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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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und damit war einem längst gefühlten Bedürfnis abgeholfen. Man hatte end¬
lich die Fahne, unter der man sich sammeln konnte, den Schlachtruf, mit dem
man die noch immer schwer gewappneten Reihen der Gegner durchbrechen
konnte. Mit Worten läßt sich bekanntlich trefflich streiten, und was sich ein¬
stellt, wo es an dem Besten fehlt, das weiß man auch. Julius Hart hat sich
redlich bemüht, seinen Zeitgenossen das Wesen der Dichtkunst in größern und
kleinern Abhandlungen klar zu machen, aber -- die Redlichkeit war das beste
dran. Was in diesen langatmigen Erörterungen unzweifelhaft verständlich ist,
das hat nicht gerade den Vorzug der Neuheit, das andre aber liegt zu sehr
in einem Wust vou Worten, als daß man ihm mit dem Begreifen leicht bei-
kommen könnte. Natürlich ist die "Moderne," wie sie in seinen Kritiken
den leicht zu handhabende!? Maßstab darbietet, das Fremde darnach zu be¬
stimmen, auch die Quintessenz und das Endziel, worauf die meist weit her¬
geholte und weit hinauskramende Theorie ausgeht, aber alle Auseinander¬
setzungen Harls, die gewissermaßen das große Sammelbecken bilden, aus dem
sich die für den Tag notwendige Beurteilung ergießt, haben nur den Schein
der Tiefe. Es fehlt ihnen um Klarheit und Bestimmtheit.

Hier soll nur auf eiues Beziehung genommen werden. Schon die ein¬
seitige Aufstellung der "Moderne" der "Antike" gegenüber zeigt eine Vorein¬
genommenheit, die eine wirklich sachliche Auseinandersetzung unmöglich macht.
Wiederholt kommt die Beweisführung auf den Punkt zurück, daß die Antike,
als die vollendete Kunst des Schönen, nicht mehr übertroffen werden könne,
und daß deshalb jedes Streben in der angegebnen Richtung ein aussichtsloses
Bemühen sei. Sehr richtig. Aber erstens möge die Frage gestellt sei", ob
denn überall durchaus übertroffen werden muß, und zweitens, ob der Satz
bloß dem Klassizismus gegenüber gilt, oder ob er nicht auf alle Richtungen
anwendbar ist, in die jemals die künstlerische Gestaltungskraft des Menschen¬
geistes geraten ist. Alles ist schon clinal dagewesen, und wessen sich der
Mensch einmal bemächtigt hat, das hat er auch so gut, wie die Griechen ihre
Kunst, bis zu der Linie geführt, über die hinaus kein Weiterschreiten mehr
mögliclMvar. Da dieses aber dem menschlichen Ermessen gemäß Vollendung
oder Vollkommenheit genannt wird, so wäre nach der Beweisführung Harls
alles künstlerische Streben der Menschen zum Stillstand verurteilt, denn auf
jeder Bahn, die es einschlüge, müßte es sich sagen, daß sie schon vor ihm
einmal durcheilt worden sei. Ja noch schlimmer: wenn es sich wirklich so
verhielte, wie er sagt, so dürften weder Hart, noch ich, noch irgend jemand
feine Meinung zu Papier bringen. Denn wir müßten uns nicht bloß sagen,
daß das, worüber wir unser Urteil abgeben, ja schon längst dagewesen sei,
sondern auch fröhliche" Herzens eingestehen, daß auch das Urteil keineswegs
neu, sondern schon vor undenklicher Zeit und wie vielmal schon ausgesprochen
worden sei.


Grenzboten IV 1893 9
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und damit war einem längst gefühlten Bedürfnis abgeholfen. Man hatte end¬
lich die Fahne, unter der man sich sammeln konnte, den Schlachtruf, mit dem
man die noch immer schwer gewappneten Reihen der Gegner durchbrechen
konnte. Mit Worten läßt sich bekanntlich trefflich streiten, und was sich ein¬
stellt, wo es an dem Besten fehlt, das weiß man auch. Julius Hart hat sich
redlich bemüht, seinen Zeitgenossen das Wesen der Dichtkunst in größern und
kleinern Abhandlungen klar zu machen, aber — die Redlichkeit war das beste
dran. Was in diesen langatmigen Erörterungen unzweifelhaft verständlich ist,
das hat nicht gerade den Vorzug der Neuheit, das andre aber liegt zu sehr
in einem Wust vou Worten, als daß man ihm mit dem Begreifen leicht bei-
kommen könnte. Natürlich ist die „Moderne," wie sie in seinen Kritiken
den leicht zu handhabende!? Maßstab darbietet, das Fremde darnach zu be¬
stimmen, auch die Quintessenz und das Endziel, worauf die meist weit her¬
geholte und weit hinauskramende Theorie ausgeht, aber alle Auseinander¬
setzungen Harls, die gewissermaßen das große Sammelbecken bilden, aus dem
sich die für den Tag notwendige Beurteilung ergießt, haben nur den Schein
der Tiefe. Es fehlt ihnen um Klarheit und Bestimmtheit.

Hier soll nur auf eiues Beziehung genommen werden. Schon die ein¬
seitige Aufstellung der „Moderne" der „Antike" gegenüber zeigt eine Vorein¬
genommenheit, die eine wirklich sachliche Auseinandersetzung unmöglich macht.
Wiederholt kommt die Beweisführung auf den Punkt zurück, daß die Antike,
als die vollendete Kunst des Schönen, nicht mehr übertroffen werden könne,
und daß deshalb jedes Streben in der angegebnen Richtung ein aussichtsloses
Bemühen sei. Sehr richtig. Aber erstens möge die Frage gestellt sei», ob
denn überall durchaus übertroffen werden muß, und zweitens, ob der Satz
bloß dem Klassizismus gegenüber gilt, oder ob er nicht auf alle Richtungen
anwendbar ist, in die jemals die künstlerische Gestaltungskraft des Menschen¬
geistes geraten ist. Alles ist schon clinal dagewesen, und wessen sich der
Mensch einmal bemächtigt hat, das hat er auch so gut, wie die Griechen ihre
Kunst, bis zu der Linie geführt, über die hinaus kein Weiterschreiten mehr
mögliclMvar. Da dieses aber dem menschlichen Ermessen gemäß Vollendung
oder Vollkommenheit genannt wird, so wäre nach der Beweisführung Harls
alles künstlerische Streben der Menschen zum Stillstand verurteilt, denn auf
jeder Bahn, die es einschlüge, müßte es sich sagen, daß sie schon vor ihm
einmal durcheilt worden sei. Ja noch schlimmer: wenn es sich wirklich so
verhielte, wie er sagt, so dürften weder Hart, noch ich, noch irgend jemand
feine Meinung zu Papier bringen. Denn wir müßten uns nicht bloß sagen,
daß das, worüber wir unser Urteil abgeben, ja schon längst dagewesen sei,
sondern auch fröhliche« Herzens eingestehen, daß auch das Urteil keineswegs
neu, sondern schon vor undenklicher Zeit und wie vielmal schon ausgesprochen
worden sei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/73>, abgerufen am 22.07.2024.