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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Wahrlich eine schlimme Geschichte, wenn wir schweigen sollten, weil schon
Propheten und Seher, große und kleine, vor uns gewesen sind, auch gott¬
begnadete, von denen es heißt, daß sie uns aus dem Munde des Höchsten
selbst das Wort vorweg genommen haben. In der That, wenn wir recht be¬
denken, von welcher Großen Lippen uns die Wahrheit gepredigt, das Licht
auf unsre Wege geworfen worden ist, dann sollte unsre Herzen heilige Scheu
erfüllen und uns ewiges Schweigen auferlegen. Denn es ist wahr, sterblicher
Mensch, daß alles schon dagewesen ist vor dir, und daß es eine Vermessenheit
von dir wäre, zu glauben, du konntest es besser sagen. Und doch -- sollte
Julius Hart eine Liebesgeschichte deshalb nicht erzählen dürfen, weil sie un-
zähligemale vor ihm und auch unübertrefflich in der Weise erzählt worden
ist, die der seinigen gleichartig ist? Getrost -- mir, der ich es im Augen¬
blick nicht lassen kann, zu seiner Sache mein Urteil abzugeben, würde es am
wenigsten zukommen, ihm die Berechtigung zum Erzählen abzusprechen. Mit
Recht würde er, wie auch ich es thun könnte, auf die Allgewalt der Natur
hinweisen, die ihn zwingt, das aus sich herauszugeben, was in ihm ist. Denn
die Natur ist nicht bloß außer uns, sondern auch in uns, und wie sie alle
Jahre den Frühling herausführt, der bei seinem letzten Erscheinen nicht schöner
war als bei seinem ersten, so erweckt sie in den Herzen der Menschen immer
von neuem die Lust und den Drang, eine gesehene und erlebte Welt künst¬
lerisch nachzuschasfen und damit in den Gemütern andrer einen Frühling wieder
wachzurufen, der, wenn er auch keineswegs prächtiger ist als jeder voraus-
gegangne, doch deshalb nicht von geringerer Lebenskraft zu sein braucht. Kann
also der Dichter, auch wenn er auf Pfaden wandelt, die tausendmal vorher
betreten worden sind, und auf denen Werke der höchsten Vollendung geschaffen
wurden, doch Dichtungen von unübertrefflicher Wirkung ins Leben rufen, so
ist nicht einzusehen, wie das unter Hinwendung zur Antike nicht stattfinden
könne. Möge hier Platz finden, was früher schon einmal gesagt worden ist,
daß zwar der Anblick der griechischen Muse erstarrend wirken kann, daß es
aber über den, der sich nicht beirren läßt und freien Geistes in ihr eigenstes
Wesen vordringt, wie eine Erlösung kommt, die ihn über allen Zwang hinaus¬
trägt. Denn ihr eigentlichstes Wesen ist die Freiheit, die durch nichts von
außen herantretendes, wohl aber durch das Vernunftgesetz gehalten wird. Aber
dieses Gesetz hat nichts drückendes, einengendes, wie man gerne behaupten
möchte, sondern es ist das mit der Natur übereinstimmende, sich von selbst
ergebende Korrelat der Freiheit und bringt das Maß und die Harmonie in
einen vielstimmigen Chor. Wer möchte nun wohl so thöricht sein, den Weg
durch das Studium der Alten als den einzig richtigen zu bezeichnen? So
gut das Nibelungenlied ohne Berührung mit der alten Welt entstanden ist,
eben so gut kann auch jetzt uoch die vortrefflichste nationale Dichtung geboren
werden, ohne daß der Verfasser auch nur eine Ahnung von irgend welchen


Wahrlich eine schlimme Geschichte, wenn wir schweigen sollten, weil schon
Propheten und Seher, große und kleine, vor uns gewesen sind, auch gott¬
begnadete, von denen es heißt, daß sie uns aus dem Munde des Höchsten
selbst das Wort vorweg genommen haben. In der That, wenn wir recht be¬
denken, von welcher Großen Lippen uns die Wahrheit gepredigt, das Licht
auf unsre Wege geworfen worden ist, dann sollte unsre Herzen heilige Scheu
erfüllen und uns ewiges Schweigen auferlegen. Denn es ist wahr, sterblicher
Mensch, daß alles schon dagewesen ist vor dir, und daß es eine Vermessenheit
von dir wäre, zu glauben, du konntest es besser sagen. Und doch — sollte
Julius Hart eine Liebesgeschichte deshalb nicht erzählen dürfen, weil sie un-
zähligemale vor ihm und auch unübertrefflich in der Weise erzählt worden
ist, die der seinigen gleichartig ist? Getrost — mir, der ich es im Augen¬
blick nicht lassen kann, zu seiner Sache mein Urteil abzugeben, würde es am
wenigsten zukommen, ihm die Berechtigung zum Erzählen abzusprechen. Mit
Recht würde er, wie auch ich es thun könnte, auf die Allgewalt der Natur
hinweisen, die ihn zwingt, das aus sich herauszugeben, was in ihm ist. Denn
die Natur ist nicht bloß außer uns, sondern auch in uns, und wie sie alle
Jahre den Frühling herausführt, der bei seinem letzten Erscheinen nicht schöner
war als bei seinem ersten, so erweckt sie in den Herzen der Menschen immer
von neuem die Lust und den Drang, eine gesehene und erlebte Welt künst¬
lerisch nachzuschasfen und damit in den Gemütern andrer einen Frühling wieder
wachzurufen, der, wenn er auch keineswegs prächtiger ist als jeder voraus-
gegangne, doch deshalb nicht von geringerer Lebenskraft zu sein braucht. Kann
also der Dichter, auch wenn er auf Pfaden wandelt, die tausendmal vorher
betreten worden sind, und auf denen Werke der höchsten Vollendung geschaffen
wurden, doch Dichtungen von unübertrefflicher Wirkung ins Leben rufen, so
ist nicht einzusehen, wie das unter Hinwendung zur Antike nicht stattfinden
könne. Möge hier Platz finden, was früher schon einmal gesagt worden ist,
daß zwar der Anblick der griechischen Muse erstarrend wirken kann, daß es
aber über den, der sich nicht beirren läßt und freien Geistes in ihr eigenstes
Wesen vordringt, wie eine Erlösung kommt, die ihn über allen Zwang hinaus¬
trägt. Denn ihr eigentlichstes Wesen ist die Freiheit, die durch nichts von
außen herantretendes, wohl aber durch das Vernunftgesetz gehalten wird. Aber
dieses Gesetz hat nichts drückendes, einengendes, wie man gerne behaupten
möchte, sondern es ist das mit der Natur übereinstimmende, sich von selbst
ergebende Korrelat der Freiheit und bringt das Maß und die Harmonie in
einen vielstimmigen Chor. Wer möchte nun wohl so thöricht sein, den Weg
durch das Studium der Alten als den einzig richtigen zu bezeichnen? So
gut das Nibelungenlied ohne Berührung mit der alten Welt entstanden ist,
eben so gut kann auch jetzt uoch die vortrefflichste nationale Dichtung geboren
werden, ohne daß der Verfasser auch nur eine Ahnung von irgend welchen


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[0074] Wahrlich eine schlimme Geschichte, wenn wir schweigen sollten, weil schon Propheten und Seher, große und kleine, vor uns gewesen sind, auch gott¬ begnadete, von denen es heißt, daß sie uns aus dem Munde des Höchsten selbst das Wort vorweg genommen haben. In der That, wenn wir recht be¬ denken, von welcher Großen Lippen uns die Wahrheit gepredigt, das Licht auf unsre Wege geworfen worden ist, dann sollte unsre Herzen heilige Scheu erfüllen und uns ewiges Schweigen auferlegen. Denn es ist wahr, sterblicher Mensch, daß alles schon dagewesen ist vor dir, und daß es eine Vermessenheit von dir wäre, zu glauben, du konntest es besser sagen. Und doch — sollte Julius Hart eine Liebesgeschichte deshalb nicht erzählen dürfen, weil sie un- zähligemale vor ihm und auch unübertrefflich in der Weise erzählt worden ist, die der seinigen gleichartig ist? Getrost — mir, der ich es im Augen¬ blick nicht lassen kann, zu seiner Sache mein Urteil abzugeben, würde es am wenigsten zukommen, ihm die Berechtigung zum Erzählen abzusprechen. Mit Recht würde er, wie auch ich es thun könnte, auf die Allgewalt der Natur hinweisen, die ihn zwingt, das aus sich herauszugeben, was in ihm ist. Denn die Natur ist nicht bloß außer uns, sondern auch in uns, und wie sie alle Jahre den Frühling herausführt, der bei seinem letzten Erscheinen nicht schöner war als bei seinem ersten, so erweckt sie in den Herzen der Menschen immer von neuem die Lust und den Drang, eine gesehene und erlebte Welt künst¬ lerisch nachzuschasfen und damit in den Gemütern andrer einen Frühling wieder wachzurufen, der, wenn er auch keineswegs prächtiger ist als jeder voraus- gegangne, doch deshalb nicht von geringerer Lebenskraft zu sein braucht. Kann also der Dichter, auch wenn er auf Pfaden wandelt, die tausendmal vorher betreten worden sind, und auf denen Werke der höchsten Vollendung geschaffen wurden, doch Dichtungen von unübertrefflicher Wirkung ins Leben rufen, so ist nicht einzusehen, wie das unter Hinwendung zur Antike nicht stattfinden könne. Möge hier Platz finden, was früher schon einmal gesagt worden ist, daß zwar der Anblick der griechischen Muse erstarrend wirken kann, daß es aber über den, der sich nicht beirren läßt und freien Geistes in ihr eigenstes Wesen vordringt, wie eine Erlösung kommt, die ihn über allen Zwang hinaus¬ trägt. Denn ihr eigentlichstes Wesen ist die Freiheit, die durch nichts von außen herantretendes, wohl aber durch das Vernunftgesetz gehalten wird. Aber dieses Gesetz hat nichts drückendes, einengendes, wie man gerne behaupten möchte, sondern es ist das mit der Natur übereinstimmende, sich von selbst ergebende Korrelat der Freiheit und bringt das Maß und die Harmonie in einen vielstimmigen Chor. Wer möchte nun wohl so thöricht sein, den Weg durch das Studium der Alten als den einzig richtigen zu bezeichnen? So gut das Nibelungenlied ohne Berührung mit der alten Welt entstanden ist, eben so gut kann auch jetzt uoch die vortrefflichste nationale Dichtung geboren werden, ohne daß der Verfasser auch nur eine Ahnung von irgend welchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/74>, abgerufen am 25.08.2024.