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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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stürzte und starb. Und der, der es erschuf, wird es auch aufnehmen, da seine
Lebenszeit um ist. Wird das kleine Rotkehlchen in dem Hause, wo es viele
Wohnungen giebt, nicht auch ein Plätzchen sür seine müden Flügel finden?
Ist der Himmel allein für die Menschen gemacht? Haben diese kleinen Wesen,
die Gott niemals erzürnen, sondern ihn immer in der Reinheit und Glück¬
seligkeit ihrer kleinen Herzen preisen, kein Anrecht auf die Freuden des Jenseits?
Sicherlich, wer wollte daran zweifeln!"

Durchaus dem, was man im Voraus vermutet, entspricht es, daß in
Spanien, wo das Weib noch ganz häuslich lebt, die Zahl der Verbrecherinnen
nur einen kleinen (den zwölften) Teil der Zahl der Verbrecher beträgt, wäh¬
rend in England und in den russischen Ostseeprovinzen, wo die Frauen mit
den Männern den Kampf ums Dasein teilen lind grobe Männerarbeit ver¬
richten, ihre Kriminalität viel höher ist, in England ein Viertel der männ¬
lichen. Ellis nennt das ein unerfreuliches Nebenprodukt des Fortschritts, das
durch weitern Fortschritt überwunden werden müsse. Die Gesellschaft habe
nicht auf Zurückdrängung der weiblichen Energie hinzuarbeiten, sondern auf
Besserung der Lebensbedingungen. Vorläufig wird wohl nichts übrig bleiben,
als so zu handeln; nur darf nicht übersehen werden, daß diese Art von Fort¬
schritt in den sozialistischen Zukunftsstaat hineinführt. Übrigens hat das weib¬
liche Geschlecht seine geringere Kriminalität zum Teil der Prostitution zu
danken. "Wenn diese nicht ablenkend wirkte, so würde sür die große Zahl
von Weibern, die beständig sozial unmöglich werden, keine andre Alternative
als die Verbrecherkarriere übrig bleiben."

Das Endergebnis einer Untersuchung, die mit der Beschreibung eines an¬
geblichen Verbrecherthpus begann, ist das Bekenntnis, daß sich nicht einmal
der Begriff des Verbrechens bestimmen lasse. Der gute oder normale Mensch
soll der soziale, der Verbrecher der antisoziale sein, und der Fortschritt der
Menschheit soll darin bestehen, daß sie immer sozialer wird, sodaß die Krimi¬
nalität eigentlich das ursprünglich allgemeine wäre; so faßt nicht bloß Ellis,
sondern ziemlich die gesamte moderne Wissenschaft die Sache auf. Nun heißt
es aber in unserm Buche Seite 223 ganz richtig: "Die Behauptung, daß unter
den Wilden die Kriminalität die Regel, nicht die Ausnahme bilde, ist nur
dazu angethan, unsre Begriffe zu verwirren. Unter vielen Völkern einer niedern
Kulturstufe sind Kindesmord, Elternmord, Diebstahl u> f. w. durchaus keine
antisozialen Handlungen, sie dienen vielmehr sozialen Zwecken und können daher
kein soziales Gefühl verletzen; viele neuere Forschungen, wie die von Elie
N6eins (soll wohl heißen Elisve Reclus) haben ergeben, daß diese Handlungen
unter gewissen Bedingungen ganz rationell sein können, wenn sie auch unter
unsern Verhältnissen nicht mehr sozial förderlich, fondern kriminell sind."
Ganz richtig! Je nach den Umständen ist die Volksvermehrung bald nützlich
bald schädlich; wird daher die Moralität am Gesamtnutzen gemessen und der


stürzte und starb. Und der, der es erschuf, wird es auch aufnehmen, da seine
Lebenszeit um ist. Wird das kleine Rotkehlchen in dem Hause, wo es viele
Wohnungen giebt, nicht auch ein Plätzchen sür seine müden Flügel finden?
Ist der Himmel allein für die Menschen gemacht? Haben diese kleinen Wesen,
die Gott niemals erzürnen, sondern ihn immer in der Reinheit und Glück¬
seligkeit ihrer kleinen Herzen preisen, kein Anrecht auf die Freuden des Jenseits?
Sicherlich, wer wollte daran zweifeln!"

Durchaus dem, was man im Voraus vermutet, entspricht es, daß in
Spanien, wo das Weib noch ganz häuslich lebt, die Zahl der Verbrecherinnen
nur einen kleinen (den zwölften) Teil der Zahl der Verbrecher beträgt, wäh¬
rend in England und in den russischen Ostseeprovinzen, wo die Frauen mit
den Männern den Kampf ums Dasein teilen lind grobe Männerarbeit ver¬
richten, ihre Kriminalität viel höher ist, in England ein Viertel der männ¬
lichen. Ellis nennt das ein unerfreuliches Nebenprodukt des Fortschritts, das
durch weitern Fortschritt überwunden werden müsse. Die Gesellschaft habe
nicht auf Zurückdrängung der weiblichen Energie hinzuarbeiten, sondern auf
Besserung der Lebensbedingungen. Vorläufig wird wohl nichts übrig bleiben,
als so zu handeln; nur darf nicht übersehen werden, daß diese Art von Fort¬
schritt in den sozialistischen Zukunftsstaat hineinführt. Übrigens hat das weib¬
liche Geschlecht seine geringere Kriminalität zum Teil der Prostitution zu
danken. „Wenn diese nicht ablenkend wirkte, so würde sür die große Zahl
von Weibern, die beständig sozial unmöglich werden, keine andre Alternative
als die Verbrecherkarriere übrig bleiben."

Das Endergebnis einer Untersuchung, die mit der Beschreibung eines an¬
geblichen Verbrecherthpus begann, ist das Bekenntnis, daß sich nicht einmal
der Begriff des Verbrechens bestimmen lasse. Der gute oder normale Mensch
soll der soziale, der Verbrecher der antisoziale sein, und der Fortschritt der
Menschheit soll darin bestehen, daß sie immer sozialer wird, sodaß die Krimi¬
nalität eigentlich das ursprünglich allgemeine wäre; so faßt nicht bloß Ellis,
sondern ziemlich die gesamte moderne Wissenschaft die Sache auf. Nun heißt
es aber in unserm Buche Seite 223 ganz richtig: „Die Behauptung, daß unter
den Wilden die Kriminalität die Regel, nicht die Ausnahme bilde, ist nur
dazu angethan, unsre Begriffe zu verwirren. Unter vielen Völkern einer niedern
Kulturstufe sind Kindesmord, Elternmord, Diebstahl u> f. w. durchaus keine
antisozialen Handlungen, sie dienen vielmehr sozialen Zwecken und können daher
kein soziales Gefühl verletzen; viele neuere Forschungen, wie die von Elie
N6eins (soll wohl heißen Elisve Reclus) haben ergeben, daß diese Handlungen
unter gewissen Bedingungen ganz rationell sein können, wenn sie auch unter
unsern Verhältnissen nicht mehr sozial förderlich, fondern kriminell sind."
Ganz richtig! Je nach den Umständen ist die Volksvermehrung bald nützlich
bald schädlich; wird daher die Moralität am Gesamtnutzen gemessen und der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/124>, abgerufen am 23.07.2024.