngsten vertretenen. Wenn man also auch
diesen das Recht des Daseins mit Weitherzigkeit gern zugesteht, so sollte man
doch nicht vergessen, daß sich die Kunst in den Arbeiten dieser Herren nicht
erschöpft und schließt. Sie sind nur die neueste Mode, aber die Moden wechseln
schnell, und die neuesten und Jüngsten werden bald genug die Alten sein.
Aber an so etwas denken sie nicht, und zwar, wie leicht einzusehen, besonders
aus zwei Gründen.

Man nennt die Mode eine Tyrannin, und sie ist es auch. Auch die
heutige Mode in der Kunst ist tyrannisch; sie will nichts andres neben sich
gelten lassen. Was vordem war, also die Werke der sogenannten Alten samt
denen ihrer Vorgänger und Vorvorgänger, ist veraltet, abgelebt; man werfe
das alte Zeug beiseite, damit das lebendige Junge Raum gewinne! Und
dann, dieses Junge von heute ist ja auch so herrlich und groß, weil man
es selbst oder weil es Freunde hervorgebracht haben. Man berauscht sich,
himmelt und macht sich in Zeitungen, Drnckheften und Büchern Luft mit
Paulen und Posaunen. Durch diese Reden und Schriften werden viele irre¬
geführt, Künstler wie Kunstfreunde, und selbst einzelne Kunstforscher lenken zu
diesen verblendeten Einseitigkeit«» und großen Unzulänglichkeiten ein, indem sie
sich sogar einreden lassen, daß auch die großen Meister früherer Zeiten, Leo-



") Als ich durch die vorjährige Sezessionistenausstellung in München ging, traf ich
mehreremal vor Bildern mit einem strammen alten Herrn zusammen — es schien ein Offizier
zu fein —-, der mich dann immer anblickte und mißbilligend den Kopf schüttelte. Er merkte
wohl, daß ich diese wunderlichen Erzeugnisse des jüngsten farbenklecksenden Deutschlands mit
demselben Unbehagen betrachtete wie er. Worte wechselten wir nicht. Als wir uns aber am
Ausgange wieder begegneten, flüsterte er mir das Ergebnis seiner Beobachtungen mit einem
I. G. Worte zu: Lausbuben!
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[0184] Zur Würdigung der gegenwärtige» Runstbestrebungen derungen werden kurzer Hand beiseite geschoben, sobald es sich um Erzielung von etwas absonderlichen handelt. Selbst sogenannte reine Naturkopien sind sehr häufig nicht naturwahr, ähnlich wie manche neumodische Schallspiele, die aus dem Leben gegriffen sein sollen und von sinnlosen Unmöglichkeiten strotzen. Irgend ein verschrobner Gedanke in Bezug auf Stellung, Haltung, Beleuch¬ tung, Farbe u. s. w. ist häufig auch noch der sogenannten Naturkopie bei¬ gemischt, damit das Kunstwerk nur ja recht auffallend sei. Da fällt denn die Naturkopie recht unwahr und naturwidrig aus! Aber was fragt der Urheber hiernach, wenn nur seine Leistung Aufsehen erregt, gleichviel ob beifälliges oder mißfälliges. Unter diesen Umstünden ist es begreiflich, daß, sobald man etwas auf die Besucher der Ausstellungen achtet, man neben den verschiedensten Äußerungen des Beifalls und der Bewunderung sehr häusig Ausrufe wie „Gräßlich! Ent¬ setzlich! Schauderhaft! Verrückt! Wahnsinnig!"^ und andres mehr hört, ein Beweis, daß doch anch noch andre Anschauungen von der Kunst lebendig sind, als die von den Jungen und Jüngsten vertretenen. Wenn man also auch diesen das Recht des Daseins mit Weitherzigkeit gern zugesteht, so sollte man doch nicht vergessen, daß sich die Kunst in den Arbeiten dieser Herren nicht erschöpft und schließt. Sie sind nur die neueste Mode, aber die Moden wechseln schnell, und die neuesten und Jüngsten werden bald genug die Alten sein. Aber an so etwas denken sie nicht, und zwar, wie leicht einzusehen, besonders aus zwei Gründen. Man nennt die Mode eine Tyrannin, und sie ist es auch. Auch die heutige Mode in der Kunst ist tyrannisch; sie will nichts andres neben sich gelten lassen. Was vordem war, also die Werke der sogenannten Alten samt denen ihrer Vorgänger und Vorvorgänger, ist veraltet, abgelebt; man werfe das alte Zeug beiseite, damit das lebendige Junge Raum gewinne! Und dann, dieses Junge von heute ist ja auch so herrlich und groß, weil man es selbst oder weil es Freunde hervorgebracht haben. Man berauscht sich, himmelt und macht sich in Zeitungen, Drnckheften und Büchern Luft mit Paulen und Posaunen. Durch diese Reden und Schriften werden viele irre¬ geführt, Künstler wie Kunstfreunde, und selbst einzelne Kunstforscher lenken zu diesen verblendeten Einseitigkeit«» und großen Unzulänglichkeiten ein, indem sie sich sogar einreden lassen, daß auch die großen Meister früherer Zeiten, Leo- ") Als ich durch die vorjährige Sezessionistenausstellung in München ging, traf ich mehreremal vor Bildern mit einem strammen alten Herrn zusammen — es schien ein Offizier zu fein —-, der mich dann immer anblickte und mißbilligend den Kopf schüttelte. Er merkte wohl, daß ich diese wunderlichen Erzeugnisse des jüngsten farbenklecksenden Deutschlands mit demselben Unbehagen betrachtete wie er. Worte wechselten wir nicht. Als wir uns aber am Ausgange wieder begegneten, flüsterte er mir das Ergebnis seiner Beobachtungen mit einem I. G. Worte zu: Lausbuben!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/184>, abgerufen am 03.07.2024.