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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

Grundsatz: 8g,w8 reipudlioas Isx supröMÄ, oder was dasselbe ist: der Zweck
heiligt das Mittel, nicht bloß als Negicrungsgrundsatz, sondern anch als
Moralgesetz aufgestellt, dann muß bald die Ehe befördert, Kindermord und
Prostitution verboten, bald umgekehrt die Ehe erschwert, Kindermord und Pro¬
stitution empfohlen werde". Für die Gesamtheit könnte es bei diesem Grund¬
satz nützlich erscheinen, daß alle schwächlichen, mit Gebrechen behafteten und
krüppelhaften Kinder umgebracht würden, ebenso, daß alle Gefangnen, gleich¬
dick ob sie Verbrecher sind oder bloß dafür gehalten werden, totgeschlagen
würden. Einem Volke ist es manchmal sehr nützlich gewesen, wenn es von
einem unfähigen oder despotischen Regenten befreit wurde, und für den
Erfolg machte es keinen Unterschied, ob das durch einen ordentlichen Gerichts¬
hof, oder durch einen Volksaufstand, oder durch einen Meuchelmörder geschah;
von diesem Gesichtspunkte aus sind die historischen Meuchelmorde nicht des¬
wegen zu beklagen, weil sie Meuchelmorde waren, sondern weil sie meistens
den Unrechten getroffen haben. Übrigens verherrlicht die Bibel zwei politische
Meuchelmörderinnen, die Jack (Richter 4) und die Judith. Der oben erwähnte
Mann hat, indem er sechs Eier stahl, möglicherweise sehr sozial gehandelt,
wenn sie nämlich zur Kräftigung einer braven schwachen Frau oder eines Söhn¬
leins verwendet wurden, das ein tüchtiger Mann werden kann; die italienischen
Minister dagegen, die das Land ausplündern und das Volk immer tiefer ins
Elend hinein stoßen und treten, handeln so unsozial wie möglich: sie sind in
mehr als einem Sinne Verbrecher. Man sieht also, wie Elise;e Reclus unter
den heutigen Verhältnissen Anarchist nicht allein werden konnte, sondern mußte,
und man könnte sagen, daß die übrigen Männer der Wissenschaft inkonsequent
seien, wenn sie es nicht werden. In Italien sind mehrere vorläufig wenig¬
stens Sozialisten geworden, u. a. der Kriminalist Ferri, eine sehr bedeutende
Autorität in der Kriminalanthropvlogie; Ellis führt ihn öfter an. Die
Juristenfatnltüt der Universität Pisa ist gezwungen worden, ihn auszuschließen,
und wenn er noch mehr Briefe schreibt wie den an den Secolo, worin er seine
Ausschließung "ein Beispiel des feigsten Servilismus" nennt, so wird er,
gleich andern edeln Männern Italiens, demnächst selbst ein Objekt jener Ge-
sängnisstndien werden, die er bisher mit seinen Studenten so eifrig betrieben hat.

Die herkömmlichen Begriffe "Verbrecher" und "Verbrechen" lassen sich eben
nur dann festhalten, wenn man einen von den Wandlungen der Natur und
Sozialwissenschaften unabhängigen unwandelbaren Begriff der Moral hat. Wie
wenig aber selbst bei einem historisch wandelbaren Begriffe der Moral die
Unterscheidung: sozial oder antisozial genügt, lehrt schon ein Blick auf solche
Personen, wie die katholischen Einsiedler oder manche Gelehrte, die allein der
Wissenschaft leben, ohne etwas zu veröffentlichen, oder die gleich einem Timon
von Athen die Menschen fliehen; sie sind gewiß nicht bloß un-, sondern null-
"vzial, aber sie als Verbrecher zu behandeln, ist doch noch niemandem eingefallen.


Natur und Behandlung des Verbrechers

Grundsatz: 8g,w8 reipudlioas Isx supröMÄ, oder was dasselbe ist: der Zweck
heiligt das Mittel, nicht bloß als Negicrungsgrundsatz, sondern anch als
Moralgesetz aufgestellt, dann muß bald die Ehe befördert, Kindermord und
Prostitution verboten, bald umgekehrt die Ehe erschwert, Kindermord und Pro¬
stitution empfohlen werde». Für die Gesamtheit könnte es bei diesem Grund¬
satz nützlich erscheinen, daß alle schwächlichen, mit Gebrechen behafteten und
krüppelhaften Kinder umgebracht würden, ebenso, daß alle Gefangnen, gleich¬
dick ob sie Verbrecher sind oder bloß dafür gehalten werden, totgeschlagen
würden. Einem Volke ist es manchmal sehr nützlich gewesen, wenn es von
einem unfähigen oder despotischen Regenten befreit wurde, und für den
Erfolg machte es keinen Unterschied, ob das durch einen ordentlichen Gerichts¬
hof, oder durch einen Volksaufstand, oder durch einen Meuchelmörder geschah;
von diesem Gesichtspunkte aus sind die historischen Meuchelmorde nicht des¬
wegen zu beklagen, weil sie Meuchelmorde waren, sondern weil sie meistens
den Unrechten getroffen haben. Übrigens verherrlicht die Bibel zwei politische
Meuchelmörderinnen, die Jack (Richter 4) und die Judith. Der oben erwähnte
Mann hat, indem er sechs Eier stahl, möglicherweise sehr sozial gehandelt,
wenn sie nämlich zur Kräftigung einer braven schwachen Frau oder eines Söhn¬
leins verwendet wurden, das ein tüchtiger Mann werden kann; die italienischen
Minister dagegen, die das Land ausplündern und das Volk immer tiefer ins
Elend hinein stoßen und treten, handeln so unsozial wie möglich: sie sind in
mehr als einem Sinne Verbrecher. Man sieht also, wie Elise;e Reclus unter
den heutigen Verhältnissen Anarchist nicht allein werden konnte, sondern mußte,
und man könnte sagen, daß die übrigen Männer der Wissenschaft inkonsequent
seien, wenn sie es nicht werden. In Italien sind mehrere vorläufig wenig¬
stens Sozialisten geworden, u. a. der Kriminalist Ferri, eine sehr bedeutende
Autorität in der Kriminalanthropvlogie; Ellis führt ihn öfter an. Die
Juristenfatnltüt der Universität Pisa ist gezwungen worden, ihn auszuschließen,
und wenn er noch mehr Briefe schreibt wie den an den Secolo, worin er seine
Ausschließung „ein Beispiel des feigsten Servilismus" nennt, so wird er,
gleich andern edeln Männern Italiens, demnächst selbst ein Objekt jener Ge-
sängnisstndien werden, die er bisher mit seinen Studenten so eifrig betrieben hat.

Die herkömmlichen Begriffe „Verbrecher" und „Verbrechen" lassen sich eben
nur dann festhalten, wenn man einen von den Wandlungen der Natur und
Sozialwissenschaften unabhängigen unwandelbaren Begriff der Moral hat. Wie
wenig aber selbst bei einem historisch wandelbaren Begriffe der Moral die
Unterscheidung: sozial oder antisozial genügt, lehrt schon ein Blick auf solche
Personen, wie die katholischen Einsiedler oder manche Gelehrte, die allein der
Wissenschaft leben, ohne etwas zu veröffentlichen, oder die gleich einem Timon
von Athen die Menschen fliehen; sie sind gewiß nicht bloß un-, sondern null-
«vzial, aber sie als Verbrecher zu behandeln, ist doch noch niemandem eingefallen.


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[0125] Natur und Behandlung des Verbrechers Grundsatz: 8g,w8 reipudlioas Isx supröMÄ, oder was dasselbe ist: der Zweck heiligt das Mittel, nicht bloß als Negicrungsgrundsatz, sondern anch als Moralgesetz aufgestellt, dann muß bald die Ehe befördert, Kindermord und Prostitution verboten, bald umgekehrt die Ehe erschwert, Kindermord und Pro¬ stitution empfohlen werde». Für die Gesamtheit könnte es bei diesem Grund¬ satz nützlich erscheinen, daß alle schwächlichen, mit Gebrechen behafteten und krüppelhaften Kinder umgebracht würden, ebenso, daß alle Gefangnen, gleich¬ dick ob sie Verbrecher sind oder bloß dafür gehalten werden, totgeschlagen würden. Einem Volke ist es manchmal sehr nützlich gewesen, wenn es von einem unfähigen oder despotischen Regenten befreit wurde, und für den Erfolg machte es keinen Unterschied, ob das durch einen ordentlichen Gerichts¬ hof, oder durch einen Volksaufstand, oder durch einen Meuchelmörder geschah; von diesem Gesichtspunkte aus sind die historischen Meuchelmorde nicht des¬ wegen zu beklagen, weil sie Meuchelmorde waren, sondern weil sie meistens den Unrechten getroffen haben. Übrigens verherrlicht die Bibel zwei politische Meuchelmörderinnen, die Jack (Richter 4) und die Judith. Der oben erwähnte Mann hat, indem er sechs Eier stahl, möglicherweise sehr sozial gehandelt, wenn sie nämlich zur Kräftigung einer braven schwachen Frau oder eines Söhn¬ leins verwendet wurden, das ein tüchtiger Mann werden kann; die italienischen Minister dagegen, die das Land ausplündern und das Volk immer tiefer ins Elend hinein stoßen und treten, handeln so unsozial wie möglich: sie sind in mehr als einem Sinne Verbrecher. Man sieht also, wie Elise;e Reclus unter den heutigen Verhältnissen Anarchist nicht allein werden konnte, sondern mußte, und man könnte sagen, daß die übrigen Männer der Wissenschaft inkonsequent seien, wenn sie es nicht werden. In Italien sind mehrere vorläufig wenig¬ stens Sozialisten geworden, u. a. der Kriminalist Ferri, eine sehr bedeutende Autorität in der Kriminalanthropvlogie; Ellis führt ihn öfter an. Die Juristenfatnltüt der Universität Pisa ist gezwungen worden, ihn auszuschließen, und wenn er noch mehr Briefe schreibt wie den an den Secolo, worin er seine Ausschließung „ein Beispiel des feigsten Servilismus" nennt, so wird er, gleich andern edeln Männern Italiens, demnächst selbst ein Objekt jener Ge- sängnisstndien werden, die er bisher mit seinen Studenten so eifrig betrieben hat. Die herkömmlichen Begriffe „Verbrecher" und „Verbrechen" lassen sich eben nur dann festhalten, wenn man einen von den Wandlungen der Natur und Sozialwissenschaften unabhängigen unwandelbaren Begriff der Moral hat. Wie wenig aber selbst bei einem historisch wandelbaren Begriffe der Moral die Unterscheidung: sozial oder antisozial genügt, lehrt schon ein Blick auf solche Personen, wie die katholischen Einsiedler oder manche Gelehrte, die allein der Wissenschaft leben, ohne etwas zu veröffentlichen, oder die gleich einem Timon von Athen die Menschen fliehen; sie sind gewiß nicht bloß un-, sondern null- «vzial, aber sie als Verbrecher zu behandeln, ist doch noch niemandem eingefallen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/125>, abgerufen am 25.08.2024.