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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?

die eintönige Arbeit in den Fabriken gefesselt sind, und meint, das sei kein
menschenwürdiges Dasein. Man vergißt aber, daß sich die Bevölkerung Deutsch¬
lands innerhalb der letzten siebzig Jahre verdoppelt hat. Wenn sich das deutsche
Volk den Luxus erlaubt, so viele Kinder zu erzeugen, daß alljährlich eine
halbe Million Menschen mehr vorhanden ist, so müssen diese doch auch ernährt
werden. Der Boden unsers Landes, der die natürliche Grundlage dieser Er¬
nährung abgiebt, reicht dazu nicht mehr aus. Da ist es denn das größte
Glück, daß unsre gesteigerte Industrie, die eiuen großen Teil ihrer Erzeugnisse
an das Ausland absetzt, der vergrößerten Volkszahl die Mittel zur Existenz
verschafft. Lebten nicht viele Menschen von der Arbeit in den Fabriken, so
Würden sie eben gar nicht leben, sie müßten verhungern.

Was ist nun eigentlich gegen früher in der Art anders geworden, daß
man heute so oft von der wirtschaftlichen "Not" reden hört, und daß man sich
veranlaßt gesehen hat, die "soziale Frage" zu stellen? In den Verhältnissen
der unbemittelten Klasse und des Mittelstandes liegt es nicht. Beide sind im
Vergleich mit früher keinesfalls schlechter gestellt. Wohl aber ist eine Änderung
darin eingetreten, daß es heute weit mehr als früher Reiche giebt, die sich aus
dem Mittelstand emporgehoben haben und zu einem Reichtum gelangt sind,
der das. was früher dafür galt, weit Hintersich läßt. Dieser Reichtum bildet,
im Hinblick auf die Armut andrer, in den Augen vieler ein Ärgernis, das sie
nicht überwinden können. Mit diesen Gedanken hat die Sozialdemokratie die
Massen ganz erfüllt. Namentlich gönnt man nicht dem Kapital den Anteil,
den es aus der mit seiner Hilfe ungeheuer vermehrten Gütererzeugung bezieht.
Daher die Bekämpfung der "kapitalistischen Produktion." der sich auch viele
Nichtsozialdemokratcn in ihrem Eifer gegen den "Kapitalismus" anschließen.

Kapital ist angesammelter Gewinn aus einer gewinnbringenden Thätigkeit.
Nun giebt es freilich Thätigkeiten, die, obwohl sie wirtschaftlich ohne Wert
sind, doch bedeutenden Gewinn bringen können; so namentlich die Börsen¬
spekulation. Wo auf solche Weise Reichtum erworben wordeu ist. da lau"
man allerdings ein gewisses Ärgernis daran nehmen. Sehr viele Vermögen
werden aber ans Grund einer wirtschaftlich nützlichen Thätigkeit durch Geschick,
Fleiß und Sparsamkeit erworben -- wenn auch vielleicht unter Hinzutritt von
Glücksumstcinden, die ja überall im menschlichen Leben eine Rolle spielen --,
und es ist unrecht, wenn man den Erwerberu diesen Gewinn nicht gönnt. Auch
ist die Ansammlung von Kapital in den Händen einzelner nicht ein nationales
Unglück, sondern nur ein Glück. Denn sie bildet die notwendige Voraussetzung
jedes Fortschritts.

Aller Fortschritt in dem Leben der menschlichen Gesellschaft wird nicht
von den Massen herbeigeführt, sondern er geht von einzelnen aus. Auf ge¬
werblichen Gebiete sind es die Erfinder und die Unternehmer, die den Fort¬
schritt schaffen. Sie bedürfen dazu aber noch eines weitern im Bunde, des


Grenzboten I 1895 14
Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?

die eintönige Arbeit in den Fabriken gefesselt sind, und meint, das sei kein
menschenwürdiges Dasein. Man vergißt aber, daß sich die Bevölkerung Deutsch¬
lands innerhalb der letzten siebzig Jahre verdoppelt hat. Wenn sich das deutsche
Volk den Luxus erlaubt, so viele Kinder zu erzeugen, daß alljährlich eine
halbe Million Menschen mehr vorhanden ist, so müssen diese doch auch ernährt
werden. Der Boden unsers Landes, der die natürliche Grundlage dieser Er¬
nährung abgiebt, reicht dazu nicht mehr aus. Da ist es denn das größte
Glück, daß unsre gesteigerte Industrie, die eiuen großen Teil ihrer Erzeugnisse
an das Ausland absetzt, der vergrößerten Volkszahl die Mittel zur Existenz
verschafft. Lebten nicht viele Menschen von der Arbeit in den Fabriken, so
Würden sie eben gar nicht leben, sie müßten verhungern.

Was ist nun eigentlich gegen früher in der Art anders geworden, daß
man heute so oft von der wirtschaftlichen „Not" reden hört, und daß man sich
veranlaßt gesehen hat, die „soziale Frage" zu stellen? In den Verhältnissen
der unbemittelten Klasse und des Mittelstandes liegt es nicht. Beide sind im
Vergleich mit früher keinesfalls schlechter gestellt. Wohl aber ist eine Änderung
darin eingetreten, daß es heute weit mehr als früher Reiche giebt, die sich aus
dem Mittelstand emporgehoben haben und zu einem Reichtum gelangt sind,
der das. was früher dafür galt, weit Hintersich läßt. Dieser Reichtum bildet,
im Hinblick auf die Armut andrer, in den Augen vieler ein Ärgernis, das sie
nicht überwinden können. Mit diesen Gedanken hat die Sozialdemokratie die
Massen ganz erfüllt. Namentlich gönnt man nicht dem Kapital den Anteil,
den es aus der mit seiner Hilfe ungeheuer vermehrten Gütererzeugung bezieht.
Daher die Bekämpfung der „kapitalistischen Produktion." der sich auch viele
Nichtsozialdemokratcn in ihrem Eifer gegen den „Kapitalismus" anschließen.

Kapital ist angesammelter Gewinn aus einer gewinnbringenden Thätigkeit.
Nun giebt es freilich Thätigkeiten, die, obwohl sie wirtschaftlich ohne Wert
sind, doch bedeutenden Gewinn bringen können; so namentlich die Börsen¬
spekulation. Wo auf solche Weise Reichtum erworben wordeu ist. da lau»
man allerdings ein gewisses Ärgernis daran nehmen. Sehr viele Vermögen
werden aber ans Grund einer wirtschaftlich nützlichen Thätigkeit durch Geschick,
Fleiß und Sparsamkeit erworben — wenn auch vielleicht unter Hinzutritt von
Glücksumstcinden, die ja überall im menschlichen Leben eine Rolle spielen —,
und es ist unrecht, wenn man den Erwerberu diesen Gewinn nicht gönnt. Auch
ist die Ansammlung von Kapital in den Händen einzelner nicht ein nationales
Unglück, sondern nur ein Glück. Denn sie bildet die notwendige Voraussetzung
jedes Fortschritts.

Aller Fortschritt in dem Leben der menschlichen Gesellschaft wird nicht
von den Massen herbeigeführt, sondern er geht von einzelnen aus. Auf ge¬
werblichen Gebiete sind es die Erfinder und die Unternehmer, die den Fort¬
schritt schaffen. Sie bedürfen dazu aber noch eines weitern im Bunde, des


Grenzboten I 1895 14
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[0113] Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen? die eintönige Arbeit in den Fabriken gefesselt sind, und meint, das sei kein menschenwürdiges Dasein. Man vergißt aber, daß sich die Bevölkerung Deutsch¬ lands innerhalb der letzten siebzig Jahre verdoppelt hat. Wenn sich das deutsche Volk den Luxus erlaubt, so viele Kinder zu erzeugen, daß alljährlich eine halbe Million Menschen mehr vorhanden ist, so müssen diese doch auch ernährt werden. Der Boden unsers Landes, der die natürliche Grundlage dieser Er¬ nährung abgiebt, reicht dazu nicht mehr aus. Da ist es denn das größte Glück, daß unsre gesteigerte Industrie, die eiuen großen Teil ihrer Erzeugnisse an das Ausland absetzt, der vergrößerten Volkszahl die Mittel zur Existenz verschafft. Lebten nicht viele Menschen von der Arbeit in den Fabriken, so Würden sie eben gar nicht leben, sie müßten verhungern. Was ist nun eigentlich gegen früher in der Art anders geworden, daß man heute so oft von der wirtschaftlichen „Not" reden hört, und daß man sich veranlaßt gesehen hat, die „soziale Frage" zu stellen? In den Verhältnissen der unbemittelten Klasse und des Mittelstandes liegt es nicht. Beide sind im Vergleich mit früher keinesfalls schlechter gestellt. Wohl aber ist eine Änderung darin eingetreten, daß es heute weit mehr als früher Reiche giebt, die sich aus dem Mittelstand emporgehoben haben und zu einem Reichtum gelangt sind, der das. was früher dafür galt, weit Hintersich läßt. Dieser Reichtum bildet, im Hinblick auf die Armut andrer, in den Augen vieler ein Ärgernis, das sie nicht überwinden können. Mit diesen Gedanken hat die Sozialdemokratie die Massen ganz erfüllt. Namentlich gönnt man nicht dem Kapital den Anteil, den es aus der mit seiner Hilfe ungeheuer vermehrten Gütererzeugung bezieht. Daher die Bekämpfung der „kapitalistischen Produktion." der sich auch viele Nichtsozialdemokratcn in ihrem Eifer gegen den „Kapitalismus" anschließen. Kapital ist angesammelter Gewinn aus einer gewinnbringenden Thätigkeit. Nun giebt es freilich Thätigkeiten, die, obwohl sie wirtschaftlich ohne Wert sind, doch bedeutenden Gewinn bringen können; so namentlich die Börsen¬ spekulation. Wo auf solche Weise Reichtum erworben wordeu ist. da lau» man allerdings ein gewisses Ärgernis daran nehmen. Sehr viele Vermögen werden aber ans Grund einer wirtschaftlich nützlichen Thätigkeit durch Geschick, Fleiß und Sparsamkeit erworben — wenn auch vielleicht unter Hinzutritt von Glücksumstcinden, die ja überall im menschlichen Leben eine Rolle spielen —, und es ist unrecht, wenn man den Erwerberu diesen Gewinn nicht gönnt. Auch ist die Ansammlung von Kapital in den Händen einzelner nicht ein nationales Unglück, sondern nur ein Glück. Denn sie bildet die notwendige Voraussetzung jedes Fortschritts. Aller Fortschritt in dem Leben der menschlichen Gesellschaft wird nicht von den Massen herbeigeführt, sondern er geht von einzelnen aus. Auf ge¬ werblichen Gebiete sind es die Erfinder und die Unternehmer, die den Fort¬ schritt schaffen. Sie bedürfen dazu aber noch eines weitern im Bunde, des Grenzboten I 1895 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/113>, abgerufen am 25.08.2024.