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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

manu (Leipzig, Wilhelm Friedrich) verzichtet wenigstens auf die Parteiphrase
und den Donner der Zeitungsrhetorik, aber das Grauen und das Elend, die
schlimmsten Möglichkeiten im Arbeiterdasein, werden auch hier dargestellt. Und
zwar mit der grausamen Deutlichkeit, dem Ausmalen der Begleitumstände,
dem unheimlichen Nachahmen grauenvoller Laute, die diese modernsten Er¬
zählungen zu einer Art von Gespenstergeschichten gestalten. Ein frischer Bube
vom Lande, der in der Fabrik arbeitet, wird fünf Minuten, nachdem er
mit lüsternem Behagen seinen letzten Sonntagsmohnkuchen verspeist hat, von der
Rotationsmaschine erfaßt, zermalmt, man hört die Knochen zerbrechen, den
Kopf an die Decke schlagen. Eine Dirne, die ihren Liebsten zum Diebstahl
angeleitet hat, stürzt sich, als man sie verhindern will, mit dem aus dem
Zuchthaus zurückgekehrten wieder anzuknüpfen, verzweifelnd ins Wasser. Ein
Arbeiter, der beim nächtlichen Neinigen eines großen Dampfkessels vom Kessel¬
stein seinen Rock im Kessel gelassen 'hat, schlüpft noch einmal hinein, das
Kleidungsstück zu holen, der Gehilfe, der den Deckel über der Kesselöffnung
schließt, ist taub, der übermüdete Wächter hat den Eindruck, als ob irgendwo
außen ans Fenster geschlagen und was gerufen habe, niemand achtet darauf,
der Kessel wird mit heißem Wasser gefüllt, wird angeheizt, ein paar Stunden
später fliegt eine Hummel durch den Saal -- eine furchtbare Ahnung des
wahren Sachverhalts, "gegen zwölf brachte man den Körper ans Licht. Man
hatte Mühe." In dieser Weise weiter -- kein Mensch kann sagen, daß das
alles nicht wahr, nicht möglich sei, nein, es ist so wirklich, als es wirklich ist,
daß arme Weiber und Kinder von ihren versoffnen Männern und Vätern dem
Hunger preisgegeben werden, aber in der Verwendung all dieser grauenhaften
Wirklichkeiten für den bloßen litterarischen Effekt, in der Aufputzung solcher
Dinge mit Landschaftsstimmungen und mit Wiedergabe der umgebenden Ge¬
rüche, in der ganzen Zurechtmachung solcher Dinge für Leser auf dem Sofa
liegt ein handgreiflicher Widerspruch. Nicht einmal Mitleid wecken können
diese Art Bilder, in denen die Gesichter nicht hervortreten, die keinen Blick in
die Seelen der Menschen verstatten, die keinen andern Zweck zu haben scheinen,
als den, die sinnlose Grausamkeit des Lebens immer aufs neue zu betonen.
Denn die Maschinen und die Arbeit in ihrer gefährlichen Nähe abzuschaffen,
davon hat auch die Sozialdemokratie bisher nichts verlauten lassen, und ein
andres Gefühl als das der Gebrechlichkeit des Daseins und der Unzulänglich¬
keit aller menschlichen Einrichtungen können doch diese Art Schilderungen nicht
hervorrufen.

Auf der Grenze zwischen unmittelbarer lebenspiegelnder Poesie und neuester
Tendenzkunst stehen die Novellen Starke Seelen von Karl von Vincenti
(Dresden und Leipzig, Ed. Piersons Verlag, 1893). Die erste, "Verbotene Welt,"
spielt in den Klöstern der Athoshcilbinsel und stellt die Rache einer jungen
russischen Nihilistin an einem nichtswürdigen Tschinownik dar, der ihr Eltern


Neue Novellen

manu (Leipzig, Wilhelm Friedrich) verzichtet wenigstens auf die Parteiphrase
und den Donner der Zeitungsrhetorik, aber das Grauen und das Elend, die
schlimmsten Möglichkeiten im Arbeiterdasein, werden auch hier dargestellt. Und
zwar mit der grausamen Deutlichkeit, dem Ausmalen der Begleitumstände,
dem unheimlichen Nachahmen grauenvoller Laute, die diese modernsten Er¬
zählungen zu einer Art von Gespenstergeschichten gestalten. Ein frischer Bube
vom Lande, der in der Fabrik arbeitet, wird fünf Minuten, nachdem er
mit lüsternem Behagen seinen letzten Sonntagsmohnkuchen verspeist hat, von der
Rotationsmaschine erfaßt, zermalmt, man hört die Knochen zerbrechen, den
Kopf an die Decke schlagen. Eine Dirne, die ihren Liebsten zum Diebstahl
angeleitet hat, stürzt sich, als man sie verhindern will, mit dem aus dem
Zuchthaus zurückgekehrten wieder anzuknüpfen, verzweifelnd ins Wasser. Ein
Arbeiter, der beim nächtlichen Neinigen eines großen Dampfkessels vom Kessel¬
stein seinen Rock im Kessel gelassen 'hat, schlüpft noch einmal hinein, das
Kleidungsstück zu holen, der Gehilfe, der den Deckel über der Kesselöffnung
schließt, ist taub, der übermüdete Wächter hat den Eindruck, als ob irgendwo
außen ans Fenster geschlagen und was gerufen habe, niemand achtet darauf,
der Kessel wird mit heißem Wasser gefüllt, wird angeheizt, ein paar Stunden
später fliegt eine Hummel durch den Saal — eine furchtbare Ahnung des
wahren Sachverhalts, „gegen zwölf brachte man den Körper ans Licht. Man
hatte Mühe." In dieser Weise weiter — kein Mensch kann sagen, daß das
alles nicht wahr, nicht möglich sei, nein, es ist so wirklich, als es wirklich ist,
daß arme Weiber und Kinder von ihren versoffnen Männern und Vätern dem
Hunger preisgegeben werden, aber in der Verwendung all dieser grauenhaften
Wirklichkeiten für den bloßen litterarischen Effekt, in der Aufputzung solcher
Dinge mit Landschaftsstimmungen und mit Wiedergabe der umgebenden Ge¬
rüche, in der ganzen Zurechtmachung solcher Dinge für Leser auf dem Sofa
liegt ein handgreiflicher Widerspruch. Nicht einmal Mitleid wecken können
diese Art Bilder, in denen die Gesichter nicht hervortreten, die keinen Blick in
die Seelen der Menschen verstatten, die keinen andern Zweck zu haben scheinen,
als den, die sinnlose Grausamkeit des Lebens immer aufs neue zu betonen.
Denn die Maschinen und die Arbeit in ihrer gefährlichen Nähe abzuschaffen,
davon hat auch die Sozialdemokratie bisher nichts verlauten lassen, und ein
andres Gefühl als das der Gebrechlichkeit des Daseins und der Unzulänglich¬
keit aller menschlichen Einrichtungen können doch diese Art Schilderungen nicht
hervorrufen.

Auf der Grenze zwischen unmittelbarer lebenspiegelnder Poesie und neuester
Tendenzkunst stehen die Novellen Starke Seelen von Karl von Vincenti
(Dresden und Leipzig, Ed. Piersons Verlag, 1893). Die erste, „Verbotene Welt,"
spielt in den Klöstern der Athoshcilbinsel und stellt die Rache einer jungen
russischen Nihilistin an einem nichtswürdigen Tschinownik dar, der ihr Eltern


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[0139] Neue Novellen manu (Leipzig, Wilhelm Friedrich) verzichtet wenigstens auf die Parteiphrase und den Donner der Zeitungsrhetorik, aber das Grauen und das Elend, die schlimmsten Möglichkeiten im Arbeiterdasein, werden auch hier dargestellt. Und zwar mit der grausamen Deutlichkeit, dem Ausmalen der Begleitumstände, dem unheimlichen Nachahmen grauenvoller Laute, die diese modernsten Er¬ zählungen zu einer Art von Gespenstergeschichten gestalten. Ein frischer Bube vom Lande, der in der Fabrik arbeitet, wird fünf Minuten, nachdem er mit lüsternem Behagen seinen letzten Sonntagsmohnkuchen verspeist hat, von der Rotationsmaschine erfaßt, zermalmt, man hört die Knochen zerbrechen, den Kopf an die Decke schlagen. Eine Dirne, die ihren Liebsten zum Diebstahl angeleitet hat, stürzt sich, als man sie verhindern will, mit dem aus dem Zuchthaus zurückgekehrten wieder anzuknüpfen, verzweifelnd ins Wasser. Ein Arbeiter, der beim nächtlichen Neinigen eines großen Dampfkessels vom Kessel¬ stein seinen Rock im Kessel gelassen 'hat, schlüpft noch einmal hinein, das Kleidungsstück zu holen, der Gehilfe, der den Deckel über der Kesselöffnung schließt, ist taub, der übermüdete Wächter hat den Eindruck, als ob irgendwo außen ans Fenster geschlagen und was gerufen habe, niemand achtet darauf, der Kessel wird mit heißem Wasser gefüllt, wird angeheizt, ein paar Stunden später fliegt eine Hummel durch den Saal — eine furchtbare Ahnung des wahren Sachverhalts, „gegen zwölf brachte man den Körper ans Licht. Man hatte Mühe." In dieser Weise weiter — kein Mensch kann sagen, daß das alles nicht wahr, nicht möglich sei, nein, es ist so wirklich, als es wirklich ist, daß arme Weiber und Kinder von ihren versoffnen Männern und Vätern dem Hunger preisgegeben werden, aber in der Verwendung all dieser grauenhaften Wirklichkeiten für den bloßen litterarischen Effekt, in der Aufputzung solcher Dinge mit Landschaftsstimmungen und mit Wiedergabe der umgebenden Ge¬ rüche, in der ganzen Zurechtmachung solcher Dinge für Leser auf dem Sofa liegt ein handgreiflicher Widerspruch. Nicht einmal Mitleid wecken können diese Art Bilder, in denen die Gesichter nicht hervortreten, die keinen Blick in die Seelen der Menschen verstatten, die keinen andern Zweck zu haben scheinen, als den, die sinnlose Grausamkeit des Lebens immer aufs neue zu betonen. Denn die Maschinen und die Arbeit in ihrer gefährlichen Nähe abzuschaffen, davon hat auch die Sozialdemokratie bisher nichts verlauten lassen, und ein andres Gefühl als das der Gebrechlichkeit des Daseins und der Unzulänglich¬ keit aller menschlichen Einrichtungen können doch diese Art Schilderungen nicht hervorrufen. Auf der Grenze zwischen unmittelbarer lebenspiegelnder Poesie und neuester Tendenzkunst stehen die Novellen Starke Seelen von Karl von Vincenti (Dresden und Leipzig, Ed. Piersons Verlag, 1893). Die erste, „Verbotene Welt," spielt in den Klöstern der Athoshcilbinsel und stellt die Rache einer jungen russischen Nihilistin an einem nichtswürdigen Tschinownik dar, der ihr Eltern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/139>, abgerufen am 25.08.2024.