Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Neue Novellen und Bruder verdorben hat und jetzt für seine zahllosen Sünden im Russikon¬ Neue Novellen und Bruder verdorben hat und jetzt für seine zahllosen Sünden im Russikon¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0140" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219142"/> <fw type="header" place="top"> Neue Novellen</fw><lb/> <p xml:id="ID_397" prev="#ID_396" next="#ID_398"> und Bruder verdorben hat und jetzt für seine zahllosen Sünden im Russikon¬<lb/> kloster des heiligen Berges zu büßen sucht, übrigens derselbe schnöde Gesell<lb/> ist, der beim Erkennen der schönen Wem Schagodin, die als Novize Zeno und<lb/> in der Verkleidung eines Malers Zutritt im Kloster gefunden hat, sofort in<lb/> alter, unheiliger Glut aufflammt. Wem läuft freilich Gefahr, sich in den<lb/> schönen jungen Mönch Dionys zu verlieben, da dieser aber, sowie er das Weib<lb/> in ihr erkennt, sie als Versucherin von sich scheucht, besinnt sie sich auf ihre<lb/> eigentliche Aufgabe, es gelingt ihr, auf einsamem Felspfade den Verderber ihrer<lb/> Familie, Dimitri, zu überfallen und ihn mit in die Tiefe zu reißen. Die<lb/> Wirkung der Novelle beruht nicht auf dem Rachemotiv, das fast in allen<lb/> russischen Nihilistengeschichten wiederkehrt, sondern auf der eigentümlichen Sze¬<lb/> nerie und dem glänzenden Kolorit. Die Novelle: Lursuw, ooräa! Geschichte<lb/> eines Apostels schildert Demütigung und Tod eines begeisterten Vorkämpfers<lb/> für die Frauenemanzipation, der sich vor Zeiten als Erich Dahlfeld am Weibe<lb/> versündigt hat und nun als Thörncrost ein Apostel für das Weib geworden<lb/> ist, übrigens doch fortfährt, die Norwegerin Haggcii, seine stete Begleiterin<lb/> und seinen Impresario auf Reisen, unter die Füße zu treten. Haggai ist ein<lb/> Frauenexemplar, wie es nur die jüngste Zeit hervorgebracht hat, und für das<lb/> sich auch uur die jüngste Novellistik erwärmen kann. Sie hat bereits alles<lb/> mögliche und unmögliche versucht, ohne als Frau Schaden zu nehmen. „Sie<lb/> wollte sich der Bühne widmen, aber ihr hohl(?)nubes Organ ließ sich nicht<lb/> schneidigen, sie stümperte jahrelang auf der Geige, klemmte dann das Cello<lb/> zwischen die Kniee, warf aber schließlich beide in die Ecke, um sich für Leona Dare<lb/> zu begeistern, die sich über Haggais Gebiß beifällig geäußert hatte. Sie probirte<lb/> nach langen Vorstudien das bekannte Trapezkunststück mit den Zähnen, das die<lb/> Amerikanerin erfunden (hatte?), und brach sich vier Zähne und einen Arm.<lb/> Mit der Luftschifferci ging es fast noch schlimmer, denn um ein Haar hätte<lb/> sie den Hals gebrochen. Nun ließ sie sich vier Zähne einsetzen und verbiß<lb/> sich in die Frauenfrage, deren lebendige Verkörperung nach der abenteuerlich¬<lb/> bizarren Seite sie ohnehin darstellte." Und Thörncrost, der mit diesem Wesen<lb/> seine Agitativnsreisen unternimmt, „kümmerte sich wenig darum, ob sich unter<lb/> dieser seltsamen Hülle ein vollschlagendes Frauenherz barg oder nicht. Er<lb/> suchte weder, noch erblickte er in Haggai die Frau, hielt gute Kameradschaft<lb/> und nützte den Kameraden als Faktotum mit jener selbstverständlichen Jchlunst<lb/> aus, die ihm angeboren jwar?^." Er hat so wenig eine Ahnung von der<lb/> eifersüchtigen Leidenschaft, mit der ihn Haggai überwacht, daß er, selbst als er<lb/> gewarnt ist, seine Bewerbung um Lytta, die Tochter des Ministers Salten-<lb/> berg und die Schwester jener Beatrice, die er vor Jahren in einem Hotel in<lb/> Mailand zu überfallen versucht hat, noch fortsetzt. Und in seiner Liebessehn¬<lb/> sucht ist er bereit, auch die „Sache," die er lange so beredt vertreten hat,<lb/> aufzugeben. Ehe es dazu kommt, hat Haggai, die den Apostel für sich und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0140]
Neue Novellen
und Bruder verdorben hat und jetzt für seine zahllosen Sünden im Russikon¬
kloster des heiligen Berges zu büßen sucht, übrigens derselbe schnöde Gesell
ist, der beim Erkennen der schönen Wem Schagodin, die als Novize Zeno und
in der Verkleidung eines Malers Zutritt im Kloster gefunden hat, sofort in
alter, unheiliger Glut aufflammt. Wem läuft freilich Gefahr, sich in den
schönen jungen Mönch Dionys zu verlieben, da dieser aber, sowie er das Weib
in ihr erkennt, sie als Versucherin von sich scheucht, besinnt sie sich auf ihre
eigentliche Aufgabe, es gelingt ihr, auf einsamem Felspfade den Verderber ihrer
Familie, Dimitri, zu überfallen und ihn mit in die Tiefe zu reißen. Die
Wirkung der Novelle beruht nicht auf dem Rachemotiv, das fast in allen
russischen Nihilistengeschichten wiederkehrt, sondern auf der eigentümlichen Sze¬
nerie und dem glänzenden Kolorit. Die Novelle: Lursuw, ooräa! Geschichte
eines Apostels schildert Demütigung und Tod eines begeisterten Vorkämpfers
für die Frauenemanzipation, der sich vor Zeiten als Erich Dahlfeld am Weibe
versündigt hat und nun als Thörncrost ein Apostel für das Weib geworden
ist, übrigens doch fortfährt, die Norwegerin Haggcii, seine stete Begleiterin
und seinen Impresario auf Reisen, unter die Füße zu treten. Haggai ist ein
Frauenexemplar, wie es nur die jüngste Zeit hervorgebracht hat, und für das
sich auch uur die jüngste Novellistik erwärmen kann. Sie hat bereits alles
mögliche und unmögliche versucht, ohne als Frau Schaden zu nehmen. „Sie
wollte sich der Bühne widmen, aber ihr hohl(?)nubes Organ ließ sich nicht
schneidigen, sie stümperte jahrelang auf der Geige, klemmte dann das Cello
zwischen die Kniee, warf aber schließlich beide in die Ecke, um sich für Leona Dare
zu begeistern, die sich über Haggais Gebiß beifällig geäußert hatte. Sie probirte
nach langen Vorstudien das bekannte Trapezkunststück mit den Zähnen, das die
Amerikanerin erfunden (hatte?), und brach sich vier Zähne und einen Arm.
Mit der Luftschifferci ging es fast noch schlimmer, denn um ein Haar hätte
sie den Hals gebrochen. Nun ließ sie sich vier Zähne einsetzen und verbiß
sich in die Frauenfrage, deren lebendige Verkörperung nach der abenteuerlich¬
bizarren Seite sie ohnehin darstellte." Und Thörncrost, der mit diesem Wesen
seine Agitativnsreisen unternimmt, „kümmerte sich wenig darum, ob sich unter
dieser seltsamen Hülle ein vollschlagendes Frauenherz barg oder nicht. Er
suchte weder, noch erblickte er in Haggai die Frau, hielt gute Kameradschaft
und nützte den Kameraden als Faktotum mit jener selbstverständlichen Jchlunst
aus, die ihm angeboren jwar?^." Er hat so wenig eine Ahnung von der
eifersüchtigen Leidenschaft, mit der ihn Haggai überwacht, daß er, selbst als er
gewarnt ist, seine Bewerbung um Lytta, die Tochter des Ministers Salten-
berg und die Schwester jener Beatrice, die er vor Jahren in einem Hotel in
Mailand zu überfallen versucht hat, noch fortsetzt. Und in seiner Liebessehn¬
sucht ist er bereit, auch die „Sache," die er lange so beredt vertreten hat,
aufzugeben. Ehe es dazu kommt, hat Haggai, die den Apostel für sich und
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