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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?

unterste Klasse (mit einem Einkommen von 900 bis 3000 Mark) die breiteste
Schicht, indem sie wieder mehr als sechs Siebentel aller übrigen ausmacht.
Von da an verkleinern sich die Schichten stufenweise, indem jede Schicht, die
einen größern Wohlstand aufweist, um so weniger Zugehörige zählt. In der
Höhe spitzt sich dann die Pyramide scharf zu. Sie schließt mit 27 Personen,
von denen jede mehr als eine Million Einkommen hat. 24 von diesen
(7 in Berlin, 3 in Oppeln, je 2 in Breslau, Magdeburg und Köln, je eine
in Trier, Kassel, Danzig, Wiesbaden, Arnsberg, Münster, Düsseldorf, Aachen)
haben ein Einkommen, das zwischen einer Million und 2410000 Mark liegt.
Drei von ihnen, in den Bezirken Oppeln, Wiesbaden (Frankfurt), Düsseldorf
(Essen) haben ein Einkommen von 4120000, 5840000, 7190 000 Mark.

Ob sich nun im Vergleich mit der Vergangenheit die Zahl der Unbe¬
mittelten im Verhältnis zu der Zahl des Mittelstandes vermehrt habe, dafür
fehlt es an einer sichern Grundlage der Erkenntnis. Aber wenn man auch
annehmen wollte, daß in früherer Zeit der Teil der Bevölkerung, den man
damals als Mittelstand bezeichnen konnte, verhältnismäßig stärker vertreten
gewesen sei als heute, so ist doch unzweifelhaft, daß unsre gesamte Bevölkerung
bis zu den geringsten Klassen herab heute wirtschaftlich weit höher steht als
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Wer die damalige Zeit mit durch¬
lebt hat, kann dies aus unmittelbarer Wahrnehmung bezeugen. Schon aus
der oben angeführten Verschiebung der Gewerbe ergiebt sich, wie sehr alles,
was dem höhern Lebensgenuß dient, zugenommen hat. Auch die ganze Lebens¬
haltung unsers Volkes ist eine andre geworden. Überall begegnen wir Lust¬
barkeiten, Vergnügungen, Festen, die gefeiert werden, und ähnlichem. Das
war früher durchaus uicht so. Es sind auch offenbar nicht bloß die Reichen,
die daran teilnehmen. Wer aber imstande ist, Geld für dergleichen auszugeben,
ist doch nicht auf die bloße Lcbensnotdurft beschränkt. Auch die Klasse der
Unbemittelten ist nicht als eine solche zu denken, die stets in Not wäre. Die
große Mehrzahl der ihr Angehörenden kann bei mäßigen Ansprüchen ein ganz
behagliches Leben führen. Daß sie bei einiger Sparsamkeit sogar erübrigen
können, beweisen die Milliarden, die den Sparkassen zugetragen werden und
zum größten Teile von dieser Klasse der Bevölkerung herrühren. Nun giebt
es freilich auch ganz Arme, die mit der Not zu kämpfen haben. In Kassel
z. B. war am 31. März 1894 ein Bestand von 576 Unterstützungsempfängern
(Familien und Einzelnen), die wöchentlich 1015 Mark Geld, 1569 Kilo Brot
und 586 Speiseportioncn erhielten. Arme hat es aber immer gegeben, solange
die menschliche Gesellschaft besteht. Auch ist es unzweifelhaft, daß zur Lin¬
derung der Not, sowie überhaupt zu Gunsten der geringern Klassen heute weit
mehr geschieht, als jemals zuvor. Man behauptet freilich, bei der gewaltigen
Steigerung der Gütererzeugung müßte es heute gar keine Armen mehr geben.
Man beklagt auch das Schicksal derer, die vom Morgen bis zum Abend an


Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?

unterste Klasse (mit einem Einkommen von 900 bis 3000 Mark) die breiteste
Schicht, indem sie wieder mehr als sechs Siebentel aller übrigen ausmacht.
Von da an verkleinern sich die Schichten stufenweise, indem jede Schicht, die
einen größern Wohlstand aufweist, um so weniger Zugehörige zählt. In der
Höhe spitzt sich dann die Pyramide scharf zu. Sie schließt mit 27 Personen,
von denen jede mehr als eine Million Einkommen hat. 24 von diesen
(7 in Berlin, 3 in Oppeln, je 2 in Breslau, Magdeburg und Köln, je eine
in Trier, Kassel, Danzig, Wiesbaden, Arnsberg, Münster, Düsseldorf, Aachen)
haben ein Einkommen, das zwischen einer Million und 2410000 Mark liegt.
Drei von ihnen, in den Bezirken Oppeln, Wiesbaden (Frankfurt), Düsseldorf
(Essen) haben ein Einkommen von 4120000, 5840000, 7190 000 Mark.

Ob sich nun im Vergleich mit der Vergangenheit die Zahl der Unbe¬
mittelten im Verhältnis zu der Zahl des Mittelstandes vermehrt habe, dafür
fehlt es an einer sichern Grundlage der Erkenntnis. Aber wenn man auch
annehmen wollte, daß in früherer Zeit der Teil der Bevölkerung, den man
damals als Mittelstand bezeichnen konnte, verhältnismäßig stärker vertreten
gewesen sei als heute, so ist doch unzweifelhaft, daß unsre gesamte Bevölkerung
bis zu den geringsten Klassen herab heute wirtschaftlich weit höher steht als
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Wer die damalige Zeit mit durch¬
lebt hat, kann dies aus unmittelbarer Wahrnehmung bezeugen. Schon aus
der oben angeführten Verschiebung der Gewerbe ergiebt sich, wie sehr alles,
was dem höhern Lebensgenuß dient, zugenommen hat. Auch die ganze Lebens¬
haltung unsers Volkes ist eine andre geworden. Überall begegnen wir Lust¬
barkeiten, Vergnügungen, Festen, die gefeiert werden, und ähnlichem. Das
war früher durchaus uicht so. Es sind auch offenbar nicht bloß die Reichen,
die daran teilnehmen. Wer aber imstande ist, Geld für dergleichen auszugeben,
ist doch nicht auf die bloße Lcbensnotdurft beschränkt. Auch die Klasse der
Unbemittelten ist nicht als eine solche zu denken, die stets in Not wäre. Die
große Mehrzahl der ihr Angehörenden kann bei mäßigen Ansprüchen ein ganz
behagliches Leben führen. Daß sie bei einiger Sparsamkeit sogar erübrigen
können, beweisen die Milliarden, die den Sparkassen zugetragen werden und
zum größten Teile von dieser Klasse der Bevölkerung herrühren. Nun giebt
es freilich auch ganz Arme, die mit der Not zu kämpfen haben. In Kassel
z. B. war am 31. März 1894 ein Bestand von 576 Unterstützungsempfängern
(Familien und Einzelnen), die wöchentlich 1015 Mark Geld, 1569 Kilo Brot
und 586 Speiseportioncn erhielten. Arme hat es aber immer gegeben, solange
die menschliche Gesellschaft besteht. Auch ist es unzweifelhaft, daß zur Lin¬
derung der Not, sowie überhaupt zu Gunsten der geringern Klassen heute weit
mehr geschieht, als jemals zuvor. Man behauptet freilich, bei der gewaltigen
Steigerung der Gütererzeugung müßte es heute gar keine Armen mehr geben.
Man beklagt auch das Schicksal derer, die vom Morgen bis zum Abend an


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/112>, abgerufen am 23.07.2024.