Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Auch ein Einbänder

Gesetzen der Antike hat. Aber etwas andres ist es, wenn Julius Hart und
die mit ihm an demselben Strange ziehen, diese Nichtkenntnis als ein Postulat
hinstellen, wenn sie behaupten, daß die Beschäftigung mit den Alten schädlichen
Einfluß auf alles künstlerische Schaffen habe. Man mag das Übermaß des
Klassizismus bekämpfen, aber hüte man sich davor, das Kind mit dem Vate
auszuschütten. Maßhalten ist überall ein vortreffliches Ding, man kann es
auch an allen Ecken und Enden des Lebens lernen, aber zur künstlerischen
Gestaltung nirgends besser als bei den Alten. Hätte doch Julius Hart nur
dieses eine von ihnen gelernt, er könnte dann in allen andern Dingen so weit
von ihnen abweichen, wie er wollte.

Aber nicht allein Mangel an Maß muß der neuesten Liebesgeschichte des
Herrn Hart zum Vorwurf gemacht werden, sondern es ist noch etwas andres,
was einem unbefangnen Leser sehr bedenklich erscheinen muß. Die überaus
feindliche Stellung, in der er sich zu allem befindet, was irgendwie "antik"
aussieht, hat ihn in eine schlimme Lage gebracht. Da er sich sein Haus von
dieser Seite verbaut hat, so ist sein Verfahren ungefähr wie das der Schild¬
bürger, die bekanntlich in ihrem neuerbauten Stadthause die Fenster vergaßen
und nachträglich das Licht mit dem Sacke hineintragen wollten. Sein Be¬
ginnen, Licht in den Räumen zu schaffen, die er baut, hat etwas furchtbar
Gewaltsames. Es fällt nicht durch Fenster hinein, die auf freundliche Gärten
und bewohnte Straßen hinausgehen, sondern durch finstre Boden- und Keller-
luken, die es ihrerseits aus unheimlichen Höfen und aus schaurigen, nie be-
tretnen Gängen erhalten. Andrerseits bekommt man da, wo die Strahlen
Heller einfallen, kaum irgendwo den Eindruck des Natürlichen, sich von selbst
Gebenden, sondern steht meist unter dein peinlichen Zwange des Absichtlichen,
Gesuchten. Das Unmittelbare ist das, was den Menschen mit fortreißt, in
Harls "Sehnsucht" sieht man sich Schritt für Schritt aufgehalten von irgend
etwas auf irgend eine Weise vermittelten, entlehnten. In seinen Abhand¬
lungen spricht er häufig von dem Selbstcrleben des Dichters, in seiner eignen
Dichtung erlebt mau nur des Erzählers Reflektiren. "Modern" muß die
Dichtung sein, es mag biegen oder brechen, diese Tendenz grinst einem aus
jedem Satze entgegen. So modern und lin as sivols wie nur irgend etwas
sein kann.

Wer hätte nicht Tolstois Kreuzersonate gelesen? Harls "Sehnsucht" ist
die dichterisch sein sollende Variante über dieses Thema. Mann und Weib
sind zwar der Natur der Schöpfung nach auf einander angewiesen, aber die
Erfüllung der Liebe im Fleische ist nach dem einen eine Sünde, nach dem
andern die Vernichtung alles Idealismus. Nur die Sehnsucht soll bleiben,
ein Zwitterzustand, worin der Realismus das beste, was er hat. die frische
Zeugungskraft verliert und der Idealismus sich zu der schmählichste!! Form
aller Notwendigkeit gesellen muß. Daß dieses die endgiltige Meinung des


Auch ein Einbänder

Gesetzen der Antike hat. Aber etwas andres ist es, wenn Julius Hart und
die mit ihm an demselben Strange ziehen, diese Nichtkenntnis als ein Postulat
hinstellen, wenn sie behaupten, daß die Beschäftigung mit den Alten schädlichen
Einfluß auf alles künstlerische Schaffen habe. Man mag das Übermaß des
Klassizismus bekämpfen, aber hüte man sich davor, das Kind mit dem Vate
auszuschütten. Maßhalten ist überall ein vortreffliches Ding, man kann es
auch an allen Ecken und Enden des Lebens lernen, aber zur künstlerischen
Gestaltung nirgends besser als bei den Alten. Hätte doch Julius Hart nur
dieses eine von ihnen gelernt, er könnte dann in allen andern Dingen so weit
von ihnen abweichen, wie er wollte.

Aber nicht allein Mangel an Maß muß der neuesten Liebesgeschichte des
Herrn Hart zum Vorwurf gemacht werden, sondern es ist noch etwas andres,
was einem unbefangnen Leser sehr bedenklich erscheinen muß. Die überaus
feindliche Stellung, in der er sich zu allem befindet, was irgendwie „antik"
aussieht, hat ihn in eine schlimme Lage gebracht. Da er sich sein Haus von
dieser Seite verbaut hat, so ist sein Verfahren ungefähr wie das der Schild¬
bürger, die bekanntlich in ihrem neuerbauten Stadthause die Fenster vergaßen
und nachträglich das Licht mit dem Sacke hineintragen wollten. Sein Be¬
ginnen, Licht in den Räumen zu schaffen, die er baut, hat etwas furchtbar
Gewaltsames. Es fällt nicht durch Fenster hinein, die auf freundliche Gärten
und bewohnte Straßen hinausgehen, sondern durch finstre Boden- und Keller-
luken, die es ihrerseits aus unheimlichen Höfen und aus schaurigen, nie be-
tretnen Gängen erhalten. Andrerseits bekommt man da, wo die Strahlen
Heller einfallen, kaum irgendwo den Eindruck des Natürlichen, sich von selbst
Gebenden, sondern steht meist unter dein peinlichen Zwange des Absichtlichen,
Gesuchten. Das Unmittelbare ist das, was den Menschen mit fortreißt, in
Harls „Sehnsucht" sieht man sich Schritt für Schritt aufgehalten von irgend
etwas auf irgend eine Weise vermittelten, entlehnten. In seinen Abhand¬
lungen spricht er häufig von dem Selbstcrleben des Dichters, in seiner eignen
Dichtung erlebt mau nur des Erzählers Reflektiren. „Modern" muß die
Dichtung sein, es mag biegen oder brechen, diese Tendenz grinst einem aus
jedem Satze entgegen. So modern und lin as sivols wie nur irgend etwas
sein kann.

Wer hätte nicht Tolstois Kreuzersonate gelesen? Harls „Sehnsucht" ist
die dichterisch sein sollende Variante über dieses Thema. Mann und Weib
sind zwar der Natur der Schöpfung nach auf einander angewiesen, aber die
Erfüllung der Liebe im Fleische ist nach dem einen eine Sünde, nach dem
andern die Vernichtung alles Idealismus. Nur die Sehnsucht soll bleiben,
ein Zwitterzustand, worin der Realismus das beste, was er hat. die frische
Zeugungskraft verliert und der Idealismus sich zu der schmählichste!! Form
aller Notwendigkeit gesellen muß. Daß dieses die endgiltige Meinung des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0075" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215799"/>
          <fw type="header" place="top"> Auch ein Einbänder</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_190" prev="#ID_189"> Gesetzen der Antike hat. Aber etwas andres ist es, wenn Julius Hart und<lb/>
die mit ihm an demselben Strange ziehen, diese Nichtkenntnis als ein Postulat<lb/>
hinstellen, wenn sie behaupten, daß die Beschäftigung mit den Alten schädlichen<lb/>
Einfluß auf alles künstlerische Schaffen habe. Man mag das Übermaß des<lb/>
Klassizismus bekämpfen, aber hüte man sich davor, das Kind mit dem Vate<lb/>
auszuschütten. Maßhalten ist überall ein vortreffliches Ding, man kann es<lb/>
auch an allen Ecken und Enden des Lebens lernen, aber zur künstlerischen<lb/>
Gestaltung nirgends besser als bei den Alten. Hätte doch Julius Hart nur<lb/>
dieses eine von ihnen gelernt, er könnte dann in allen andern Dingen so weit<lb/>
von ihnen abweichen, wie er wollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_191"> Aber nicht allein Mangel an Maß muß der neuesten Liebesgeschichte des<lb/>
Herrn Hart zum Vorwurf gemacht werden, sondern es ist noch etwas andres,<lb/>
was einem unbefangnen Leser sehr bedenklich erscheinen muß. Die überaus<lb/>
feindliche Stellung, in der er sich zu allem befindet, was irgendwie &#x201E;antik"<lb/>
aussieht, hat ihn in eine schlimme Lage gebracht. Da er sich sein Haus von<lb/>
dieser Seite verbaut hat, so ist sein Verfahren ungefähr wie das der Schild¬<lb/>
bürger, die bekanntlich in ihrem neuerbauten Stadthause die Fenster vergaßen<lb/>
und nachträglich das Licht mit dem Sacke hineintragen wollten. Sein Be¬<lb/>
ginnen, Licht in den Räumen zu schaffen, die er baut, hat etwas furchtbar<lb/>
Gewaltsames. Es fällt nicht durch Fenster hinein, die auf freundliche Gärten<lb/>
und bewohnte Straßen hinausgehen, sondern durch finstre Boden- und Keller-<lb/>
luken, die es ihrerseits aus unheimlichen Höfen und aus schaurigen, nie be-<lb/>
tretnen Gängen erhalten. Andrerseits bekommt man da, wo die Strahlen<lb/>
Heller einfallen, kaum irgendwo den Eindruck des Natürlichen, sich von selbst<lb/>
Gebenden, sondern steht meist unter dein peinlichen Zwange des Absichtlichen,<lb/>
Gesuchten. Das Unmittelbare ist das, was den Menschen mit fortreißt, in<lb/>
Harls &#x201E;Sehnsucht" sieht man sich Schritt für Schritt aufgehalten von irgend<lb/>
etwas auf irgend eine Weise vermittelten, entlehnten. In seinen Abhand¬<lb/>
lungen spricht er häufig von dem Selbstcrleben des Dichters, in seiner eignen<lb/>
Dichtung erlebt mau nur des Erzählers Reflektiren. &#x201E;Modern" muß die<lb/>
Dichtung sein, es mag biegen oder brechen, diese Tendenz grinst einem aus<lb/>
jedem Satze entgegen. So modern und lin as sivols wie nur irgend etwas<lb/>
sein kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_192" next="#ID_193"> Wer hätte nicht Tolstois Kreuzersonate gelesen? Harls &#x201E;Sehnsucht" ist<lb/>
die dichterisch sein sollende Variante über dieses Thema. Mann und Weib<lb/>
sind zwar der Natur der Schöpfung nach auf einander angewiesen, aber die<lb/>
Erfüllung der Liebe im Fleische ist nach dem einen eine Sünde, nach dem<lb/>
andern die Vernichtung alles Idealismus. Nur die Sehnsucht soll bleiben,<lb/>
ein Zwitterzustand, worin der Realismus das beste, was er hat. die frische<lb/>
Zeugungskraft verliert und der Idealismus sich zu der schmählichste!! Form<lb/>
aller Notwendigkeit gesellen muß.  Daß dieses die endgiltige Meinung des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0075] Auch ein Einbänder Gesetzen der Antike hat. Aber etwas andres ist es, wenn Julius Hart und die mit ihm an demselben Strange ziehen, diese Nichtkenntnis als ein Postulat hinstellen, wenn sie behaupten, daß die Beschäftigung mit den Alten schädlichen Einfluß auf alles künstlerische Schaffen habe. Man mag das Übermaß des Klassizismus bekämpfen, aber hüte man sich davor, das Kind mit dem Vate auszuschütten. Maßhalten ist überall ein vortreffliches Ding, man kann es auch an allen Ecken und Enden des Lebens lernen, aber zur künstlerischen Gestaltung nirgends besser als bei den Alten. Hätte doch Julius Hart nur dieses eine von ihnen gelernt, er könnte dann in allen andern Dingen so weit von ihnen abweichen, wie er wollte. Aber nicht allein Mangel an Maß muß der neuesten Liebesgeschichte des Herrn Hart zum Vorwurf gemacht werden, sondern es ist noch etwas andres, was einem unbefangnen Leser sehr bedenklich erscheinen muß. Die überaus feindliche Stellung, in der er sich zu allem befindet, was irgendwie „antik" aussieht, hat ihn in eine schlimme Lage gebracht. Da er sich sein Haus von dieser Seite verbaut hat, so ist sein Verfahren ungefähr wie das der Schild¬ bürger, die bekanntlich in ihrem neuerbauten Stadthause die Fenster vergaßen und nachträglich das Licht mit dem Sacke hineintragen wollten. Sein Be¬ ginnen, Licht in den Räumen zu schaffen, die er baut, hat etwas furchtbar Gewaltsames. Es fällt nicht durch Fenster hinein, die auf freundliche Gärten und bewohnte Straßen hinausgehen, sondern durch finstre Boden- und Keller- luken, die es ihrerseits aus unheimlichen Höfen und aus schaurigen, nie be- tretnen Gängen erhalten. Andrerseits bekommt man da, wo die Strahlen Heller einfallen, kaum irgendwo den Eindruck des Natürlichen, sich von selbst Gebenden, sondern steht meist unter dein peinlichen Zwange des Absichtlichen, Gesuchten. Das Unmittelbare ist das, was den Menschen mit fortreißt, in Harls „Sehnsucht" sieht man sich Schritt für Schritt aufgehalten von irgend etwas auf irgend eine Weise vermittelten, entlehnten. In seinen Abhand¬ lungen spricht er häufig von dem Selbstcrleben des Dichters, in seiner eignen Dichtung erlebt mau nur des Erzählers Reflektiren. „Modern" muß die Dichtung sein, es mag biegen oder brechen, diese Tendenz grinst einem aus jedem Satze entgegen. So modern und lin as sivols wie nur irgend etwas sein kann. Wer hätte nicht Tolstois Kreuzersonate gelesen? Harls „Sehnsucht" ist die dichterisch sein sollende Variante über dieses Thema. Mann und Weib sind zwar der Natur der Schöpfung nach auf einander angewiesen, aber die Erfüllung der Liebe im Fleische ist nach dem einen eine Sünde, nach dem andern die Vernichtung alles Idealismus. Nur die Sehnsucht soll bleiben, ein Zwitterzustand, worin der Realismus das beste, was er hat. die frische Zeugungskraft verliert und der Idealismus sich zu der schmählichste!! Form aller Notwendigkeit gesellen muß. Daß dieses die endgiltige Meinung des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/75
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/75>, abgerufen am 22.07.2024.