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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

seiner Braut hinweg, wie eine Motte ins Licht, in die Arme der Opernsängerin
Alice, alias Satanska fliegt und sich dann von dieser in die Arme des Bürger¬
kindes Liesbeth zurückschicken läßt, ohne daß auch nur ein ernster Versuch zur
wirklichen Motivirung dieser Wandlungen gemacht würde.

Hierher gehören ferner die Novellen von Hermann Menkes (Berlin,
Freund und Jeckel, 1894), die freilich dem Talent nach höher stehen als sehr
viele geistesverwandte Gebilde, die aber, weil sie durch das Kolorit von düsterm
Grau und grellem Not vor allem pessimistische Stimmung zu wecken suchen,
keine Linienführung, keine klaren Züge mehr unterscheiden lassen. Auf dem
Hintergrunde irgend eines trostlosen, ärmlichen galizischen Nestes entfaltet sich
der Ekel am Leben in mannichfacher Gestalt. Typisch ist hierfür der Haupt¬
mann a. D. Richard von Kiernicki in der ersten Novelle "Es schneit." Der
Brave hat bis jetzt seinen Jugenderinnerungen und dem Andenken an sein ver¬
storbnes Weib gelebt, und da auf einmal überkommt ihn die Gewißheit, daß
er alt geworden ist. "Eine heftige Furcht bemächtigte sich seiner vor den ein¬
samen, träge und daauerhaft dahinschleichenden Tagen des Alters, vor dem
Einerlei, vor den täglichen Gewohnheiten, den öden Mahlzeiten. Und nun fiel
ihm auch ein, daß auch Lucia ihm bald entschwinden werde, sodaß er keine
Jugend mehr um sich haben wird (wird!). Sie war die letzte holde Täuschung
des Lebens für ihn gewesen -- und nun war auch das aus. . .. Um zu ver¬
gessen, versuchte er einer alten Gewohnheit gemäß die Gegenstände, die herum¬
standen und herumlagen, in Ordnung zu bringen, holte er die Sachen hervor,
die (!) ihm von seiner Frau zurückgeblieben und in welche (!) bis jetzt seine Er-
innerungen Seele hineingetragen hatten. Jetzt erschien ihm alles tot, dieser
alte staubige Duft, der den Kleidern anhaftete, berührte ihn peinlich, und er
sagte sich, daß ja alles unnütz sei, da man sich gegen die Vergessenheit und
Vergänglichkeit nicht wehren kann (kann!). Wie lange, und diese Kleider werden
enden, wie alle alten Lumpen, im Schmutz und Kot der Gasse." Und der
Hauptmann erschießt sich. Gewiß ist es Aufgabe der Novelle, einen besondern
Fall oder Zug des Lebens darzustellen, und dem Dichter soll man nicht mit
moralischen Gemeinplätzen kommen. Aber dies tasäium vitg-s tritt so ver¬
allgemeinernd, aufdringlich an den Leser heran, daß diesem unwillkürlich der
ketzerische Gedanke kommt: eine einzige selbstlos übernommne Pflicht würde es
Herrn von Kiernicki ersparen, dem Tod vor der Zeit ins Handwerk zu pfuschen.
Da ist ja gleich im Häuschen nebenan der Maurergesell Lendowsky gestorben --
es wäre etwas, sich um dessen hilflose Familie zu bekümmern. Aber freilich
so prosaische Naturen, die das eigne Leid in der Sorge für andre überwinden,
kann unsre neueste Erzählungskunst nicht brauchen. Die bedeutendste und
fesselndste unter diesen Novellen ist "Das Kind," eine Geschichte, die einem
tausendfach wiederkehrenden Motiv, dem Verhältnis zwischen Stiefkind und
Stiefmutter, ein paar neue Züge abgewinnt. Auch das polnische Idyll "Der


Neue Novellen

seiner Braut hinweg, wie eine Motte ins Licht, in die Arme der Opernsängerin
Alice, alias Satanska fliegt und sich dann von dieser in die Arme des Bürger¬
kindes Liesbeth zurückschicken läßt, ohne daß auch nur ein ernster Versuch zur
wirklichen Motivirung dieser Wandlungen gemacht würde.

Hierher gehören ferner die Novellen von Hermann Menkes (Berlin,
Freund und Jeckel, 1894), die freilich dem Talent nach höher stehen als sehr
viele geistesverwandte Gebilde, die aber, weil sie durch das Kolorit von düsterm
Grau und grellem Not vor allem pessimistische Stimmung zu wecken suchen,
keine Linienführung, keine klaren Züge mehr unterscheiden lassen. Auf dem
Hintergrunde irgend eines trostlosen, ärmlichen galizischen Nestes entfaltet sich
der Ekel am Leben in mannichfacher Gestalt. Typisch ist hierfür der Haupt¬
mann a. D. Richard von Kiernicki in der ersten Novelle „Es schneit." Der
Brave hat bis jetzt seinen Jugenderinnerungen und dem Andenken an sein ver¬
storbnes Weib gelebt, und da auf einmal überkommt ihn die Gewißheit, daß
er alt geworden ist. „Eine heftige Furcht bemächtigte sich seiner vor den ein¬
samen, träge und daauerhaft dahinschleichenden Tagen des Alters, vor dem
Einerlei, vor den täglichen Gewohnheiten, den öden Mahlzeiten. Und nun fiel
ihm auch ein, daß auch Lucia ihm bald entschwinden werde, sodaß er keine
Jugend mehr um sich haben wird (wird!). Sie war die letzte holde Täuschung
des Lebens für ihn gewesen — und nun war auch das aus. . .. Um zu ver¬
gessen, versuchte er einer alten Gewohnheit gemäß die Gegenstände, die herum¬
standen und herumlagen, in Ordnung zu bringen, holte er die Sachen hervor,
die (!) ihm von seiner Frau zurückgeblieben und in welche (!) bis jetzt seine Er-
innerungen Seele hineingetragen hatten. Jetzt erschien ihm alles tot, dieser
alte staubige Duft, der den Kleidern anhaftete, berührte ihn peinlich, und er
sagte sich, daß ja alles unnütz sei, da man sich gegen die Vergessenheit und
Vergänglichkeit nicht wehren kann (kann!). Wie lange, und diese Kleider werden
enden, wie alle alten Lumpen, im Schmutz und Kot der Gasse." Und der
Hauptmann erschießt sich. Gewiß ist es Aufgabe der Novelle, einen besondern
Fall oder Zug des Lebens darzustellen, und dem Dichter soll man nicht mit
moralischen Gemeinplätzen kommen. Aber dies tasäium vitg-s tritt so ver¬
allgemeinernd, aufdringlich an den Leser heran, daß diesem unwillkürlich der
ketzerische Gedanke kommt: eine einzige selbstlos übernommne Pflicht würde es
Herrn von Kiernicki ersparen, dem Tod vor der Zeit ins Handwerk zu pfuschen.
Da ist ja gleich im Häuschen nebenan der Maurergesell Lendowsky gestorben —
es wäre etwas, sich um dessen hilflose Familie zu bekümmern. Aber freilich
so prosaische Naturen, die das eigne Leid in der Sorge für andre überwinden,
kann unsre neueste Erzählungskunst nicht brauchen. Die bedeutendste und
fesselndste unter diesen Novellen ist „Das Kind," eine Geschichte, die einem
tausendfach wiederkehrenden Motiv, dem Verhältnis zwischen Stiefkind und
Stiefmutter, ein paar neue Züge abgewinnt. Auch das polnische Idyll „Der


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[0136] Neue Novellen seiner Braut hinweg, wie eine Motte ins Licht, in die Arme der Opernsängerin Alice, alias Satanska fliegt und sich dann von dieser in die Arme des Bürger¬ kindes Liesbeth zurückschicken läßt, ohne daß auch nur ein ernster Versuch zur wirklichen Motivirung dieser Wandlungen gemacht würde. Hierher gehören ferner die Novellen von Hermann Menkes (Berlin, Freund und Jeckel, 1894), die freilich dem Talent nach höher stehen als sehr viele geistesverwandte Gebilde, die aber, weil sie durch das Kolorit von düsterm Grau und grellem Not vor allem pessimistische Stimmung zu wecken suchen, keine Linienführung, keine klaren Züge mehr unterscheiden lassen. Auf dem Hintergrunde irgend eines trostlosen, ärmlichen galizischen Nestes entfaltet sich der Ekel am Leben in mannichfacher Gestalt. Typisch ist hierfür der Haupt¬ mann a. D. Richard von Kiernicki in der ersten Novelle „Es schneit." Der Brave hat bis jetzt seinen Jugenderinnerungen und dem Andenken an sein ver¬ storbnes Weib gelebt, und da auf einmal überkommt ihn die Gewißheit, daß er alt geworden ist. „Eine heftige Furcht bemächtigte sich seiner vor den ein¬ samen, träge und daauerhaft dahinschleichenden Tagen des Alters, vor dem Einerlei, vor den täglichen Gewohnheiten, den öden Mahlzeiten. Und nun fiel ihm auch ein, daß auch Lucia ihm bald entschwinden werde, sodaß er keine Jugend mehr um sich haben wird (wird!). Sie war die letzte holde Täuschung des Lebens für ihn gewesen — und nun war auch das aus. . .. Um zu ver¬ gessen, versuchte er einer alten Gewohnheit gemäß die Gegenstände, die herum¬ standen und herumlagen, in Ordnung zu bringen, holte er die Sachen hervor, die (!) ihm von seiner Frau zurückgeblieben und in welche (!) bis jetzt seine Er- innerungen Seele hineingetragen hatten. Jetzt erschien ihm alles tot, dieser alte staubige Duft, der den Kleidern anhaftete, berührte ihn peinlich, und er sagte sich, daß ja alles unnütz sei, da man sich gegen die Vergessenheit und Vergänglichkeit nicht wehren kann (kann!). Wie lange, und diese Kleider werden enden, wie alle alten Lumpen, im Schmutz und Kot der Gasse." Und der Hauptmann erschießt sich. Gewiß ist es Aufgabe der Novelle, einen besondern Fall oder Zug des Lebens darzustellen, und dem Dichter soll man nicht mit moralischen Gemeinplätzen kommen. Aber dies tasäium vitg-s tritt so ver¬ allgemeinernd, aufdringlich an den Leser heran, daß diesem unwillkürlich der ketzerische Gedanke kommt: eine einzige selbstlos übernommne Pflicht würde es Herrn von Kiernicki ersparen, dem Tod vor der Zeit ins Handwerk zu pfuschen. Da ist ja gleich im Häuschen nebenan der Maurergesell Lendowsky gestorben — es wäre etwas, sich um dessen hilflose Familie zu bekümmern. Aber freilich so prosaische Naturen, die das eigne Leid in der Sorge für andre überwinden, kann unsre neueste Erzählungskunst nicht brauchen. Die bedeutendste und fesselndste unter diesen Novellen ist „Das Kind," eine Geschichte, die einem tausendfach wiederkehrenden Motiv, dem Verhältnis zwischen Stiefkind und Stiefmutter, ein paar neue Züge abgewinnt. Auch das polnische Idyll „Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/136>, abgerufen am 25.08.2024.