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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

Die Definition, die Ellis giebt: "Der Verbrecher ist ein Mensch, der sich
in seiner Lebensführung nicht auf dein Niveau erhält, das die Gemeinschaft,
in der er lebt, von ihren Mitgliedern verlangt," kann man gelten lassen mit
der kleinen Änderung: "Als Verbrecher wird behandelt, wer sich u. s. w."
Ferner sind noch zwei Erklärungen beizufügen. Sich "auf dem Niveau halten"
bedeutet oft nichts weiter, als sich den jeweiligen Strafgesetzen anbequemen,
oder noch genauer, sich in einer Lage befinden, wo man sich ihnen anbequemen
kann. Ein Jay Gould, der hundert Millionen Dollars ergaunert, thut nichts
andres, als was der kleine Gauner thut, der ins Zuchthaus kommt; er thut
es nur im größten Maßstabe und in einer unangreifbaren Stellung. Hätte er
sich diese Stellung nicht erobert, so würde er als kleiner Gauner im Zucht¬
hause sterben; gelingt es dem Gauner, sich in eine unangreifbare Stellung
emporzuschwingen, so kann er ein "maßgebender Faktor" der Gesetzgebung
werden. Nicht also das sittliche Niveau giebt den Ausschlag, sondern das
Niveau der Sitte und des Strafrechts. Und dieses Niveau ist in spätern Zeiten
bei technisch fortgeschrittenern Völkern nicht notwendig höher als in frühern
Zeiten und bei ungeschulter" Völkern. Wir vermögen es in keinem Sinne als
ein höheres Niveau anzuerkennen, wenn die Frauen des gemeinen Volks in
den nordischen Ländern Steine karren, auf Baugerüsten herumklettern und den
Schmiedehammer schwingen müssen, während sie in Spanien noch -- wie lange
wohl noch? -- im Hause walten und des Abends die Männer durch Tanz
ergötzen. Wir vermöge,: den ganzen gegenwärtigen politischen Zustand Europas
schon deswegen nicht als sittlich anzuerkennen, weil mehr als in frühern Zeiten
die Lüge ein unentbehrlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden ist,
so unentbehrlich, daß sie von den Allermaßgebendsten sogar zu deu Grundlagen
des Staats gerechnet wird; oder kann es etwas andres bedeuten, wenn die
politische Heuchelei erzwungen werden soll, und das Sträuben gegen solchen
Zwang als Majestätsbeleidigung bestraft wird? Ellis gesteht denn auch selbst
an verschiednen Stellen, daß das gegenwärtige "Niveau" der Gesellschaft von
dem denkbar höchsten sehr weit entfernt sei.

Unsre eigne Ansicht von der Sache ist in kurzem folgende. Die Sitt¬
lichkeit erwächst aus den unveränderlichen und nicht weiter erklärbaren sitt¬
lichen Trieben, deren vornehmste das Wohlwollen, der Gerechtigkeitssinn und
der Thütigkeitstrieb sind. Mit Bewußtsein gegen diese Triebe handeln ist
Sünde, und dabei einen oder mehrere Menschen empfindlich schädigen ist Ver¬
brechen, auch dann, wenn die Schädigung des Nebenmenschen einen Nutzen für
eine Gesamtheit: Familie, Gemeinde, Volk, Staat, Kirche zur Folge hat, ja
selbst dann, wenn die That bloß in der "edeln" Absicht, diesen Nutzen zu er¬
zielen, begangen wird. Je nach dem Stärkegrade seiner sittlichen Triebe ist
der Mensch mehr oder weniger moralisch. Wie es nun unglückliche Geschöpfe
giebt, die ohne Arme oder ohne Beine oder mit fehlerhaften und kranken Glied-


Natur und Behandlung des Verbrechers

Die Definition, die Ellis giebt: „Der Verbrecher ist ein Mensch, der sich
in seiner Lebensführung nicht auf dein Niveau erhält, das die Gemeinschaft,
in der er lebt, von ihren Mitgliedern verlangt," kann man gelten lassen mit
der kleinen Änderung: „Als Verbrecher wird behandelt, wer sich u. s. w."
Ferner sind noch zwei Erklärungen beizufügen. Sich „auf dem Niveau halten"
bedeutet oft nichts weiter, als sich den jeweiligen Strafgesetzen anbequemen,
oder noch genauer, sich in einer Lage befinden, wo man sich ihnen anbequemen
kann. Ein Jay Gould, der hundert Millionen Dollars ergaunert, thut nichts
andres, als was der kleine Gauner thut, der ins Zuchthaus kommt; er thut
es nur im größten Maßstabe und in einer unangreifbaren Stellung. Hätte er
sich diese Stellung nicht erobert, so würde er als kleiner Gauner im Zucht¬
hause sterben; gelingt es dem Gauner, sich in eine unangreifbare Stellung
emporzuschwingen, so kann er ein „maßgebender Faktor" der Gesetzgebung
werden. Nicht also das sittliche Niveau giebt den Ausschlag, sondern das
Niveau der Sitte und des Strafrechts. Und dieses Niveau ist in spätern Zeiten
bei technisch fortgeschrittenern Völkern nicht notwendig höher als in frühern
Zeiten und bei ungeschulter» Völkern. Wir vermögen es in keinem Sinne als
ein höheres Niveau anzuerkennen, wenn die Frauen des gemeinen Volks in
den nordischen Ländern Steine karren, auf Baugerüsten herumklettern und den
Schmiedehammer schwingen müssen, während sie in Spanien noch — wie lange
wohl noch? — im Hause walten und des Abends die Männer durch Tanz
ergötzen. Wir vermöge,: den ganzen gegenwärtigen politischen Zustand Europas
schon deswegen nicht als sittlich anzuerkennen, weil mehr als in frühern Zeiten
die Lüge ein unentbehrlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden ist,
so unentbehrlich, daß sie von den Allermaßgebendsten sogar zu deu Grundlagen
des Staats gerechnet wird; oder kann es etwas andres bedeuten, wenn die
politische Heuchelei erzwungen werden soll, und das Sträuben gegen solchen
Zwang als Majestätsbeleidigung bestraft wird? Ellis gesteht denn auch selbst
an verschiednen Stellen, daß das gegenwärtige „Niveau" der Gesellschaft von
dem denkbar höchsten sehr weit entfernt sei.

Unsre eigne Ansicht von der Sache ist in kurzem folgende. Die Sitt¬
lichkeit erwächst aus den unveränderlichen und nicht weiter erklärbaren sitt¬
lichen Trieben, deren vornehmste das Wohlwollen, der Gerechtigkeitssinn und
der Thütigkeitstrieb sind. Mit Bewußtsein gegen diese Triebe handeln ist
Sünde, und dabei einen oder mehrere Menschen empfindlich schädigen ist Ver¬
brechen, auch dann, wenn die Schädigung des Nebenmenschen einen Nutzen für
eine Gesamtheit: Familie, Gemeinde, Volk, Staat, Kirche zur Folge hat, ja
selbst dann, wenn die That bloß in der „edeln" Absicht, diesen Nutzen zu er¬
zielen, begangen wird. Je nach dem Stärkegrade seiner sittlichen Triebe ist
der Mensch mehr oder weniger moralisch. Wie es nun unglückliche Geschöpfe
giebt, die ohne Arme oder ohne Beine oder mit fehlerhaften und kranken Glied-


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[0126] Natur und Behandlung des Verbrechers Die Definition, die Ellis giebt: „Der Verbrecher ist ein Mensch, der sich in seiner Lebensführung nicht auf dein Niveau erhält, das die Gemeinschaft, in der er lebt, von ihren Mitgliedern verlangt," kann man gelten lassen mit der kleinen Änderung: „Als Verbrecher wird behandelt, wer sich u. s. w." Ferner sind noch zwei Erklärungen beizufügen. Sich „auf dem Niveau halten" bedeutet oft nichts weiter, als sich den jeweiligen Strafgesetzen anbequemen, oder noch genauer, sich in einer Lage befinden, wo man sich ihnen anbequemen kann. Ein Jay Gould, der hundert Millionen Dollars ergaunert, thut nichts andres, als was der kleine Gauner thut, der ins Zuchthaus kommt; er thut es nur im größten Maßstabe und in einer unangreifbaren Stellung. Hätte er sich diese Stellung nicht erobert, so würde er als kleiner Gauner im Zucht¬ hause sterben; gelingt es dem Gauner, sich in eine unangreifbare Stellung emporzuschwingen, so kann er ein „maßgebender Faktor" der Gesetzgebung werden. Nicht also das sittliche Niveau giebt den Ausschlag, sondern das Niveau der Sitte und des Strafrechts. Und dieses Niveau ist in spätern Zeiten bei technisch fortgeschrittenern Völkern nicht notwendig höher als in frühern Zeiten und bei ungeschulter» Völkern. Wir vermögen es in keinem Sinne als ein höheres Niveau anzuerkennen, wenn die Frauen des gemeinen Volks in den nordischen Ländern Steine karren, auf Baugerüsten herumklettern und den Schmiedehammer schwingen müssen, während sie in Spanien noch — wie lange wohl noch? — im Hause walten und des Abends die Männer durch Tanz ergötzen. Wir vermöge,: den ganzen gegenwärtigen politischen Zustand Europas schon deswegen nicht als sittlich anzuerkennen, weil mehr als in frühern Zeiten die Lüge ein unentbehrlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden ist, so unentbehrlich, daß sie von den Allermaßgebendsten sogar zu deu Grundlagen des Staats gerechnet wird; oder kann es etwas andres bedeuten, wenn die politische Heuchelei erzwungen werden soll, und das Sträuben gegen solchen Zwang als Majestätsbeleidigung bestraft wird? Ellis gesteht denn auch selbst an verschiednen Stellen, daß das gegenwärtige „Niveau" der Gesellschaft von dem denkbar höchsten sehr weit entfernt sei. Unsre eigne Ansicht von der Sache ist in kurzem folgende. Die Sitt¬ lichkeit erwächst aus den unveränderlichen und nicht weiter erklärbaren sitt¬ lichen Trieben, deren vornehmste das Wohlwollen, der Gerechtigkeitssinn und der Thütigkeitstrieb sind. Mit Bewußtsein gegen diese Triebe handeln ist Sünde, und dabei einen oder mehrere Menschen empfindlich schädigen ist Ver¬ brechen, auch dann, wenn die Schädigung des Nebenmenschen einen Nutzen für eine Gesamtheit: Familie, Gemeinde, Volk, Staat, Kirche zur Folge hat, ja selbst dann, wenn die That bloß in der „edeln" Absicht, diesen Nutzen zu er¬ zielen, begangen wird. Je nach dem Stärkegrade seiner sittlichen Triebe ist der Mensch mehr oder weniger moralisch. Wie es nun unglückliche Geschöpfe giebt, die ohne Arme oder ohne Beine oder mit fehlerhaften und kranken Glied-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/126>, abgerufen am 23.07.2024.