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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Jur Ivürdigung der gegenwärtigen Kunstbestrebungen

mung. Man braucht sich gar nicht auf die Philosophen und Ästhetiker von
Aristoteles herab bis zu Kant und dessen Nachfolgern zu berufen, auch die
Künstler dachten so. Sagte doch schon um das Jahr 1400 Cemn'no Cennini,
daß die Malerei eine Kunst sei, "die zugleich mit der Ausführung der Hand
Phantasie erfordert, um nie gesehene Dinge zu erfinden, indem man sie in die
Hülle des Natürlichen steckt, und sie mit der Hand festzuhalten, indem mau
als wirklich vorstellt, was nicht vorhanden ist." In dem echten und wahr¬
haften Kunstwerke liegt immer etwas Geheimnisvolles. Es regt das Auge
sinnlich an, aber durch das Auge auch die Seele des Betrachters, die sich durch
das sinnliche Organ in das Gesehene vertieft. So entsteht ein wunderbares
Spiel, das vom Kunstwerke ausgeht und sich durch das Auge zu Herz und
Geist hinbewegt, das zwischen Sinn und Seele geheimnisvoll hin und her
webt, um so mächtiger und beglückender, je höher und edler das Kunstwerk ist.
Von diesem beseeligenden Wesen der Kunst scheinen die Anbeter der Mache,
die Wieprvpheten gar keine Ahnung zu haben. Denn sie mißachten, ja sie
verachten das Geistige und behaupten, nur auf das "Wie" komme es an, wie
ein Kunstwerk gemacht sei, wenn es nur recht zu den Sinnen spreche und die
Frage ausschließe, was sich der Beschauer etwa dabei denken könne. Diese
Kehrichthaufenästhetik ist eine große Verirrung. Man verlangt doch vom
Redner -- und auch die Jungen werden das noch thun --, daß er nicht bloß
im "Vortrage sein Glück" suche, sondern auch Gedanken ausspreche, daß der
Dichter nicht bloß Schellenlaute Worte drechsle und klingelnde Reime Schmiede,
sondern auch dichterischen Gehalt gebe. Und der Maler, der Künstler sollte
das Recht haben, bloß seine gleißenden Kehrichthaufen für die wahren Schöpfungen
"reiner Kunst" auszugeben? Das ist eine krankhafte Verirrung.

Diese Verirrung wuchert aber heute, begünstigt durch die erwähnte all¬
gemeine Geistesrichtung, in breiten Schichten der Gesellschaft mit großer Üppig¬
keit. Und während sie die Mache anbetet, verfolgt sie alles Geistige mit Haß,
je bedeutender dies ist, mit desto größerm Hasse. Am meisten haßt sie Cor¬
nelius, den geistesmächtigen gewaltigen Meister, denn ihn vermag sie am aller¬
wenigsten zu fassen. Ein Künstler wie Vegas langweilt sich vor den "apo¬
kalyptischen Reitern" und schilt den "Fall Babels" humorlos. Er redet mit
absichtlicher Wegwerfung von den "papiernen Gedanken eines Cornelius," er
schätzt oder bewertet "die gesamten Schöpfungen dieses genialen Kopfes" noch
nicht so hoch wie "ein holländisches Stillleben aus bester Zeit" und behauptet,
daß "Cornelius eigentlich der Kunst fern gestanden" habe. Über die gegen¬
stündliche Abgeschmacktheit solcher Äußerungen verliere ich kein Wort. Aber
ich muß mit Nachdruck hervorheben, daß sie ein klassisches Zeugnis dafür sind,
wie hoch Cornelius über solchen Künstlern steht. Eben deshalb der Haß, die
Sucht, ihn womöglich zu beseitigen. Schon vor sechzehn Jahren erhob Herr
Ludwig Pietsch in Berlin, dem Begas einen so großen Teil seines Ruhmes


Jur Ivürdigung der gegenwärtigen Kunstbestrebungen

mung. Man braucht sich gar nicht auf die Philosophen und Ästhetiker von
Aristoteles herab bis zu Kant und dessen Nachfolgern zu berufen, auch die
Künstler dachten so. Sagte doch schon um das Jahr 1400 Cemn'no Cennini,
daß die Malerei eine Kunst sei, „die zugleich mit der Ausführung der Hand
Phantasie erfordert, um nie gesehene Dinge zu erfinden, indem man sie in die
Hülle des Natürlichen steckt, und sie mit der Hand festzuhalten, indem mau
als wirklich vorstellt, was nicht vorhanden ist." In dem echten und wahr¬
haften Kunstwerke liegt immer etwas Geheimnisvolles. Es regt das Auge
sinnlich an, aber durch das Auge auch die Seele des Betrachters, die sich durch
das sinnliche Organ in das Gesehene vertieft. So entsteht ein wunderbares
Spiel, das vom Kunstwerke ausgeht und sich durch das Auge zu Herz und
Geist hinbewegt, das zwischen Sinn und Seele geheimnisvoll hin und her
webt, um so mächtiger und beglückender, je höher und edler das Kunstwerk ist.
Von diesem beseeligenden Wesen der Kunst scheinen die Anbeter der Mache,
die Wieprvpheten gar keine Ahnung zu haben. Denn sie mißachten, ja sie
verachten das Geistige und behaupten, nur auf das „Wie" komme es an, wie
ein Kunstwerk gemacht sei, wenn es nur recht zu den Sinnen spreche und die
Frage ausschließe, was sich der Beschauer etwa dabei denken könne. Diese
Kehrichthaufenästhetik ist eine große Verirrung. Man verlangt doch vom
Redner — und auch die Jungen werden das noch thun —, daß er nicht bloß
im „Vortrage sein Glück" suche, sondern auch Gedanken ausspreche, daß der
Dichter nicht bloß Schellenlaute Worte drechsle und klingelnde Reime Schmiede,
sondern auch dichterischen Gehalt gebe. Und der Maler, der Künstler sollte
das Recht haben, bloß seine gleißenden Kehrichthaufen für die wahren Schöpfungen
„reiner Kunst" auszugeben? Das ist eine krankhafte Verirrung.

Diese Verirrung wuchert aber heute, begünstigt durch die erwähnte all¬
gemeine Geistesrichtung, in breiten Schichten der Gesellschaft mit großer Üppig¬
keit. Und während sie die Mache anbetet, verfolgt sie alles Geistige mit Haß,
je bedeutender dies ist, mit desto größerm Hasse. Am meisten haßt sie Cor¬
nelius, den geistesmächtigen gewaltigen Meister, denn ihn vermag sie am aller¬
wenigsten zu fassen. Ein Künstler wie Vegas langweilt sich vor den „apo¬
kalyptischen Reitern" und schilt den „Fall Babels" humorlos. Er redet mit
absichtlicher Wegwerfung von den „papiernen Gedanken eines Cornelius," er
schätzt oder bewertet „die gesamten Schöpfungen dieses genialen Kopfes" noch
nicht so hoch wie „ein holländisches Stillleben aus bester Zeit" und behauptet,
daß „Cornelius eigentlich der Kunst fern gestanden" habe. Über die gegen¬
stündliche Abgeschmacktheit solcher Äußerungen verliere ich kein Wort. Aber
ich muß mit Nachdruck hervorheben, daß sie ein klassisches Zeugnis dafür sind,
wie hoch Cornelius über solchen Künstlern steht. Eben deshalb der Haß, die
Sucht, ihn womöglich zu beseitigen. Schon vor sechzehn Jahren erhob Herr
Ludwig Pietsch in Berlin, dem Begas einen so großen Teil seines Ruhmes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/186>, abgerufen am 25.06.2024.