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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

ein breiter Goldstrvm milliardentief zufließt, grenzt das Irland (!) unproduk¬
tiven Nichtsthuns, bevölkert von darbenden, zwangsweise feiernden Arbeitern."
Der Leser, der bisher in dem Wahn, daß wirklich ein Stück Leben geschildert
werden solle, den Schicksalen Vater Winklers, seines verkrüppelten Hubert und
seiner verlassenen Klara gefolgt ist, legt die Novellen mit den sozialdemo-
kratischen Leitartikelphrasen aus der Hand und sagt: Ja so! Und doch ist
diese Agitation, die sich in einen belletristischen Mantel hüllt, immer noch er¬
träglicher als die Darstellung der dämonischen Gesanglehrerin Therese, die
dem Sekretär Forbes ihr Liebe nur dann verheißt, wenn er vorher seinem
Herrn eine große Summe gestohlen und diese glücklich nach Amerika in Sicher¬
heit gebracht haben wird. In seiner Begierde nach dem Genuß dieses Weibes
stachelt sich Forbes, der eigentlich nicht das Zeug zum Knssendieb hat, sondern
eine dummbürgerliche Feigheit vor dem Zuchthaus in sich trägt, zu dem großen
Entschluß empor. Da fällt es der schweigenden Versucherin auf die Seele,
daß ihr Geliebter doch eigentlich einen zu großen Einsatz bei dem Spiele wagt,
daß Kassendiebe oft unterwegs gefaßt oder auch in Amerika entdeckt und aus¬
geliefert werden. "Wenn das Unglück es wollte, sagt die junge Dame, daß
du hinter Zuchthausmauern hinsiechtest: müßte dir nicht das Bewußtsein, selbst
den Erinnerungstrost zu entbehren, das analvolle, ungestillte Verlangen nach
dem Weib, dem du Freiheit und Leben geopfert, eine besondre übermenschliche
Sträflingsmarter bereiten?" Sie beschließt, ihn vorher zu beglücken. Er
aber, wie er aus der unerwarteten Vrautnacht erwacht, hat sein eigentliches
Selbst wiedergefunden, fühlt, daß er heute nicht mehr imstande wäre, zu thun,
wozu er noch gestern bereit war, will zwar Therese heirate", aber seinen ehr¬
lichen Namen behalten. Sie erklärt ihm hohnlachend, daß ihr der Gipfel
dieser spießbürgerlichen Moral zu erhaben sei, daß sie die Strapazen solcher
moralischer Höhenwanderung scheue. So trennen sie sich. Herr Forbes mit
der Überzeugung, daß die Moral bei seiner Wandlung nichts gewonnen habe,
weil das Temperament entschieden habe, sie mit der Überzeugung, daß sie
einen Jämmerling für einen Mann angesehen hat. Wie ist das alles wüst
in der Empfindung, outrirt in der Darstellung, wie kann ein Hauch lebendiger
Teilnahme an solchen Menschen und Menschcngeschicken erwachen? Und das
nennt der Verfasser "Stille Märtyrer." Stilles Märtyrertum giebts genug
mitten in dem Scheinfrieden und Trugbehagen unsrer bürgerlichen Zustände,
aber etwas anders als das Märtyrerinn: dieser Dame und des glücklich ge¬
retteten Herrn stehts denn doch aus. Immer wieder rufen wir den Erzählern
und Weltschilderern dieses Gepräges zu: Alles, was ihr vorführt, mag im
Leben ein- und das andremal dasein, aber es ist nicht das Leben, ihr habt
kein Recht, es dafür auszugeben, und vollends kein Recht, es Poesie u
nennen.

Die Sammlung Arbeiterleben, sechs Novellen von Philipp Lang-


Neue Novellen

ein breiter Goldstrvm milliardentief zufließt, grenzt das Irland (!) unproduk¬
tiven Nichtsthuns, bevölkert von darbenden, zwangsweise feiernden Arbeitern."
Der Leser, der bisher in dem Wahn, daß wirklich ein Stück Leben geschildert
werden solle, den Schicksalen Vater Winklers, seines verkrüppelten Hubert und
seiner verlassenen Klara gefolgt ist, legt die Novellen mit den sozialdemo-
kratischen Leitartikelphrasen aus der Hand und sagt: Ja so! Und doch ist
diese Agitation, die sich in einen belletristischen Mantel hüllt, immer noch er¬
träglicher als die Darstellung der dämonischen Gesanglehrerin Therese, die
dem Sekretär Forbes ihr Liebe nur dann verheißt, wenn er vorher seinem
Herrn eine große Summe gestohlen und diese glücklich nach Amerika in Sicher¬
heit gebracht haben wird. In seiner Begierde nach dem Genuß dieses Weibes
stachelt sich Forbes, der eigentlich nicht das Zeug zum Knssendieb hat, sondern
eine dummbürgerliche Feigheit vor dem Zuchthaus in sich trägt, zu dem großen
Entschluß empor. Da fällt es der schweigenden Versucherin auf die Seele,
daß ihr Geliebter doch eigentlich einen zu großen Einsatz bei dem Spiele wagt,
daß Kassendiebe oft unterwegs gefaßt oder auch in Amerika entdeckt und aus¬
geliefert werden. „Wenn das Unglück es wollte, sagt die junge Dame, daß
du hinter Zuchthausmauern hinsiechtest: müßte dir nicht das Bewußtsein, selbst
den Erinnerungstrost zu entbehren, das analvolle, ungestillte Verlangen nach
dem Weib, dem du Freiheit und Leben geopfert, eine besondre übermenschliche
Sträflingsmarter bereiten?" Sie beschließt, ihn vorher zu beglücken. Er
aber, wie er aus der unerwarteten Vrautnacht erwacht, hat sein eigentliches
Selbst wiedergefunden, fühlt, daß er heute nicht mehr imstande wäre, zu thun,
wozu er noch gestern bereit war, will zwar Therese heirate», aber seinen ehr¬
lichen Namen behalten. Sie erklärt ihm hohnlachend, daß ihr der Gipfel
dieser spießbürgerlichen Moral zu erhaben sei, daß sie die Strapazen solcher
moralischer Höhenwanderung scheue. So trennen sie sich. Herr Forbes mit
der Überzeugung, daß die Moral bei seiner Wandlung nichts gewonnen habe,
weil das Temperament entschieden habe, sie mit der Überzeugung, daß sie
einen Jämmerling für einen Mann angesehen hat. Wie ist das alles wüst
in der Empfindung, outrirt in der Darstellung, wie kann ein Hauch lebendiger
Teilnahme an solchen Menschen und Menschcngeschicken erwachen? Und das
nennt der Verfasser „Stille Märtyrer." Stilles Märtyrertum giebts genug
mitten in dem Scheinfrieden und Trugbehagen unsrer bürgerlichen Zustände,
aber etwas anders als das Märtyrerinn: dieser Dame und des glücklich ge¬
retteten Herrn stehts denn doch aus. Immer wieder rufen wir den Erzählern
und Weltschilderern dieses Gepräges zu: Alles, was ihr vorführt, mag im
Leben ein- und das andremal dasein, aber es ist nicht das Leben, ihr habt
kein Recht, es dafür auszugeben, und vollends kein Recht, es Poesie u
nennen.

Die Sammlung Arbeiterleben, sechs Novellen von Philipp Lang-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/138>, abgerufen am 25.08.2024.