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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

stille Hafen." so traurig auch die Schilderung des Verfalls ist, enthalt einige
gute Beobachtungen, und die Wahrheit der Darstellung würde gewirkt haben,
ohne daß der Verfasser eine leise Apologie des jüdischen Güterwuchers damit
verbunden hätte.

Noch verbildeter und unerquicklicher zeigt sich die Weltanschauung, die
den Novellen Stille Märtyrer, moderne Erzählungen von Georg Keder
(Zürich, Verlagsmagazin, 1894) zu Grunde liegt und den Gesamteindruck
theatralischer Tendenz hinterläßt. Wir haben nichts dagegen zu erinnern,
daß der Sittlichkeitsheuchelei die Maske abgerissen wird, wie es in der Novelle
"Eine Begegnung" geschieht, wir wollen es gelten lassen, daß der übermütige
Fabrikantensohn in der Novelle "Wir sind alle Arbeiter!" (der sich freilich
erfrecht hat, die Arbeit am Komptortisch neben die schwere Handarbeit zu
stellen!) beim ersten Versuch gleich einem Heizer im Kohlenraum eines Dampf¬
schiffes Kohlen zu drinnen, von einem Blutsturz und dem Tod ereilt wird,
wir wollen gegen die beinahe unmögliche Zusammenhäufung aller erdenklichen
Unternehmer- und Polizeihartherzigkeiten und aller überhaupt möglichen Mi߬
geschicke auf dem Haupte des braven Winkler in der Erzählung "Einer von
der Reservearmee" nicht mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen kommen, aber die
letzten Drücker, die der Verfasser seinen Geschichten aufzusetzen beliebt, stellen
nicht nur ihre poetische Wirkung -- um die ists den Autoren dieser Richtung
ja nicht zu thun --, sondern auch ihre innere Wahrheit in Frage. Es mag
sein, daß ein Wüstling wie der Neichstagsabgeoronete Herr Felix von Win-
graff in der kleinen Berliner Demimondedame, die er sich aufs Zimmer be¬
stellt hat, die eigne Tochter wiederfindet, und daß sich diese lieber ertränkt,
als daß sie sich von einem solchen Vater helfen läßt, aber es ist tendenziös
erlogen, daß der so moralisch Zerschmetterte hingeht und im Reichstag eine
gewaltige Rede hält, die in dem Satze gipfelt, es sei nötig, daß "der Arbeits¬
herr die Frauen und Kinder seiner Untergebnen in strenge moralische Zucht
nehme, um sie vor dem Abgrund der Prostitution zu retten." Mag alles
wahr sein, was in der Jammergeschichte "Einer von der Reservearmee" vor¬
getragen wird, aber der Glauben daran schwindet sofort, wie der Verfasser
seinen besten Trumpf ausspielt: "schmetternde Militärmusik untermischt mit
dem Johlen voraneilender halbwüchsiger Burschen verkündet die vornehmste
Blüte des modernen Kultureuropäertums: Soldaten in Reih und Glied. . .
gutgedrillte, gerade, prächtige, stramme Soldaten! Mit klingendem Spiel
marschiren die blauen Landeskinder zur Übung nach dem Exerzierfeld hinans-
feindselig betrachtet Winkler die blinkenden, hohen Gewehrlünfe des Jnfcmterie-
bataillons. Einer von der Reservearmee hatte ihn Fergius genannt. Trau¬
riges Gleichnis! Wenn es kein waffenstarrendcs Heerlager mitten im Frieden
gäbe, verschwände vielleicht auch die wehrlose Reservearmee der Arbeit. O
trauriges Gleichnis! An das Schlaraffenweltreich (!) des Militarismus, dem


Grenzboten I 1895 17
Neue Novellen

stille Hafen." so traurig auch die Schilderung des Verfalls ist, enthalt einige
gute Beobachtungen, und die Wahrheit der Darstellung würde gewirkt haben,
ohne daß der Verfasser eine leise Apologie des jüdischen Güterwuchers damit
verbunden hätte.

Noch verbildeter und unerquicklicher zeigt sich die Weltanschauung, die
den Novellen Stille Märtyrer, moderne Erzählungen von Georg Keder
(Zürich, Verlagsmagazin, 1894) zu Grunde liegt und den Gesamteindruck
theatralischer Tendenz hinterläßt. Wir haben nichts dagegen zu erinnern,
daß der Sittlichkeitsheuchelei die Maske abgerissen wird, wie es in der Novelle
„Eine Begegnung" geschieht, wir wollen es gelten lassen, daß der übermütige
Fabrikantensohn in der Novelle „Wir sind alle Arbeiter!" (der sich freilich
erfrecht hat, die Arbeit am Komptortisch neben die schwere Handarbeit zu
stellen!) beim ersten Versuch gleich einem Heizer im Kohlenraum eines Dampf¬
schiffes Kohlen zu drinnen, von einem Blutsturz und dem Tod ereilt wird,
wir wollen gegen die beinahe unmögliche Zusammenhäufung aller erdenklichen
Unternehmer- und Polizeihartherzigkeiten und aller überhaupt möglichen Mi߬
geschicke auf dem Haupte des braven Winkler in der Erzählung „Einer von
der Reservearmee" nicht mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen kommen, aber die
letzten Drücker, die der Verfasser seinen Geschichten aufzusetzen beliebt, stellen
nicht nur ihre poetische Wirkung — um die ists den Autoren dieser Richtung
ja nicht zu thun —, sondern auch ihre innere Wahrheit in Frage. Es mag
sein, daß ein Wüstling wie der Neichstagsabgeoronete Herr Felix von Win-
graff in der kleinen Berliner Demimondedame, die er sich aufs Zimmer be¬
stellt hat, die eigne Tochter wiederfindet, und daß sich diese lieber ertränkt,
als daß sie sich von einem solchen Vater helfen läßt, aber es ist tendenziös
erlogen, daß der so moralisch Zerschmetterte hingeht und im Reichstag eine
gewaltige Rede hält, die in dem Satze gipfelt, es sei nötig, daß „der Arbeits¬
herr die Frauen und Kinder seiner Untergebnen in strenge moralische Zucht
nehme, um sie vor dem Abgrund der Prostitution zu retten." Mag alles
wahr sein, was in der Jammergeschichte „Einer von der Reservearmee" vor¬
getragen wird, aber der Glauben daran schwindet sofort, wie der Verfasser
seinen besten Trumpf ausspielt: „schmetternde Militärmusik untermischt mit
dem Johlen voraneilender halbwüchsiger Burschen verkündet die vornehmste
Blüte des modernen Kultureuropäertums: Soldaten in Reih und Glied. . .
gutgedrillte, gerade, prächtige, stramme Soldaten! Mit klingendem Spiel
marschiren die blauen Landeskinder zur Übung nach dem Exerzierfeld hinans-
feindselig betrachtet Winkler die blinkenden, hohen Gewehrlünfe des Jnfcmterie-
bataillons. Einer von der Reservearmee hatte ihn Fergius genannt. Trau¬
riges Gleichnis! Wenn es kein waffenstarrendcs Heerlager mitten im Frieden
gäbe, verschwände vielleicht auch die wehrlose Reservearmee der Arbeit. O
trauriges Gleichnis! An das Schlaraffenweltreich (!) des Militarismus, dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/137>, abgerufen am 23.07.2024.