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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

Schaufenster mit hundert Gegenständen füllen, alle gleich wertlos, unecht
und -- gleich anspruchsvoll, so prangen ganze Novellensammlungen mit den
interessantesten Titeln, den merkwürdigsten Problemen, den wunderlichsten Stil¬
künsten, enthalten alles, uur keinen Zug wirklicher Natur, keinen Hauch leben¬
diger Poesie. Bei alledem ist doch nicht zu verkennen, daß zwischen dem
schnöden Trödel und dem gvldpapiernen Flitter sich viel mehr Gediegnes und
dauernde Wirkung Verheißendes findet als unter den Romanen, daß die Meister
der Novelle, die unsre Litteratur vor einem Menschenalter erstehen sah, von
Gottfried Keller bis zu H. W. nicht, von Theodor Storni bis zu Heyse, noch
immer einen heilsamen Einfluß übe", sodaß wenigstens nicht das ganze Ge¬
biet der Novelle der mcmieristischen Laune und der rohen Verwilderung ver¬
füllt, die augenblicklich in höchster Geltung stehen. Der Zufall waltet hier
bald mehr bald minder günstig, für diesmal hat er eine Anzahl guter, selb¬
ständiger Leistungen neben sehr fragwürdige gestellt. Gedenken wir zunächst
der fragwürdigen und gehen dann Schritt für Schritt zum bessern und er¬
quicklichern.

Um der Gerechtigkeit willen sei noch vorausgeschickt, daß die Novellistik,
die uns nicht gefallen will, und der wir kaum die flüchtigste Teilnahme ab¬
gewinnen können, noch lange nicht die schlechteste ist. Wo aber die Pfuscherei
und die unfähige Trivialität so beschaffen sind, daß sich auch der unbefangenste
Leser über sie nicht täuschen kann, hört bekanntlich die Pflicht der Kritik auf,
und sie hebt erst wieder an, wo sich das Nichtige sür etwas Bedeutendes giebt,
oder wo das Widrige und Krankhafte mit dem Schein der Anmut und Ge¬
sundheit übertüncht wird.

Beides ist in einer ganzen Reihe neuerer Novellensammlungen leider der
Fall. Dieser Gruppe gehören Scitanska und andre Novellen von Karl
Wilhelm Geißler (Magdeburg, Albert Rathke) an, eine Sammlung, in der
sich die Geister der alten Theaterromantik und des modernsten Naturalismus
ein unerquickliches Stelldichein geben. Zwar in der Erfindung und den Cha¬
rakterzeichnungen der beiden Hauptgeschichtcn "Satanska" und "Nur ein Kind"
steckt wenig naturalistisches; in der ersten handelt sichs um den vielgebrauchten
Gegensatz zwischen der Neigung zu einem häuslichen Mädchen und der Leiden¬
schaft für eine Theaterprinzessin, in der zweiten um die alte Geschichte, daß
ein ungestümes halbes Kind einem jungeu Studenten die Glut der Liebe und
höchsten Lebenshoffnung im Herzen entfacht, als sie herangereift ist, dem jungen
Juristen einen hübschen Leutnant vorzieht und den braven Heinz für sein ganzes
Leben einsam läßt. Aber innerhalb der ersten spielt die neueste Philosophie
oder vielmehr Physiologie der Liebe ihre Rolle. "Gesetzt den Fall, daß du
je durch Weiber Kummer haben solltest, so bitte ich dich, dich des entsetzlich
Baraten zu erinnern, was doch schließlich das Wesen der Liebe ausmacht."
Von dieser Überzeugung muß auch der Held Valentin erfüllt sein, der erst von


Neue Novellen

Schaufenster mit hundert Gegenständen füllen, alle gleich wertlos, unecht
und — gleich anspruchsvoll, so prangen ganze Novellensammlungen mit den
interessantesten Titeln, den merkwürdigsten Problemen, den wunderlichsten Stil¬
künsten, enthalten alles, uur keinen Zug wirklicher Natur, keinen Hauch leben¬
diger Poesie. Bei alledem ist doch nicht zu verkennen, daß zwischen dem
schnöden Trödel und dem gvldpapiernen Flitter sich viel mehr Gediegnes und
dauernde Wirkung Verheißendes findet als unter den Romanen, daß die Meister
der Novelle, die unsre Litteratur vor einem Menschenalter erstehen sah, von
Gottfried Keller bis zu H. W. nicht, von Theodor Storni bis zu Heyse, noch
immer einen heilsamen Einfluß übe», sodaß wenigstens nicht das ganze Ge¬
biet der Novelle der mcmieristischen Laune und der rohen Verwilderung ver¬
füllt, die augenblicklich in höchster Geltung stehen. Der Zufall waltet hier
bald mehr bald minder günstig, für diesmal hat er eine Anzahl guter, selb¬
ständiger Leistungen neben sehr fragwürdige gestellt. Gedenken wir zunächst
der fragwürdigen und gehen dann Schritt für Schritt zum bessern und er¬
quicklichern.

Um der Gerechtigkeit willen sei noch vorausgeschickt, daß die Novellistik,
die uns nicht gefallen will, und der wir kaum die flüchtigste Teilnahme ab¬
gewinnen können, noch lange nicht die schlechteste ist. Wo aber die Pfuscherei
und die unfähige Trivialität so beschaffen sind, daß sich auch der unbefangenste
Leser über sie nicht täuschen kann, hört bekanntlich die Pflicht der Kritik auf,
und sie hebt erst wieder an, wo sich das Nichtige sür etwas Bedeutendes giebt,
oder wo das Widrige und Krankhafte mit dem Schein der Anmut und Ge¬
sundheit übertüncht wird.

Beides ist in einer ganzen Reihe neuerer Novellensammlungen leider der
Fall. Dieser Gruppe gehören Scitanska und andre Novellen von Karl
Wilhelm Geißler (Magdeburg, Albert Rathke) an, eine Sammlung, in der
sich die Geister der alten Theaterromantik und des modernsten Naturalismus
ein unerquickliches Stelldichein geben. Zwar in der Erfindung und den Cha¬
rakterzeichnungen der beiden Hauptgeschichtcn „Satanska" und „Nur ein Kind"
steckt wenig naturalistisches; in der ersten handelt sichs um den vielgebrauchten
Gegensatz zwischen der Neigung zu einem häuslichen Mädchen und der Leiden¬
schaft für eine Theaterprinzessin, in der zweiten um die alte Geschichte, daß
ein ungestümes halbes Kind einem jungeu Studenten die Glut der Liebe und
höchsten Lebenshoffnung im Herzen entfacht, als sie herangereift ist, dem jungen
Juristen einen hübschen Leutnant vorzieht und den braven Heinz für sein ganzes
Leben einsam läßt. Aber innerhalb der ersten spielt die neueste Philosophie
oder vielmehr Physiologie der Liebe ihre Rolle. „Gesetzt den Fall, daß du
je durch Weiber Kummer haben solltest, so bitte ich dich, dich des entsetzlich
Baraten zu erinnern, was doch schließlich das Wesen der Liebe ausmacht."
Von dieser Überzeugung muß auch der Held Valentin erfüllt sein, der erst von


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[0135] Neue Novellen Schaufenster mit hundert Gegenständen füllen, alle gleich wertlos, unecht und — gleich anspruchsvoll, so prangen ganze Novellensammlungen mit den interessantesten Titeln, den merkwürdigsten Problemen, den wunderlichsten Stil¬ künsten, enthalten alles, uur keinen Zug wirklicher Natur, keinen Hauch leben¬ diger Poesie. Bei alledem ist doch nicht zu verkennen, daß zwischen dem schnöden Trödel und dem gvldpapiernen Flitter sich viel mehr Gediegnes und dauernde Wirkung Verheißendes findet als unter den Romanen, daß die Meister der Novelle, die unsre Litteratur vor einem Menschenalter erstehen sah, von Gottfried Keller bis zu H. W. nicht, von Theodor Storni bis zu Heyse, noch immer einen heilsamen Einfluß übe», sodaß wenigstens nicht das ganze Ge¬ biet der Novelle der mcmieristischen Laune und der rohen Verwilderung ver¬ füllt, die augenblicklich in höchster Geltung stehen. Der Zufall waltet hier bald mehr bald minder günstig, für diesmal hat er eine Anzahl guter, selb¬ ständiger Leistungen neben sehr fragwürdige gestellt. Gedenken wir zunächst der fragwürdigen und gehen dann Schritt für Schritt zum bessern und er¬ quicklichern. Um der Gerechtigkeit willen sei noch vorausgeschickt, daß die Novellistik, die uns nicht gefallen will, und der wir kaum die flüchtigste Teilnahme ab¬ gewinnen können, noch lange nicht die schlechteste ist. Wo aber die Pfuscherei und die unfähige Trivialität so beschaffen sind, daß sich auch der unbefangenste Leser über sie nicht täuschen kann, hört bekanntlich die Pflicht der Kritik auf, und sie hebt erst wieder an, wo sich das Nichtige sür etwas Bedeutendes giebt, oder wo das Widrige und Krankhafte mit dem Schein der Anmut und Ge¬ sundheit übertüncht wird. Beides ist in einer ganzen Reihe neuerer Novellensammlungen leider der Fall. Dieser Gruppe gehören Scitanska und andre Novellen von Karl Wilhelm Geißler (Magdeburg, Albert Rathke) an, eine Sammlung, in der sich die Geister der alten Theaterromantik und des modernsten Naturalismus ein unerquickliches Stelldichein geben. Zwar in der Erfindung und den Cha¬ rakterzeichnungen der beiden Hauptgeschichtcn „Satanska" und „Nur ein Kind" steckt wenig naturalistisches; in der ersten handelt sichs um den vielgebrauchten Gegensatz zwischen der Neigung zu einem häuslichen Mädchen und der Leiden¬ schaft für eine Theaterprinzessin, in der zweiten um die alte Geschichte, daß ein ungestümes halbes Kind einem jungeu Studenten die Glut der Liebe und höchsten Lebenshoffnung im Herzen entfacht, als sie herangereift ist, dem jungen Juristen einen hübschen Leutnant vorzieht und den braven Heinz für sein ganzes Leben einsam läßt. Aber innerhalb der ersten spielt die neueste Philosophie oder vielmehr Physiologie der Liebe ihre Rolle. „Gesetzt den Fall, daß du je durch Weiber Kummer haben solltest, so bitte ich dich, dich des entsetzlich Baraten zu erinnern, was doch schließlich das Wesen der Liebe ausmacht." Von dieser Überzeugung muß auch der Held Valentin erfüllt sein, der erst von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/135>, abgerufen am 22.07.2024.